Die Rückkehr der Gotteskrieger
Vor den Toren der pakistanischen Stadt Peschawar sind die Taliban an der Macht
Von Britta Petersen, Peschawar *
Die Taliban sind zurück. Nicht nur als militärische Macht in Afghanistan, sondern nun auch in
Pakistan. Das Land wird die Geister, die es einst rief, offenbar nicht mehr los.
Es ist eine gespenstische Szene: 15 Kilometer vor der pakistanischen Stadt Peschawar werden
Hamid Zazai und sein Freund Massud Mayar von bewaffneten Männern mit schwarzen Turbanen
und langen Bärten angehalten. Sie filzen das Auto der beiden Afghanen, die von Kabul über den
Khyber-Pass gekommen sind, um ihre Familien zu besuchen, konfiszieren ihre Musik-CDs und
lassen sie dann weiterfahren. »Ich dachte, das kann nicht wahr sein«, sagt Zazai, der während der
Talibanregierung in Pakistan im Exil gelebt hat und jetzt in Kabul arbeitet. »So hat das damals in
Afghanistan auch angefangen! Beim nächsten Mal verlangen sie, dass ich mir einen Bart wachsen
lasse!«
»Mullah Pistole« gibt die Befehle
Seit Anfang des Jahres trifft der Geschäftsmann regelmäßig in Pakistan die besiegt geglaubten
Gotteskrieger wieder. Vor einem Monat begegnet er ihnen in dem Dorf Lanti Kotal im Distrikt Khyber
Agency. »Es war Freitag«, sagt Zazai mit einem Schaudern. »Als wir in das Dorf kamen, habe ich
mich gewundert, dass alle Geschäfte geschlossen waren. Der Basar war völlig verwaist. Dann sah
ich sie: Taliban auf Pick-up-Trucks, schwer bewaffnet mit Stinger-Raketen. Als ich später mit den
Leuten sprach, sagte man mir, der lokale Talibanchef, Mullah Tofantscha (»Mullah Pistole«), habe
angeordnet, dass niemand wegen des Feiertags seinen Laden aufmachen darf.«
Die Taliban sind zurück. Nicht nur als militärische Macht in Afghanistan, sondern nun auch in
Pakistan – dem Land, das Jahre lang geglaubt hat, die radikal-islamischen Kräfte wie Schachfiguren
im eigenen Interesse einsetzen zu können. Nun droht es von den Geistern, die es rief, verschlungen
zu werden. In mehreren Regionen der Grenzprovinz North-West-Frontier Province (NWFP) liefern
sich die Aufständischen nicht nur heftige Auseinandersetzungen mit der pakistanischen Armee – sie
kontrollieren auch das Leben der Bewohner, die dem islamistischen Spuk hilflos ausgeliefert sind.
Das malerische Swat-Tal, einst als »Schweiz Pakistans« ein beliebtes Urlaubsziel, ist zur No-go-
Area geworden, seit dort Maulana Fazlullah eine Parallelregierung eingerichtet und die islamische
Scharia-Gesetzgebung eingeführt hat. Seine Krieger verwüsten regelmäßig Mädchenschulen und
hindern Ärzte daran, Polio-Impfungen durchzuführen, die der Mullah für eine Verschwörung der USA
hält. Maulana Fazlullah gilt als »pakistanischer« Taliban, der »nur« im eigenen Land für einen
islamistischen Staat kämpft, weshalb die Regierung mehrfach versucht hat, mit ihm Frieden zu
schließen. Derzeit jedoch liefern sich Taliban und Armee in Swat und im nahen Bajaur Distrikt – das
bereits zu den autonomen paschtunischen Stammesgebieten gehört – wieder heftige Kämpfe.
In diesen so genannten Federally Administered Tribal Areas (FATA) ist die Lage noch bedenklicher.
An der Grenze zu Afghanistan haben sich die afghanischen Taliban und Osama bin Ladens
Terrororganisation Al Qaida festgesetzt. In Nord-Waziristan hat der frühere Taliban-Minister Maulana
Jalaluddin Haqqani das »Islamische Emirat Waziristan« ausgerufen und den USA »Krieg bis zum
letzten Blutstropfen« angekündigt. In Süd-Waziristan führt Baitullah Mehsud den Aufstand gegen die
Regierungen in Kabul und Islamabad. Trotz zahlreicher Militäraktionen der pakistanischen Armee ist
Waziristan nach Einschätzung von Beobachtern »ein Staat im Staate« geworden.
Für Frauen gilt der Schleierzwang
Doch selbst für die Bewohner von Peschawar, der lebhaften Handelsstadt an der alten
Seidenstraße, sind die Taliban zu einer realen Bedrohung geworden. »Wir hatten in den letzten
Wochen hier Tage, wo sich niemand auf die Straße getraut hat. Ich habe nie geglaubt, dass so
etwas in Peschawar möglich ist«, sagt Shahjehan Sayed, Dekan der Universität von Peschawar. Nur
einen Kilometer von seinem Haus entfernt, in dem noblen Wohnviertel Hayatabad, ist der
Talibanführer Mangal Bagh an der Macht. »Mein Elektriker, der in der Gegend wohnt, hat mir
erzählt, er müsse sich jetzt jeden Morgen zum Gebet in der Moschee einfinden. Wer sich nicht in
eine Liste einträgt, kriegt Ärger mit Mangal Bagh«, so der Professor.
Mangal Bagh verdient sein Geld mit der Entführung reicher Geschäftsleute und sorgt dafür, dass die
islamistische Moral eingehalten wird. Wer keine Kopfbedeckung trägt, muss 500 Rupien Strafe
zahlen. Für Frauen gilt natürlich Schleierzwang. Ansonsten hilft er in Robin-Hood-Manier Witwen
dabei, ihr rechtmäßiges Erbe einzutreiben und pfuscht den lokalen Drogenhändlern ins Handwerk.
Damit sichert er sich die Sympathie der Bevölkerung, die von Korruption und Untätigkeit der
Regierung im nur zweieinhalb Autostunden entfernten Islamabad enttäuscht ist.
»Wenn die Regierung versagt – wen ruft man? Mangal Bagh! Wenn man schnell und billig
Gerechtigkeit will – wen ruft man? Mangal Bagh! Wenn du von Anarchie umgeben bist – wen rufst
du? Mangal Bagh!« bringt der Kolumnist Farrukh Saleem die Strategie der Taliban auf den Punkt.
Dabei zweifeln die Menschen nicht nur an der Fähigkeit der im Frühjahr demokratisch gewählten
Regierung, Recht und Ordnung herzustellen, sie argwöhnen auch, dass die Armee nach wie vor nur
halbherzig gegen die Aufständischen vorgeht.
Als das pakistanische Militär im Mai einen Angriff gegen Mangal Bagh vorbereitete, wurde über die
Pläne bereits 48 Stunden vorher ausführlich im Fernsehen berichtet. Als die Soldaten schließlich auf
das Lager des Talibanführers marschierten, war der längst über alle Berge. »Wie kann es sein, dass
sämtliche Journalisten von Peschawar ständig mit Mangal Bagh telefonieren, aber die Armee ihn
nicht finden kann?«, fragt der Ökonom Nasser Ali Khan. Dasselbe gilt für Maulana Fazlullah, der in
Swat einen illegalen Radiosender unterhält und sich deshalb den Spitznamen »Mullah FM«
eingehandelt hat. »Warum kann man ihn nicht orten?«
Er argwöhnt, dass die Militäraktion gegen Mangal Bagh nicht mehr war als ein Spiel für die Kulisse,
da zur selben Zeit US-Unterstaatssekretär Richard Boucher zu Besuch in Pakistan war. »Immer
wenn sich unsere Politiker mit den US-Amerikanern treffen, wird eine Show inszeniert«, sagt Khan.
Professor Shajehan hat sogar einen Studenten eine wissenschaftliche Arbeit zu dem Thema
recherchieren lassen. Ergebnis: Immer, wenn US-amerikanische und pakistanische Politiker
zusammentreffen, wird medienwirksam ein Al Qaida-Führer verhaftet oder eine Militäraktion
gestartet. Danach passiert nichts mehr.
Doch diese Strategie Islamabads, die darauf zielt, sich den USA als treuer Verbündeter zu
präsentieren und sich gleichzeitig durch die Taliban die Kontrolle über das Nachbarland Afghanistan
zu sichern, ist vom Scheitern bedroht, wenn es Taliban und Al Qaida gelingt, weitere Teile Pakistans
unter Kontrolle zu bringen. Die Bedrohung ist real: Sogar in der Wirtschaftsmetropole Karachi – weit
entfernt von den paschtunischen Stammesgebieten – tauchen dieser Tage Plakate auf, die vor der
»Talibanisierung« der Stadt warnen und die Bürger zur »Wachsamkeit« aufrufen.
Die Regierung von US-Präsident George W. Bush scheint deshalb langsam die Geduld zu verlieren.
Kürzlich legte die CIA Beweise vor, dass der pakistanische Geheimdienst ISI Kontakte zu
Talibanführer Jalaluddin Haqqani unterhält. Washington macht Haqqani auch für das verheerende
Bombenattentat auf die indische Botschaft Anfang Juli in Kabul verantwortlich. »Wir wissen, es gibt
eine Verbindung zwischen dem ISI und Haqqani und anderen bösen Jungs und wir denken, ihr
könnt und müsst mehr tun«, so beschrieb kürzlich ein Mitarbeiter der CIA die Botschaft Washingtons
an den pakistanischen Premierminister Yousuf Raza Gilani.
Washington lässt Musharraf fallen
Auch die Tatsache, dass Washington offenbar nichts dagegen hatte, dass die pakistanischen
Regierungsparteien ein Amtsenthebungsverfahren gegen den einstigen Verbündeten, Präsident
Pervez Musharraf, eingeleitet hatten, deutet auf einen Strategiewechsel hin. Viele Pakistaner
befürchten deshalb, dass die USA militärisch gegen die Taliban und Al Qaida in Pakistan vorgehen
könnten, was den Anti-Amerikanismus fördern und noch mehr Menschen in die Hände der Taliban
treiben würde. »Die US-Amerikaner verstehen nicht, dass die beste Waffe im Kampf gegen den
Terror eine sympathisierende Bevölkerung ist«, warnt der bekannte Intellektuelle Aitzaz Ahsan.
Doch nur noch wenige Menschen in der Grenzregion glauben an eine positive Entwicklung. Hamid
Zazai jedenfalls, der schon vor den Taliban aus Kabul geflohen ist, überlegt, mit seiner Familie von
Peschawar nach Australien auszuwandern. »Mein Bruder ist schon in Australien«, sagt er. »Wenn
das hier so weitergeht, sind wir auch weg.«
* Aus: Neues Deutschland, 28. August 2008
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