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Minimaloffensive

Pakistans Armee eröffnet Nebenkriegsschauplatz in Stammesgebieten. Regierung meldet kampflose "Siege". Zeitungen sprechen von Schwindel

Von Knut Mellenthin *

Mit großem propagandistischen Aufwand hat die pakistanische Armee am 27. Juni eine Offensive gegen angebliche Taliban-Anhänger begonnen. Bis Freitag vergangener Woche wurden dabei insgesamt 220 Menschen festgenommen, viele wegen Verletzung der ganztägigen Ausgangssperre, die über das Operationsgebiet verhängt worden ist. Zu Kämpfen ist es bisher nicht gekommen, es gab folglich auch beiderseits keine Verluste. Die bewaffneten Anhänger der Laschkar-i-Islam, der die Offensive anscheinend in erster Linie gilt, wurden rechtzeitig informiert und haben sich in das abgelegene Tirah-Tal zurückgezogen. Dort empfing ihr Chef, Mangal Bagh, Journalisten und erklärte ihnen, er habe seine Anhänger angewiesen, sich nicht auf Kämpfe einzulassen: »Wir werden die Truppen nicht angreifen, selbst wenn sie unsere Häuser zerstören. Wir haben mit illegalen Aktivitäten nichts zu tun. Unsere Organisation arbeitet für die Reform der Gesellschaft und die Beseitigung sozialer Übel.« Seine mittlerweile verbotene Laschkar-i-Islam habe keine Beziehungen zu Al-Qaida, den Taliban oder anderen militanten Organisationen.

Das entspricht weitgehend dem, was auch die pakistanischen Medien berichten. Laschkar-i-Islam (Armee des Islam) ist nicht Teil der »pakistanischen Taliban«, deren Hauptinteresse darin besteht, den Widerstandskampf im benachbarten Afghanistan gegen die NATO-Truppen zu unterstützen. Mangal Baghs Anhänger konzentrieren sich darauf, in ihrer Umgebung »islamische Sitten« durchzusetzen. Dazu gehört unter anderem die gewalttätige Einschüchterung von Musik-CD-Verkäufern und Friseuren, denen verboten werden soll, Männern den Bart zu scheren.

Angeblich waren Anhänger von Laschkar-i-Islam in letzter Zeit auch in Peschawar aktiv. Die Großstadt grenzt an die sogenannten Stammesgebiete; ihre Einwohnerzahl einschließlich der Vororte soll bei etwa drei Millionen liegt. Die in ihrem Ausmaß begrenzten Aktionen der Islam-Armee waren in regierungsnahen und pro-amerikanischen pakistanischen Medien zu einer ernsten Gefahr hochgespielt worden, um die dann folgenden Militäroperationen zu rechtfertigen. Fern der Realität hieß es, Peschawar sei »von den Taliban eingeschlossen« und stehe schon kurz vor dem Fall.

Die Offensive beschränkte sich bisher auf die Umgebung von Peschawar, in erster Linie auf die Khyber Agency, eine von sieben »Agenturen« der Federally Administered Tribal Areas (FATA), der Bundesstaatlich Verwalteten Stammesgebiete. Die Khyber Agency ist mit 2576 Quadratkilometern etwa so groß wie das Saarland und hat rund 600000 Einwohner. Die Militäroperationen fanden hauptsächlich in einem einzigen Bezirk der Agency, in Bara, statt. Mit etwa 1500 Mann der aus Einheimischen rekrutierten Grenztruppen und der auch aus anderen Landesteilen hinzugezogenen Grenzpolizei sind die eingesetzten Kräfte sehr beschränkt; die reguläre Armee ist angeblich bisher nicht beteiligt. Die gemeldeten Erfolge bestehen hauptsächlich in der Zerstörung der Wohnhäuser einiger Führer von Laschkar-i-Islam und anderer, zum Teil mit ihr rivalisierender Gruppen, sowie der Stillegung des von Mangal Bagh betriebenen Rundfunksenders. Außerdem wurden zahlreiche Straßensperren errichtet, die das Leben der Bevölkerung durch stundenlange Wartezeiten erschweren.

Die Khyber Agency hat eine große militärstrategische Bedeutung, und darin dürfte der eigentliche Hintergrund der Militäroperationen liegen: Durch das Gebiet führt die über Peschawar und Bara verlaufende Straße zum Khyber-Paß, auf der ein großer Teil – nach einigen Berichten bis zu 70 Prozent – des Nachschubs für die NATO-Truppen in Afghanistan transportiert wird. In der Vergangenheit war diese Verbindungslinie kaum das Ziel von Angriffen. Ein umso größerer Schock für die NATO war es deshalb, als im März ein Konvoi in der Nähe des Grenzübergangs Torkham überfallen wurde und 40 LKW mit Treibstoff in die Luft gejagt wurden. Es folgte eine Reihe kleinerer Attacken, die in westlichen Medien meist gar nicht gemeldet wurden. Am vergangenen Mittwoch wurde bekannt, daß der NATO vor einigen Wochen am Khyber-Paß drei Kampfhubschrauber abhanden gekommen sind, die in Containern auf dem Landweg nach Afghanistan transportiert werden sollten.

Ob die militärischen Aktionen in der Khyber Agency die Nachschublinie dauerhaft sicherer machen werden, ist zu bezweifeln. Laschkar-i-Islam, bisheriges Hauptziel der Offensive, war nach Einschätzung der pakistanischen Medien nicht für die Attacken auf die Transporte verantwortlich. Die Anzeichen deuten eher darauf hin, daß die Angreifer gar nicht aus der Agency, sondern aus anderen Gegenden der FATA kamen.

Keinesfalls kann die Offensive in ihrem bisherigen Umfang etwas daran ändern, daß erhebliche Teile der FATA Hinterland für den Widerstandskrieg in Afghanistan sind. Die Hochburgen der »pakistanischen Taliban«, Nord- und Südwasiristan, liegen noch nicht einmal in der Nähe der Militäroperationen. Dort hat die pakistanischer Regierung seit 2002 mit einer Zickzack-Strategie aus brutalen Militäraktionen und politischen Verhandlungen vergeblich versucht, Herr der Lage zu werden und die kämpferische Solidarität der Paschtunen beiderseits der pakistanisch-afghanischen Grenze zu brechen. Die jetzigen Aktivitäten in der Khyber Agency sind nicht wesentlich mehr als ein Ablenkungsmanöver und eine Verbeugung vor dem Weißen Haus und dem US-Kongreß, die schon lange auf eine »harte Linie« drängen. Die aber werden sich mit diesem Geplänkel auf einem Nebenschauplatz keinesfalls zufriedengeben.

* Aus: junge Welt, 7. Juli 2008


Sich selbst erfüllende Prophezeiung

Pakistan und Afghanistan – ein gemeinsamer Kriegsschauplatz

Von Knut Mellenthin *


Nach offizieller US-amerikanischer Sicht stellen die von der pakistanischen Regierung kaum kontrollierten Gebiete im Nordwesten des Landes »derzeit die größte Herausforderung für die Stabilität Afghanistans« dar. Die Tatsache, daß die Zahl der Angriffe auf die NATO-Streitkräfte und ihre afghanischen Hilfstruppen in diesem Jahr noch einmal um 40 Prozent zugenommen hat – nachdem sie schon 2006 und 2007 kräftig angestiegen war – wird hauptsächlich mit dem Eindringen von Taliban über die mehr als 1000 Kilometer lange, durch unübersichtliches Gelände verlaufende »poröse« Grenze erklärt. Nordwestpakistan sei, so hieß es in einem im vergangenen Jahr auszugsweise veröffentlichten Bericht der US-Geheimdienste, »zum sicheren Unterschlupf« für Taliban und Al-Qaida geworden.

Sachlich sind diese Behauptungen nicht plausibel. Erstens grenzen die südafghanischen Provinzen, die Hauptschauplatz größerer Aufstandsaktionen sind, Kandahar und Helmand, nicht an die sogenannten Stammesgebiete Nordwestpakistans. Sofern es dort überhaupt grenzübergreifende Aktivitäten gibt, müßten sie von der pakistanischen Provinz Balutschistan ausgehen. Dort gibt es zwar auch militant nationalistische Bewegungen, doch haben diese nichts mit dem paschtunischen Fundamentalismus des Nordwestens und den speziellen Problemen der »Stammesgebiete« gemeinsam. Außerdem vermag die offizielle Theorie vom ständigen Taliban-Nachschub aus Pakistan nicht zu erklären, warum sich der Aufstand seit 2007 zunehmend auch auf Provinzen im Westen und Norden Afghanistans ausweitet, in denen es bisher kaum Widerstandstätigkeit gegeben hat und die nicht einmal an Pakistan grenzen.

Die ständigen Anklagen, Pakistan tue nicht genug, um die »Stammesgebiete« mit militärischer Gewalt unter Kontrolle zu bringen, soll in erster Linie davon ablenken, daß die Präsenz der NATO-Truppen in Afghanistan und die rücksichtslose Art ihrer Kriegführung der eigentliche Motor des Aufstands sind und ihm ständig neue Kräfte zuführen. Richtig ist allerdings, wie schon zu Zeiten des Kriegs der Mudschaheddin gegen die sowjetischen Streitkräfte, daß der Aufstand in Afghanistan nicht niederzuschlagen ist, so lange große Gebiete Pakistans als dessen Hinterland zur Verfügung stehen. Die jetzt von US-Militärs zu hörende Aussage, Afghanistan und Pakistan seien »ein gemeinsamer Kriegsschauplatz« ist tendenziell nicht falsch, zumal ihr der Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zukommen könnte.

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 versucht die US-Regierung, zunächst unter dem Vorwand der Suche nach Osama bin Laden und jetzt der Bekämpfung der Taliban, militärische Aktionsfreiheit in Pakistan zu bekommen – oder sich diesem Ziel zumindest in kleinen Schritten zu nähern. Wie die New York Times am 30. Juni berichtete, hatte die Regierung von US-Präsident George W. Bush im vorigen Jahr einen Geheimplan entworfen, der »Spezialoperationen« des Pentagon und der CIA auf pakistanischem Gebiet erleichtern sollte. Für diesen Plan gebe es aber immer noch kein grünes Licht, was die Tageszeitung mit Meinungsverschiedenheiten und Kompetenzstreitigkeiten in Washington erklärt. Schwerwiegender dürfte aber sein, daß die pakistanische Regierung ihm nicht zustimmen würde und könnte. Die große Mehrheit der pakistanischen Bevölkerung reagiert auf alle Einmischungsversuche der USA höchst empfindlich.

* Aus: junge Welt, 7. Juli 2008


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