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In den Bürgerkrieg

Hintergrund. Der US-Strategie einer Eskalation der Kämpfe willig folgend: Pakistans Regierung will die Militäreinsätze im Nordwesten des Landes ausweiten

Von Knut Mellenthin *

Der Feldzug der pakistanischen Streitkräfte gegen die Taliban in drei Bezirken der Nordwest-Grenzprovinz, von Präsident Asif Ali Zardari mit der ihm eigenen rhetorischen Maßlosigkeit zum »totalen Krieg« erklärt, geht seinem vorläufigen Ende entgegen. Ob die Kämpfe in zwei bis drei Tagen abgeschlossen sind, wie manche pakistanischen Politiker und Militärs verkünden, oder in drei bis vier Wochen, wie Vorsichtigere meinen, ist dabei nur von geringer Bedeutung. Wichtig ist hingegen die Feststellung, daß diese militärische Kampagne das erklärte Ziel – den Taliban einen entscheidenden Schlag zu versetzen oder sie gar »auszulöschen« – nicht erreichen wird. Nicht im unruhigen Nordwesten des Landes, von dem das derzeitige Kampfgebiet nur knapp neun Prozent umfaßt. Und nicht einmal in den drei Bezirken Unteres Dir, Buner und Swat, welche die Armee gerade weitgehend »befreit« hat und die sie nun »endgültig« von islamistischen Kämpfern »säubern« will.

Die Offensive der Streitkräfte gegen das Untere Dir begann am 26. April, der Angriff auf Buner folgte am 28. April, und seit dem 8. Mai wird auch in der regionalen Taliban-Hochburg, dem Bezirk Swat, gekämpft. Insgesamt dauert dieser Feldzug also jetzt schon fast sechs Wochen – sehr viel länger, als Politiker und Militär anfangs versprochen hatten. Das liegt vor allem daran, daß sich die Streitkräfte zunächst auf massive Luftangriffe beschränkten und sich eine Menge Zeit ließen, bevor sie die Stellungen der Taliban auch mit Bodentruppen angriffen. Diese bekamen dadurch die Chance, ihre stärksten Kräfte zurückzuziehen und weitgehend zu erhalten. Sie jetzt noch aufzuspüren, dürfte weitgehend unmöglich sein.

Ein Vertreter des Innenministeriums behauptete am Dienstag (2. Juni), daß im Verlauf der bisherigen Operationen mindestens 1244 feindliche Kämpfer getötet worden seien. Darunter hätten sich 26 »Kommandeure« befunden. Die Sicherheitskräfte hätten 89 Mann verloren; weitere 276 seien verletzt worden. Eine entsprechende Angabe über die Zahl verwundeter Taliban fehlt. Ferner wurde angegeben, daß 92 islamistische Kämpfer, darunter auch mehrere Ausländer, festgenommen worden seien. Das kann logisch nur so interpretiert werden, daß die Armee ganz bewußt kaum Gefangene gemacht hat. Oder, um es weniger neutral auszudrücken, daß gefangene und verletzte Gegner in großer Zahl getötet, ermordet wurden, was zweifelsfrei ein Kriegsverbrechen darstellt.

Entvölkerung des Nordwestens

Riesig ist die Zahl der Flüchtlinge, gemeinhin mit IDP (internally displaced persons) abgekürzt. Der Informationsminister der Nordwest-Grenzprovinz, Mian Iftikhar Hussain, gab sie am 29. Mai mit insgesamt 3,4 Millionen an. Davon entfielen 2,8 Millionen auf die drei Bezirke der Provinz, in denen die Kämpfe der letzten Wochen stattfanden. Weitere 600000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus der Region und vor allem aus den sogenannten Stammesgebieten waren schon vor Beginn der Offensive registriert gewesen. Weniger als zehn Prozent der Flüchtlinge lebt in Lagern; die meisten kommen zunächst bei Verwandten, Freunden oder Stammesangehörigen unter. Die Solidarität unter den Paschtunen, die überwiegend die Bevölkerung des Nordwestens bilden, ist als außerordentlich groß bekannt.

Die Zahl der Flüchtlinge befindet sich ständig im Fluß, da ein Teil zurückkehrt, wenn sich die Lage beruhigt. Auf der anderen Seite bedeutet das aber auch, daß es im Nordwesten Hunderttausende Menschen gibt, die schon mehrmals fast alles zurücklassen und vor dem Bürgerkrieg fliehen mußten. Da die Bezirke Swat, Buner und Unter-Dir vor der Militäroffensive zusammen schätzungsweise 3,6 Millionen Einwohner hatten – die letzten amtlichen Zahlen sind von 1998 –, ergibt sich, daß aufgrund der jüngsten Kämpfe rund zwei Drittel der Bevölkerung fliehen mußten oder, um es richtig zu benennen, vertrieben wurden.

Die Regierung versucht jetzt, die Flüchtlinge aus Buner und Unter-Dir zur Rückkehr zu bewegen, da sich die Lage dort schon »normalisiert« habe. Das stimmt zum einen nicht, was etwa die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Gas und Strom betrifft. Der Appell trifft aber auch auf Mißtrauen, was die dauerhafte politische Stabilisierung in den Bezirken angeht. Selbst die Behördenangestellten, von denen die meisten mit ihren Familien geflüchtet waren, verhalten sich gegenüber der Anordnung, sofort wieder an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren, in der Regel noch abwartend.

Viele Flüchtlinge fürchten, daß die Regierung in ein paar Monaten wieder Militäroperationen für erforderlich halten könnte und daß dann erneut die Vertreibung droht. In Swat zum Beispiel hatte die letzte Offensive der Regierungskräfte gerade erst im November/Dezember 2007 stattgefunden. Schon damals waren einige Hunderttausend Menschen zur Flucht gezwungen worden. Ebenso wie jetzt hatte die Regierung einen durchschlagenden Erfolg, die restlose und endgültige »Säuberung« des Bezirks von allen »Übeltätern« und »antisozialen Elementen«, verkündet. Wie jetzt hatte damals das Militär nach eigenen Angaben 15000 Mann im Einsatz. Auf der Gegenseite kämpften allerdings, ebenfalls nach offiziellen Verlautbarungen, nur 500 Taliban. Bei der jüngsten Offensive sollen es schon zehnmal so viel gewesen sein: 5000. Das bestätigt die alte These, daß es zur Förderung und Ausbreitung eines Aufstands kein wirksameres Mittel gibt als die repressive Aufstandsbekämpfung.

Die Entvölkerung der von Taliban dominierten Gebiete gehört als fester Bestandteil zur Strategie des Militärs. Das Schema ist stets das gleiche:Vor Beginn einer Offensive wird die Bevölkerung durch abgeworfene Flugblätter, teilweise auch durch mobile Lautsprecher und Aufrufe im Rundfunk, aufgefordert, in einer Frist von ganz wenigen Stunden ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Anschließend folgen Luftangriffe auf Dörfer und Wohngebiete. Wasser, Gas und Strom werden abgestellt. Tagelange Ausgangssperren rund um die Uhr verhindern, daß die Familien sich noch mit Lebensmitteln versorgen können. Wird dann nach mehreren Tagen die Ausgangssperre ein paar Stunden lang aufgehoben, flüchtet in der Regel auch die Mehrheit der bis dahin noch gebliebenen Bevölkerung.

Diese Strategie verfolgt hauptsächlich zwei Ziele. Zum einen dient sie dazu, die Bevölkerung, von der ein erheblicher Teil mehr oder weniger mit den Islamisten sympathisiert, von den eigentlichen Kämpfern zu trennen und die Taliban so zu isolieren. Darüberhinaus schafft die Vertreibung der Bewohner die notwendigen Voraussetzungen für den massiven Einsatz der Luftwaffe und der schweren Artillerie, ohne riesige Verluste unter der Zivilbevölkerung zu riskieren, die aus politischen Gründen selbstverständlich nicht erwünscht sind.

Magere humanitäre Hilfen

Die pakistanische Regierung, die sich ohnehin am Rande des Staatsbankrotts bewegt, hatte vor Beginn ihrer Militäroffensive überhaupt keine praktischen Vorsorgemaßnahmen für die absolut voraussehbare, ja sogar strategisch erwünschte riesige Flüchtlingswelle getroffen. Es ist schwer vorstellbar, wie sie damit »die Herzen und Hirne« der Menschen im Nordwesten gewinnen will, wie Präsident Zardari und Premierminister Jusaf Rasa Gilani brav nach dem US-amerikanischen Lehrbuch, aber ohne Überzeugungskraft erzählen. Noch am 1. Juni, über einen Monat nach Beginn des Feldzugs, klagte der Informationsminister der Nordwest-Grenzprovinz, Mian Iftikhar, daß die Unterstützung der Regierung in Islamabad für die Flüchtlinge »so gut wie null« sei.

Aber auch die vergleichsweise reichen Länder des Westens, die die pakistanische Regierung zu dem militärischen Konfrontationskurs angetrieben hatten und die dem Feldzug vom ersten Moment an applaudierten, erweisen sich bei der Abmilderung der Folgeschäden extrem knauserig. Das ist erstaunlich und scheinbar völlig unlogisch, da man doch annehmen sollte, daß sie allergrößtes Interesse daran haben müßten, die pakistanischen Verhältnisse nicht noch weiter zu destabilisieren. Zumal die Beträge, die aufgebracht werden müßten, vergleichsweise geringfügig sind.

Jedenfalls sah sich UN-Generalsekretär Ban Ki-moon am Montag dieser Woche veranlaßt, vor einer »destabilisierenden Sekundärkrise« zu warnen. Das menschliche Leid der pakistanischen Flüchtlinge sei »ungeheuer groß«. Es handele sich um eine der raschesten und größten Fluchtbewegungen, die die Welt in den letzten 15 Jahren erlebt habe, sagte der Südkoreaner. Aber von den 543 Millionen US-Dollar, die die Weltorganisation als Soforthilfe für erforderlich hält, gebe es bisher lediglich für ein Fünftel (118 Millionen) feste Zusagen. »Wenn wir den Rest der Kosten nicht hereinbekommen, werden wir anfangen müssen, unsere Hilfsmaßnahmen zu reduzieren, was noch mehr Elend hervorrufen und das Land Gefahren aussetzen würde«, warnte der Chef der Vereinten Nationen. Zum Teil werden die so entstandenen Lücken in der Unterstützung der Flüchtlinge durch die fundamentalistisch-religiösen Parteien und durch karitative Hilfsorganisationen, die mit den Taliban und anderen islamistischen Gruppen verflochten sind, gefüllt, was im Sinn der Ziele dieses Feldzugs selbstverständlich äußerst unerwünscht und kontraproduktiv ist.

Besonders erstaunlich ist, daß die US-Regierung nicht sofort in großem Umfang helfend eingesprungen ist, obwohl sie mehr als alle anderen die pakistanischen Politiker und Militärs zu ihrer Offensive in der Nordwestprovinz gedrängt hatte. US-Außenministerin Hillary Clinton teilte am Mittwoch mit, daß die USA 110 Millionen Dollar für die Versorgung der Flüchtlinge bereitgestellt hätten – und fand diese Summe offenbar nicht nur ausreichend, sondern geradezu großzügig.

Unverständlich erscheint auch, daß alle maßgeblichen US-amerikanischen Politiker und Militärs zu den Methoden dieses Feldzugs schweigen. Dabei machen die pakistanischen Streitkräfte doch praktisch alles falsch, was man bei dieser Art von Krieg nur falsch machen kann, insbesondere, indem sie die Bevölkerung gegen sich aufbringen und Millionen Menschen die Lebensgrundlage nehmen. Der vermutlich ohnehin nur auf dem Papier existierende amerikanische Plan, dem pakistanischen Nordwesten durch ein gut ausgestattetes wirtschaftliches Hilfsprogramm zu einem sehr bescheidenen »Wohlstand« zu verhelfen, um den »Extremisten« das Wasser abzugraben, ist durch die voraussehbaren Folgen der Militäroperationen in noch weitere Ferne gerückt. Immerhin war noch in der Amtszeit von George W. Bush angekündigt worden, für diesen Zweck in den nächsten Jahren 750 Millionen Dollar auszugeben. Das wäre zwar, gemessen an den tatsächlichen Bedürfnissen und an den riesigen militärischen Kosten der Kriegführung in Afghanistan und Pakistan, nur ein sehr geringer Betrag. Aber er läge, wenn er denn gezahlt worden wäre, deutlich über der von der UNO für die Soforthilfe veranschlagten Summe.

Obama fordert Ausweitung

Die Regierung in Islamabad behauptet, es handele sich bei dem Feldzug gegen die Taliban in Swat und den benachbarten Bezirken um das »Überleben« Pakistans. »Die Nation kann es sich nicht leisten, diesen Krieg um ihr eigenes Überleben zu verlieren«, heißt es von Präsident Zardari. »Wir können uns nicht erlauben, den Krieg zu verlieren, und wir werden ihn mit Gottes Hilfe gewinnen. Anderenfalls steht das Überleben des Landes auf dem Spiel«, bläst Premierminister Gilani ins gleiche Rohr.

Sachlich steht diese These auf schwachen Füßen. Die Stärke der Taliban ist ihre Verbindung zu Teilen der paschtunischen Bevölkerung in der Nordwest-Grenzprovinz und den Stammesgebieten. Jenseits des Nordwestens sind ihr Einfluß und ihre militärischen Möglichkeiten, aber auch ihre Ambitionen gering. Das Horrorszenario, die fundamentalistischen Kämpfern stünden 100 Kilometer vor Islamabad, ist zwar propagandistisch ergiebig – besonders außerhalb Pakistans –, täuscht aber über die Realität hinweg.

Die These vom Überlebenskampf stellt ein Zugeständnis an die US-amerikanische Propaganda dar – und liefert damit Pakistan völlig der regionalen Eskalationsstrategie der Obama-Regierung aus. Der hochgradig ideologisierte Begründungszusammenhang schließt es weitgehend aus, die militärische Konfrontation nach der mehr oder weniger vollständigen Vertreibung der Taliban aus Swat, Buner und Unter-Dir für abgeschlossen zu erklären oder zumindest vor weiteren Operationen im Nordwesten eine längere Ruhepause einzulegen. Die US-Regierung, die Pakistan mit Erfolg auf den Weg eines langen, destabilisierenden Bürgerkrieges gedrängt hat, erwartet dessen Ausweitung – und wird sich damit wahrscheinlich durchsetzen, zumal das Land finanziell und wirtschaftlich auf Jahre hinaus am Tropf hängt. Das wird durch eine Fortsetzung des Bürgerkrieges allerdings noch verschlimmert, so daß ein Teufelskreis garantiert ist.

Der britische Sender BBC veröffentlichte am 13. Mai online eine Übersicht über die Situation in allen Verwaltungseinheiten der Nordwest-Grenzprovinz und der Stammesgebiete. Dieser Aufstellung zufolge befanden sich nur 38 Prozent der Bevölkerung des Gebiets, das etwas größer ist als Portugal und ungefähr 26 bis 27 Millionen Einwohner hat, vollständig unter Regierungskontrolle. Auf 24 Prozent dieses Territoriums hätten derzeit die Taliban die Macht und auf weiteren 38 Prozent gebe es eine »ständige Präsenz« der fundamentalistischen Kämpfer. Von den sieben Bezirken der Stammesgebiete stehen laut BBC vier unter der Herrschaft der Taliban, während sie in dreien ihre Anwesenheit durch militärische Aktionen demonstrieren.

Für das Verständnis der Lage nicht unwichtig ist, daß der pakistanische Nordwesten keineswegs nur aus menschenleeren Berglandschaften besteht, sondern sehr viel dichter besiedelt ist als das benachbarte Afghanistan. Während dieses nur eine Bevölkerungsdichte von 46 Einwohnern pro Quadratkilometer aufweist, sind es 137 in den Stammesgebieten und sogar 260 im Nordwesten. Diese Region insgesamt hat nicht sehr viel weniger Einwohner als Afghanistan (27 zu 32 Millionen), obwohl sie nur ein Sechstel der Fläche des Nachbarlandes einnimmt.

Nächste Provinz: Wasiristan

Hinzu kommt, daß der bewaffnete Kampf beiderseits der Grenze immer noch fast ausschließlich von den Paschtunen getragen wird. Angehörige dieses Volkes gibt es in Afghanistan ungefähr 13 Millionen, in Pakistan jedoch 28 Millionen. Mehr als eine Million Paschtunen leben in der Hafenstadt Karatschi, der Hauptstadt der Provinz Sindh, wo sich inzwischen Wirkungen der fundamentalistischen Agitation bemerkbar machen. Auch im Norden der Provinz Balutschistan, die an die Nordwest-Grenzprovinz und die Stammesgebiete grenzt, gibt es Hunderttausende Paschtunen.

Die militärischen Aufgaben, vor denen sich die pakistanischen Streitkräfte gestellt sähen, wenn sie wirklich auf dem gesamten Territorium der Nordwest-Grenzprovinz und der Stammesgebiete einen »totalen Krieg« eröffnen wollten, wären daher keineswegs geringer und einfacher als die der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan. Die sind zwar für einen solchen Krieg sehr viel besser ausgerüstet und ausgebildet als die Pakistani, haben es aber trotzdem in über sieben Jahren nicht geschafft, die Ausbreitung des Taliban-Einflusses auf immer weitere Teile Afghanistans zu verhindern.

Die gängige Sicht oder Darstellung westlicher Politiker und Mainstreammedien, es habe bisher allen pakistanischen Regierungen lediglich am Willen gefehlt, mit militärischer Gewalt gegen die Taliban vorzugehen, ist vor diesem Hintergrund falsch und ihrer Absicht nach infam. Tatsächlich hat Pakistan sich schon seit 2003 immer wieder von den USA dazu drängen lassen, die jahrzehntelang relativ erfolgreich praktizierte Strategie der friedlichen Koexistenz mit den Stämmen des Nordwestens, einschließlich fundamentalistischer Gruppen, partiell aufzugeben und unter Bruch bestehender Abmachungen Militär einzusetzen. Da die politische und militärische Führung aber gleichzeitig versuchte, die schon von der früheren britischen Kolonialmacht praktizierte Methode der Verträge und Bündnisse mit einzelnen Stämmen und Organisationen fortzusetzen, funktionierte letztlich weder das eine noch das andere.

Trotzdem ist festzustellen, daß der faktische Waffenstillstand mit den maßgeblichen Taliban-Organisationen in den Stammesgebietbezirken Nord- und Südwasiristan immer noch einigermaßen funktioniert. Die US-Regierung scheint heftig darauf zu drängen, daß die pakistanischen Streitkräfte spätestens nach Abschluß ihrer Offensivoperationen in Swat, Buner und Unter-Dir gegen Wasiristan vorgehen, das als eigentliches Zentrum der Taliban gilt. Die beiden Bezirke sind zusammen etwas größer als das derzeitige Operationsgebiet in der Nordwest-Grenzprovinz, haben allerdings nur knapp eine Million Einwohner. Es wird jetzt schon prognostiziert, daß die Ausweitung des von Zardari verkündeten »totalen Krieges gegen den Terror« auf Wasiristan 500000 neue Flüchtlinge zur Folge haben würde. Vermutlich würde eine Offensive dort auch andere Bezirke der Stammesgebiete in Mitleidenschaft ziehen. Darunter Bajaur, wo die Regierungstruppen vor wenigen Monaten eine militärisch erfolgreiche Kampagne durchführten, die als Begleiterscheinung 600000 Menschen zeitweise zu Flüchtlingen machte. Inzwischen ist Bajaur, wenn man der oben erwähnten Zusammenstellung der BBC glauben darf, wieder fest in der Hand der Taliban.

Es ist schwer vorstellbar, daß ein »totaler Krieg« auf dem gesamten Territorium der Nordwest-Grenzprovinz und der Stammesgebiete, möglicherweise sogar unter Einbeziehung einiger überwiegend paschtunischer Gebiete im Norden Balutschistans und in der Provinz Punjab, letztlich etwas anderes hervorrufen wird als eine vertiefte politische und wirtschaftliche Destabilisierung Pakistans. Perspektivisch wird dann eine direkte militärische Intervention der USA und vielleicht auch anderer NATO-Staaten kaum zu vermeiden sein. Möglich, daß genau das die langfristige Absicht einiger Kräfte ist, die alles tun, um Pakistan in einen großflächigen Bürgerkrieg zu treiben.

* Aus: junge Welt, 4. Juni 2009


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