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Wie sicher sind die pakistanischen Atomwaffen? Die Befürchtungen der USA und anderer Staaten

Ein Beitrag von Thomas Horlohe im NDR Forum "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator)
Der Krieg am Hindukusch hat mittlerweile auch Pakistan erfasst. Der Konflikt ist in den vergangenen Wochen eskaliert. Die pakistanischen Streitkräfte haben eine Großoffensive gegen die Aufständischen gestartet. Pakistan ist eine Atommacht. Und immer öfter fragt man sich vor allem in den westlichen Hauptstädten: Ist sichergestellt, dass die pakistanischen Atomwaffen nicht in falsche Hände geraten? Thomas Horlohe ist dieser Frage nachgegangen:

Manuskript Thomas Horlohe

Was könnte noch schlimmer sein als die Terroranschläge vom 11. September 2001? Massenvernichtungswaffen in den Händen von Terroristen. Dieses ultimative Schreckens-Szenario beherrscht das Denken und Handeln der Regierungen im Kampf gegen den Terrorismus. Es diente der Regierung Bush zur Rechtfertigung des Krieges gegen den Irak. Und es überlagert alle anderen Überlegungen des Westens gegenüber dem Iran.

Die Atomtechnologie wird von vielen Ländern umfassend genutzt - militärisch und zivil. Genauso zahlreich und vielfältig sind die Missbrauchsmöglichkeiten. Ein Atomwaffenprogramm, wie es im Iran vermutet wird, ist technisch anspruchsvoll, organisatorisch komplex, teuer und zeitintensiv. Terrorgruppen werden daher kaum in der Lage sein, solche Waffen selbst zu entwickeln. Sie können aber versuchen, auf andere Weise in den Besitz der Bombe kommen. Denn streng genommen gibt es bereits eine "islamische Bombe" -- in Pakistan. Die Sorge vor dem Zugriff islamistischer Terroristen auf diese Atomwaffen hat die im Frühjahr erarbeitete neue US-Strategie für Afghanistan und Pakistan maßgeblich beeinflusst. Zu diesem Zeitpunkt hatten die pakistanischen Taliban das Swat-Tal unter ihre Kontrolle gebracht, etwa 160 km nordwestlich von Islamabad.

Bruce Riedel hat die so genannte AfPak-Strategie entscheidend mitformuliert. Der Berater der US-Regierung antwortete vor drei Monaten auf die Frage, was ihm die größte Sorge bereite:

O-Ton Riedel (overvoice)
"Das wirkliche Albtraum-Szenario ist natürlich, dass sie sich irgendwie Zugriff auf spaltbares Material verschaffen oder sogar auf Kernwaffen selbst. Das ist der ultimative Albtraum: Eine Terroristengruppe mit einer Atomwaffe und ohne Hemmungen, sie gegen Amerika einzusetzen... Ich denke das ist eine ernsthafte Möglichkeit, eine Gefahr, die eine ernsthafte Antwort erfordert."

Die Amerikaner sind also skeptisch und schließen nicht aus, dass die pakistanischen Atomwaffen in falsche Hände geraten könnten.

Pakistan besitzt 40 bis 60 atomare Gefechtsköpfe. Als Trägersysteme stehen Flugzeuge des Typs F-16 A, Mirage V oder die chinesische A-5 zur Verfügung, außerdem Raketen mit Reichweiten von bis zu 3.000 km. Ein Marschflugkörper mit etwa 500 km Reichweite wird entwickelt.

Die Kontrolle dieser Waffen und sämtlicher Atomangelegenheiten, militärischer und ziviler, obliegt offiziell der sogenannten National Command Authority (NCA). Diesem Gremium gehören an: Der Präsident, der Premierminister, die Minister für Verteidigung, Inneres und Finanzen, der Generalstabschef, die Befehlshaber der drei Teilstreitkräfte und der Generaldirektor der Strategischen Planungsabteilung, der Strategic Plans Divison. Diese Abteilung ist für die Kontrolle der pakistanischen Atomwaffen verantwortlich und damit auch für deren Sicherheit und für die Befehlskette. Die Strategische Planungsabteilung umfasst 50 Offiziere und wird von Generalleutnant Khalid Kidwai geleitet. Offiziell ist er direkt dem Premierminister und dem Präsidenten unterstellt. Auf dem Papier gibt es demnach einen zivilen Oberbefehl über Pakistans Atomwaffen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Die pakistanischen Atomwaffen unterstehen De facto nicht der Regierung, sondern dem Militär. Sie gehören praktisch den Streitkräften. Und von Zivilisten lassen sich die Generäle bei den Atomwaffen nicht reinreden.

Aus Sicht der Militärs ist der Sicherheitsstandard der pakistanischen Atomstreitkräfte hoch. In der Tat: Für den Einsatzbefehl sind Zahlencodes erforderlich, die wahrscheinlich vom Geheimdienst des Heeres verwaltet werden und nicht vom ISI, dem gemeinsamen Geheimdienst aller Teilstreitkräfte, der für seine guten und engen Verbindungen zu den Taliban berüchtigt ist. Nur zwei Offiziere können gemeinsam Atomwaffen frei schalten, möglicherweise sind sogar drei erforderlich. Das Militärpersonal unterliegt strengen persönlichen Sicherheitsüberprüfungen und rotiert auf den kritischen Dienstposten. Die Kernwaffen sind mit elektronischen Schlössern versehen. Wird ein falscher Code eingegeben, wird die Waffe unbrauchbar. Diese Technologie entspricht in ihrer Funktionsweise den sogenannten Permissive Action Links (PAL), die in US-Kernwaffen eingebaut sind. Die Gefechtsköpfe sind wahrscheinlich an sechs verschiedenen Standorten dezentral gelagert, und zwar getrennt von ihren Trägersystemen. Es heißt, die Atomwaffendepots sind gut gesichert und werden von einer Sondereinheit streng bewacht, die auch für die Spionageabwehr zuständig ist. Insgesamt ähneln die Sicherheitsmaßnahmen für die pakistanischen Kernwaffen sehr stark denen für US-Kernwaffen. Das ist kein Zufall. Denn die Regierung Bush stellte Pakistan mehr als 100 Millionen US-Dollar für den besseren Schutz seiner Atomwaffen zur Verfügung. Das US-Energieministerium leistete Ausbildungshilfe.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das pakistanische Militär sich in seiner Berufsehre verletzt sieht, wenn ausgerechnet in US-Medien die Sicherheit seiner Kernwaffen vor unbefugtem Zugriff in aller Öffentlichkeit immer wieder in Frage gestellt wird. Generalleutnant Kidwai, der Verantwortliche für die Sicherheit der pakistanischen Kernwaffen, sagt kürzlich der NEW YORK TIMES mit leicht gereiztem Unterton:

Zitat Kidwai
"Bitte gestehen Sie uns doch zu, dass wenn wir Nuklearwaffen und ihre Trägersysteme herstellen können, wir auch in der Lage sind, sie sicher zu machen."

Trotzdem. Es bleiben zwei Szenarien, die beunruhigen. Rolf Mowatt-Larssen, Atomwaffenexperte und ehemaliger Mitarbeiter der CIA und des US-Energieministeriums, sieht zwar keinen Anlass zur Aufregung, weist aber auf das sogenannte Insider-Problem hin:

O-Ton Larssen (overvoice)
"Die Sicherheit ist gegeben, insbesondere angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der die pakistanische Regierung das Problem angeht, es sei denn, Personen mit Insider-Kenntnissen arbeiten mit Terroristen zusammen."

Trotz strenger Sicherheitsüberprüfungen ist nicht völlig ausgeschlossen, dass Offiziere, die mit Al Qaida oder anderen islamistischen Extremisten zusammen arbeiten, die existierenden Sicherheitssysteme überwinden könnten. Allerdings halten Experten eine religiös-fundamentalistische Verschwörung in der Eliteeinheit des pakistanischen Militärs für nicht sehr wahrscheinlich.

Das zweite Szenario ist ein Regimewechsel in Islamabad zu einer Theokratie. Eine Entwicklung, die man in Washington nicht ausschließen will. Der Chef des US-Generalstabs, Admiral Michael Mullen:

O-Ton Mullen (overvoice)
"Pakistan ist ein Land mit Kernwaffen. [...] Sollten wir uns auf einen Punkt hinbewegen, wo es eine religiöse Regierung geben sollte, die im Besitz von Kernwaffen ist, - nun das ist etwas, das mir den Schlaf raubt."

Für viele Beobachter sind religiös-fundamentalistische Parteien in Pakistan nicht mehrheitsfähig. Aber so weit würde es die pakistanische Generalität vermutlich ohnehin nicht kommen lassen. Das Militär würde eingreifen. Und es könnte sich dabei auf ausländische Unterstützung verlassen, vor allem auf die USA. Denn die pakistanischen Streitkräfte gelten letztlich als die noch effektivste Organisation, um eine Weitergabe der Atomwaffen an Extremisten zu verhindern. Oliver Thränert und Christian Wagner von der Berliner STIFTUNG WISSENSCHAFT UND POLITIK kommen in ihrer Studie über die Atommacht Pakistan daher zu einer ernüchternden Schlussfolgerung für die Chancen des Demokratisierungsprozesses im Lande. Zitat:

Zitat Thränert/Wagner
"Das Interesse des pakistanischen Militärs an der Bewahrung seiner herausragenden Stellung deckt sich mit dem Interesse der internationalen Gemeinschaft an einer wirksamen Sicherung der pakistanischen Atomwaffen und einem effektiven Schutz vor deren Einsatz. (...) Die Kontrolle über das Nuklearpotenzial bleibt das Faustpfand der Armeeführung, mit dem sie ihre privilegierte Stellung in Pakistan absichert."

Es ist daher kein Zufall, dass die Obama-Administration in letzter Zeit vor allem den Kontakt mit den pakistanischen Spitzenmilitärs sucht. Washington sieht offenbar trotz aller Bekenntnisse zur demokratischen Entwicklung des Landes das Militär als den letztlich entscheidenden Stabilitätsfaktor in Pakistan. Das Faustpfand Atomwaffen ist für das pakistanische Militär politisch viel zu wertvoll, um es sich leichtfertig aus der Hand schlagen zu lassen - von niemandem, auch nicht von Terroristen.

* Quelle: NDR, Forum "Streitkräfte und Strategien", 27. Juni 2009, 19.20-19.50 Uhr; www.ndrinfo.de


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