Der Mythos von Camp David
Die Verhandlungen vom Juli 2000 in den USA scheiterten nicht am Starrsinn Arafats
Den folgenden Beitrag des bekannten Nahost-Experten Ludwig Watzal haben wir der Wochenzeitung "Freitag" entnommen. Die Verhandlungen von Camp David haben zur Legendenbildung auf allen Seiten beigetragen. Das Thema Camp David beschäftigt seit geraumer Zeit Politikwissenschaftler, Historiker und Publizisten, weil das Scheitern der Verhandlungen häufig als letzte Ursache der Ende September 2000 einsetzenden zweiten Intifada betrachtet wurde. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass es um mehr ging als um den Eigensinn Arafats.
Vor nicht so langer Zeit haben wir eine Analyse der Verhandlungen von Camp David aus der Feder von
Reiner Bernstein vorgelegt.
Von Ludwig Watzal
ISRAEL/PALäSTINA: Die Verhandlungen vom Juli 2000 in
den USA scheiterten nicht am Starrsinn Arafats, sondern an
Vorschlägen der Israelis, die den Palästinensern statt eines Staates
ein Staatsgebilde offerierten
Je mehr die Lage in Palästina außer Kontrolle gerät, desto nachdrücklicher
wird von israelischen Politikern die These kolportiert, bei den Verhandlungen
von Camp David vor zwei Jahren (11. - 25. Juli 2000), die unter dem Patronat
des damaligen US-Präsidenten Clinton zwischen dem israelischen Premier
Ehud Barak und PLO-Chef Yassir Arafat stattfanden, habe das "großzügigste
Angebot" auf dem Tisch gelegen, das es je für die Palästinenser gab. Wäre
Arafat nicht bei irrealen Forderungen geblieben - er könnte längst Präsident
eines eigenen Staates sein. Welche Positionen in Camp David wirklich
aufeinander trafen und wodurch die Gespräche schließlich scheiterten,
blendet diese Version der Ereignisse aus.
Ministerpräsident Ehud Barak traf am 10. Juli 2000 mit der Absicht in
Camp David ein, dem Friedensprozess einen krönenden Abschluss zu
verschaffen, sprich: die Existenz eines palästinensischen Staates
abzusegnen, deshalb unterbreitete er das "großzügigste Angebot", das es
je gab. Doch er scheiterte an einem starrsinnigen Arafat, der außerstande
war, vernünftige Kompromissen einzugehen.
So wird in groben Zügen jene Geschichte aus dem Sommer 2000 erzählt,
der inzwischen etwas Melodramatisches anhaftet. Das "großzügigste
Angebot" wird dabei gern als solches zitiert. Nur über Details spricht selten
jemand; sie sind nämlich ernüchternd.
Schon das Zustandekommen des Gipfels von Camp David stand unter
keinem guten Stern. Die Erwartungen konnten unterschiedlicher nicht sein:
Arafats Berater hatten den amerikanischen Unterhändlern klar signalisiert,
der PLO-Chef werde kein "Endabkommen" unterzeichnen, das nicht ein
Minimum an palästinensischen Positionen aufnehme. Nur intensiver Druck
von Außenministerin Madeleine Albright, Sicherheitsberater Sandy Berger
und Nahost-Emissär Denis Ross ließ Arafat schließlich nach Camp David
fliegen.
Israels Credo: Ganz oder gar nicht
Gegenspieler Ehud Barak hatte seinerseits kurz zuvor die Verhandlungen
in Stockholm nach einem zweiten Treffen zwischen Außenminister Shlomo
Ben-Ami und dem palästinensischen Parlamentspräsidenten Ahmad Qurai
für beendet erklärt, weil er seine "Angebote" nur auf dem Gipfel in den USA
unterbreiten wollte. Barak erhoffte sich von Camp David einen
"100prozentigen Frieden".
Doch von einem Friedensprozess mochte im Juli 2000 niemand mehr
sprechen, die Zerstückelung palästinensischen Terrains durch den Bau von
Umgehungsstraßen war auch unter der Regierung Barak fortgesetzt
worden, während die dritte Phase des israelischen Truppenrückzugs, wie
sie das Sharm el-Sheikh-Abkommen vom September 1999 vorsah,
verschoben war. Barak wollte statt dessen direkt zu den
"Endstatusverhandlungen" übergehen. Das bedeutete für die Palästinenser,
dass sie dabei nur über 42 Prozent des potenziellen Autonomie-Gebietes
reden konnten. Denn nur 18 Prozent (Zone A) davon standen unter ihrer
alleinigen Kontrolle. Bei über 24 Prozent (Zone B) mussten sie sich die mit
Israel teilen. Bei den restlichen 58 Prozent konnten sie überhaupt kein
Mitspracherecht beanspruchen.
Ehud Barak selbst hatte nie zu den Befürwortern des Osloer
Friedensprozesses gehört und als Innenminister Rabins gegen die
entsprechenden Verträge votiert, als in Israel die Hoffnung auf Frieden so
groß war wie kaum je zuvor. Baraks politische Heimat blieb stets der
rechte Flügel der zionistischen Arbeiterbewegung Achdut Ha`avoda, die
schon 1948 für ein Groß-Israel eintrat.
In Camp David erklärten die Israelis ununterbrochen, man könne ihre
Vorschläge nur "ganz oder gar nicht" annehmen. Das war allein schon
deshalb kühn, weil in diesen Vorschlägen jeder Bezug auf die
verschiedenen UN-Resolutionen fehlte, obwohl der Friedensprozess gerade
der Resolution 242 folgen sollte, indem er von der Formel Land für Frieden
ausging. Aber Barak hielt das Völkerrecht mit Blick auf die Palästinenser
für irrelevant und argumentierte, die Resolution 242 beziehe sich nur auf
Staaten und nicht auf Organisationen wie die PLO. Er erwartete wohl, dass
sich Arafat dem vereinten Druck von Amerikanern und Israelis erneut
beugen würde, wie das bei Teilabkommen bis dato immer der Fall war.
Welches war die Ausgangslage beider Verhandlungspartner? Die PLO
hatte sich für Camp David darauf verständigt, ein Rückkehrrecht oder eine
"angemessene Entschädigung" für die Flüchtlinge von 1947/48 gemäß der
UN-Resolution 194 einzuklagen. Außerdem sollte sich Israel aus den
besetzten Gebieten in Übereinstimmung mit den UN-Resolutionen 242 und
338 zurückziehen, alle Siedlungen räumen sowie Ost-Jerusalem als
Hauptstadt eines künftigen Staates Palästina akzeptieren.
Taba im Januar 2001
Es kam zu einer Annäherung zwischen beiden Parteien wie noch nie zuvor.
Man hatte sich darauf geeinigt, die UN-Sicherheitsratsresolution 242 als
Grundlage für die endgültige Festlegung der Grenzen vom 4. Juni 1967
(Waffenstillstandslinie) zu betrachten. Die Israelis boten an, 94 Prozent der
Westbank zurückzugeben. Um die restlichen sechs Prozent zu
kompensieren, wollte Israel das Äquivalent von drei Prozent an
israelischem Territorium abtreten; die restlichen drei Prozent sollten mit
dem Korridor zwischen der Westbank und dem Gaza-Streifen kompensiert
werden. Dieser Korridor sollte palästinensischer Souveränität unterstehen.
Im Unterschied zu Camp David verzichtete Israel auf das Jordantal, Shilo,
den Ostteil von Ariel und einige isoliert gelegene Siedlungen wie Beit El
und Kedumim.
Beide Seiten waren sich ebenfalls einig, dass Jerusalem ungeteilt bleiben
und die Hauptstadt beider Staaten sei sollte. Die jüdischen Viertel sollten
an Israel, die arabischen an die Palästinenser gehen. Diskutiert wurde, ob
man den Tempelberg und die Klagemauer nicht unter die Oberaufsicht
Marokkos stellen sollte. Das Flüchtlingsproblem erwies sich als heikel.
Fünf Alternativen wollte man den Flüchtlingen anbieten: Rückkehr nach
Israel; in die an die Palästinenser abgetretenen Gebiete; in den neuen
Palästinenserstaat; Verbleib im jeweiligen Aufenthaltsland, Ausreise in ein
Drittland.
Die Palästinenser gestanden Israel zu, die "letzte Entscheidung" über die
Rückkehr der Flüchtlinge nach Israel zu haben. Israel erklärte sich bereit, in
fünf Jahren im Rahmen der Familienzusammenführung 40 000 Flüchtlinge
aufzunehmen. Die PLO wollte jedoch 100 000. Ebenso stimmten beide
Seiten einer Entschädigung der Flüchtlinge zu.
Rote Linien: Bis hier und nicht weiter
Israels Position wurde durch fünf "rote Linien" markiert, die Barak auf
keinen Fall überschreiten wollte. Erstens: kein Rückzug auf die Grenzen
von 1967; zweitens: Jerusalem bleibt ungeteilt und unter israelischer
Souveränität; drittens: keine ausländische Macht westlich des
Jordan-Flusses; viertens: die meisten Siedler bleiben unter israelischer
Souveränität, auch nach einem Endabkommen; fünftens: Israel wird keine
moralische oder rechtliche Verantwortung für das palästinensische
Flüchtlingsproblem übernehmen.
Was blieb da von Baraks "großzügigstem Angebot"? Der
Palästinenserstaat sollte in der Westbank aus drei Landsegmenten
bestehen, verbunden durch Korridore, deren Kontrolle die Israelis zu
übernehmen gedachten. Gleiches war für die Außengrenzen dieser drei
"Homelands" vorgesehen. Zehn Prozent der Westbank wollten die Israelis
für ihre Siedlungen annektieren. Dafür sollten die Palästinenser mit einem
Stück Wüste entschädigt werden. Des weiteren wollte der israelische
Staat für 100 Jahre den Jordangraben pachten, der etwa zehn bis zwölf
Prozent des Autonomiegebietes einnimmt und den territorialen Zugang zu
den fundamentalistischen Siedlern in Hebron und Kirat Arba ermöglicht.
Es gab keinerlei Konzessionen in der Flüchtlingsfrage. Die
palästinensischen Ansprüche wurden so gedeutet, als säßen die 3,7
Millionen Flüchtlinge bereits auf gepackten Koffern, obwohl Arafat
persönlich keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass man bei der
Flüchtlingsfrage die bevölkerungspolitischen Bedenken Israels respektieren
werde. In diesem Punkt bezogen die Palästinenser keineswegs - wie nach
Camp David behauptet wurde - "knallharte Positionen". Sie bestanden
lediglich auf der prinzipiellen Anerkennung ihres Rechtes auf Rückkehr.
Mindestens ebenso heikel war die Frage nach dem künftigen Status von
Jerusalem. Die israelische Delegation nahm dazu eine Haltung ein, die an
jüdische Fundamentalisten erinnerte. Gilad Sher, persönlicher Berater
Baraks, schreibt in seinem Buch Zum Greifen nah - die
israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen, dass man in der
Jerusalem-Frage am liebsten jedes Mal den Jesha-Council (Siedlerrat)
konsultiert hätte. Die plötzliche Forderung, dass Juden auf dem
Tempelberg (Haram al-Sharif) beten sollten, führte zum strikten Veto der
Palästinenser. Clintons Rechtsexperten schlugen daher, um die
Verhandlungen nicht scheitern zu lassen, folgende "Lösung" vor: Ein
internationales Komitee - bestehend aus Vertretern des
UN-Sicherheitsrates und des Königreiches Marokko - sollte die "Aufsicht"
(custody) über den Tempelberg dem Palästinenserstaat übertragen,
während die "Souveränität" bei Israel liegen sollte: die "custodial"
Souveränität für die Palästinenser - die "residual" Souveränität für Israel.
Auf die Frage, was das konkret bedeuten werde, entgegneten Clintons
Experten: Israelische Souveränität.
Des weiteren sollte die Stadt nach der Formel - verschiedene Systeme für
verschiedene Bezirke - fragmentiert werden. Alles in allem wäre damit die
palästinensische Souveränität auf die Teile Ost-Jerusalems beschränkt
geblieben, die vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 nicht zu Jerusalem
gehörten. Arafats "Hauptstadt" Ost-Jerusalem hätte letztendlich aus drei
Dörfern bestanden - Abu Dis, Al-Eisaria, Sauwahra -, die nicht innerhalb
der Ost-Jerusalemer Stadtgrenzen von 1967 lagen. Ein "special regime"
sollte für die Altstadt angewandt werden, jedoch erst später; dort sollte
auch Arafats "sovereign compound" (souveränes umzäuntes Gelände) für
seine Verwaltung liegen. Diese künstliche Lösung wollten Israelis und
Amerikaner den Palästinensern partout als Erfüllung ihrer Sehnsüchte
verkaufen, versehen mit einer Unterschrift, die das "Ende des Konfliktes"
ultimativ besiegelt.
Trugbild: Ehrlicher Makler USA
Wie "vertrauensvoll" die beiden Rivalen in Camp David miteinander
umgingen, zeigt allein der Umstand, dass Barak und Arafat in den 15
Verhandlungstagen nur eine Stunde lang direkt zusammen saßen und
dabei über das Wetter und das Essen redeten. Jossi Beilin, Baraks
Justizminister, kritisiert seinen damaligen Chef, dem es nie gelungen sei,
einen persönlichen Draht zu Arafat zu finden, obwohl dieser auf ihn
zugegangen sei. Das israelische Verhandlungsteam habe auf Anweisung
Baraks den Palästinensern niemals etwas Schriftliches unterbreitet. Auch
seien die amerikanischen Vorschläge stets mit der israelischen Delegation
vorbesprochen worden, bevor sie den Palästinensern unterbreitet wurden.
Schließlich waren die Israelis über die später formulierten
Clinton-Vorschläge bereits vier Wochen vor deren Veröffentlichung
unterrichtet. Barak hatte allen Stillschweigen darüber verordnet. Soviel zum
"ehrlichen Makler" USA.
Ehud Barak mag zwar ein hervorragender Soldat gewesen sein, als
Politiker ist er gescheitert. Sein Lavieren zwischen einer Lösung mit Syrien
und - als die scheiterte - einem mit Brachialgewalt oktroyierten Agreement
mit den Palästinensern hat letztlich Sharon den Weg geebnet. Dass man
durchaus über die Positionen von Camp David hinausgehen konnte, zeigten
die Gespräche von Taba im Januar 2001 (s. Kasten) - doch da stand ein
Sieg von Ariel Sharon bei der Direktwahl des israelischen
Ministerpräsidenten am 6. Februar 2001 schon so gut wie fest.
Aus: Freitag 27, 28. Juni 2002
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