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Israel muss mit Hamas reden

Tom Segev über Mythen, Historikerstreit, die Identitätskrise einer Gesellschaft und die Palästinenser

Bereits in seinem Buch "Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels" (2005) hat Tom Segev eine Reihe jener Mythen, die sich um das Entstehen des Staates Israel ranken, einer radikalen Kritik unterzogen. In seinem neuen Buch "1967 – Israels zweite Geburt" (Siedler, 672 S., 28,-), ein Bestseller in seiner Heimat, widmet sich der Wissenschaftler, der der Gruppe der "Neuen Historiker" Israels zugerechnet wird, der Entmythologisierung des so genannten Sechs-Tage-Krieges vom Juni 1967. Mit Tom Segev sprach Adelbert Reif.*



Herr Segev, sehen Sie eine Ihrer wichtigsten Aufgaben als Historiker in der Entmythologisierung der offiziellen israelischen Geschichtsdarstellung?

Segev: Eigentlich nicht. Vielmehr verhält es sich so, dass ich in ein mir bisher unbekannt oder verschlossen gebliebenes Archiv gehe, eine bestimmte Akte öffne und überrascht feststelle, dass sich gewisse historische Vorgänge in der Realität ganz anders zugetragen haben, als sie uns etwa in der Schule dargestellt worden sind. Danach folgt die Demythologisierung.

Wie urteilen Sie über den Krieg im Juni 1967?

Ich kam zu der Auffassung, dass der Krieg mit Ägypten unvermeidbar war. Doch waren andere Gründe dafür ausschlaggebend, als sie von der offiziellen Geschichtsschreibung dargelegt werden. Denn weder damals noch heute wissen wir, was die ägyptische Regierung wirklich plante. Bekannt ist nur, dass in Israel Angst vor einem zweiten Holocaust bestand. Man fürchtete, die ägyptische Regierung würde einen vorbereiten. Bei den Recherchen zu meinem Buch stieß ich auf unzählige private Briefe, die Israelis an ihre Freunde und Verwandten in Amerika und anderswo schrieben und aus denen ihre ungeheure Panik vor einem zweiten Holocaust hervorging. Hinzu kam die Schwäche, in der sich die israelische Gesellschaft befand und die diese Angst verstärkte.

Israel führte 1967 nicht nur gegen Ägypten Krieg.

Der zweite Krieg gegen Jordanien hat eine andere Story. Er begann, als der Krieg gegen Ägypten innerhalb von nur 90 Minuten gewonnen war. Am 5. Juni 1967 griffen die Jordanier Jerusalem an, worauf Israel mit der Eroberung der Altstadt von Jerusalem und der Westbank reagierte. Beim Studium der Protokolle der Regierungssitzungen fiel mir auf, dass keiner der Minister die Frage stellte, warum es eigentlich im Interesse Israels liege, die Jerusalemer Altstadt zu erobern. Aber nicht nur das. Es gibt heute offene Dokumente im Auswärtigen Amt in Jerusalem über strategische Beratungen auf höchster Ebene, die sechs Monate vor dem Krieg stattfanden. Da saßen Geheimdienstchefs und Repräsentanten des Auswärtigen Amtes zusammen und überlegten, unter welchen Umständen es notwendig sein könnte, dass Israel die Westbank erobere. Sie beschrieben unterschiedliche Szenarien und kamen zum Schluss, dass es nicht im Interesse Israels liegen könne, die Westbank zu erobern, weil sie von Arabern verschiedener Länder bevölkert sei, die Gefahr des Terrorismus heraufbeschwören und die Sicherheit der jüdischen Mehrheit in Israel gefährden könnte.

Doch am 5. Juni 1967 stimmten dieselben Personen wider alle Vernunft für die Eroberung der Westbank. Man dachte an 2000 Jahre Sehnsucht nach den heiligen Stätten. Man wusste genau, dass sich diese Entscheidung gegen die strategischen Interessen Israels richtete – und handelte dennoch, übermannt von dubiosen Gefühlen, gegen diese Interessen. Wahrscheinlich ist Religion ein Faktor, der unbeherrschbar ist.

Wenn der Krieg Israel selbst weder Sicherheit noch Frieden brachte, wie konnte er jahrzehntelang als »Rettung des Staates Israel« mystifiziert werden?

Weil die Panik vor dem Krieg so groß war, wurde der Sieg ebenfalls so übermächtig empfunden. Innerhalb weniger Tage ging die Furcht über in eine schier unbegrenzte Euphorie. Eine große, im Übrigen eher säkular orientierte, israelische Tageszeitung veröffentlichte damals einen Artikel, der den Titel trug: »Ein Fingerzeig Gottes«. Damit beschwor sein Verfasser ein »Wunder«, das Gott dem »schwachen«, »bedrängten« Volk Israels angedeihen ließ. Es ist dieses starke emotionale Erlebnis, das eine Generation von Israelis mit dem Juni-Krieg 1967 verbindet. In Wirklichkeit war die israelische Armee einfach besser ausgebildet und moderner ausgerüstet als alle drei arabischen Armeen zusammen. Ihr militärischer Nachrichtendienst verfügte über exzellente Informationen. Aber das war nur der Armee und einem Teil der Minister bekannt.

Vor dem Krieg hatte niemand im Ernst daran gedacht, dass es einmal möglich sein würde, an die Klagemauer treten oder die vielen Stätten des Heiligen Landes besuchen zu können, die sozusagen auf der anderen Seite des Mondes lagen. Die nun nach dem Sieg möglich gewordene Begegnung mit den alten heiligen Plätzen beflügelte Mythen wie: »David gegen Goliath«.

Wirken die Mythen noch heute?

Ja. Zu diesen gehört auch, dass israelische Soldaten gar nicht in den Krieg ziehen wollten und niemals irgendwelche Kriegsverbrechen begangen hätten. Damit wäre dieser Krieg der erste Krieg in der Geschichte der Menschheit, in dem keine Verbrechen begangen wurden. Man erfand den Typus des Kibbuz-Soldaten, der zwar schießt, aber dabei weint: Er weint und schießt und schießt und weint.

Aus diesem Mythos leitet sich unter anderem die Auffassung ab, Israel bräuchte sich – da es immer nur das Gute, nie das Böse wollte – mit der Rückgabe der besetzten Gebiete auch nicht beeilen, ja, es müssten »gerechterweise« diese Gebiete sogar für immer unter israelischer Herrschaft bleiben. Das ist es, was alle Israelis vereinte, einschließlich derjenigen in der Friedensbewegung. Die hatten auch alle ihre eigene Landkarte: Natürlich, die Gebiete müssen zurückgegeben werden – aber nicht alle. Nicht der Golan oder nicht das Jordantal, nicht Gaza oder nicht Ost-Jerusalem.

»Pyrrus-Sieg« nennen internationale Kommentatoren heute den Sieg Israels 1967. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja. Israels Sieg im Sechs-TageKrieg war ein militärischer, dem keine wirklich ernsthaften friedenspolitischen Schritte folgten. Israel hat von den militärischen Eroberungen keinen einzigen Vorteil erzielt. Es steht heute vor denselben Problemen wie damals, führt dieselben Diskussionen. So hat es den Anschein, als sei das Jahr 1967 immer noch nicht vorbei. Es ist das längste Jahr in der israelischen Geschichte: Wir leben es noch immer.

Hat die Chance zu einem dauerhaften Frieden bestanden?

Unmittelbar nach dem Krieg 1967 wurden in Israel intensive Diskussionen über die Ereignisse und die möglichen zukünftigen Entwicklungen im Verhältnis zu unseren arabischen Nachbarn geführt. Alles lag auf dem Tisch. Es galt nur, die richtigen Entscheidungen zu finden. Aber die israelische Führung konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen, außer zu der, nichts zu unternehmen. Wir haben zwar jetzt Frieden mit Ägypten, und wir haben Frieden mit Jordanien. Doch im Fall der Palästinenser sind wir keinen Schritt weiter gekommen. Aus meiner Sicht hat es durchaus eine Möglichkeit gegeben, die Situation der Palästinenser in Gaza zu verbessern. Die israelische Regierung meinte jedoch, durch die Besiedlung der eroberten Gebiete mit Israelis würde sie Israels Herrschaft stabilisieren können. In Wirklichkeit wurde es mit jedem neuen Siedler schwieriger, zu einem Friedensschluss mit den Palästinensern zu kommen.

Würden Sie der These zustimmen, dass seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa auch eine intensive kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Geschichte stattfindet?

Nein, einen solchen Zusammenhang kann ich nicht ausmachen. Das ist eher generationenbedingt. Seit den 80er Jahren werden in Israel immer mehr Archive für die Forschung zugänglich, die zuvor gesperrt waren. Bis dahin hatten wir gar keine Geschichtsschreibung. Wir hatten eine Ideologie, Mythologie und sehr viel Indoktrination. Bei der Geschichtsschreibung heute handelt es sich eigentlich nicht um eine »neue Geschichtsschreibung« oder »neue Philosophie«, sondern es geht um eine kritische Aufarbeitung der nun einsehbaren Dokumente.

Sehen Sie innerhalb der Gesellschaft Zeichen für einen Wandel?

Das zeigt sich gerade wieder einmal bei der jetzigen Auseinandersetzung um den jüngsten Krieg Israels gegen Libanon. Die meisten Israelis sind entsetzt über die Verhaltens- und Vorgehensweise der Politiker und Militärs in diesem Krieg. Eine Gesellschaft, die sich in existenzieller Gefahr sieht und ihrer Regierung dennoch sagt: »Keinen Krieg!« – die kann doch keine schlechte Gesellschaft sein, trotz der Gespaltenheit, in der sie sich befindet. Denken Sie an den vor zwei Jahren unter Ariel Sharon deklarierten Rückzug Israels aus Gaza: Er wurde von einer großen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet. Noch vor fünf Jahren wäre ein solcher Vorschlag, erst recht seine Verwirklichung, auf breite Ablehnung gestoßen.

Oder nehmen Sie den Palästinenserkonflikt: Die offizielle Position der israelischen Regierung heute ist die, den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf der Grundlage von zwei Staaten zu lösen. Das war noch vor wenigen Jahren eine Position, wie sie fast ausschließlich von radikal linken Kräften vertreten wurde. So ändern sich die Zeiten: Es geschehen manchmal Dinge, die man nicht erwartet hätte. Ich schreibe dies durchaus auch dem Einfluss von uns Historikern und politischen Journalisten zu.

Löst die von Ihnen und anderen Historikern auf den Weg gebrachte Demythologisierung Reaktionen auf Seiten des rechten politischen Spektrums, insbesondere religiös-fundamentalistischer Kräfte aus?

Natürlich, das ist absolut der Fall. Erst vor kurzem erschien ein Buch über 1967 in Israel und zugleich in den USA, das den alten Mythos wiederholt: Israel war in Gefahr und musste sich wehren. Insofern gibt es in Israel einen permanenten Historikerstreit.

Könnte dieser die Gesellschaft in eine Identitätskrise stoßen?

Der israelische Historikerstreit erzeugt diese Krise nicht, er bringt sie lediglich zum Ausdruck. Die Identitätskrise Israels rührt daher, dass sich bis heute keine israelische Identität ausgeprägt hat. Die Israelis wissen noch immer nicht, was sie eigentlich sein wollen. Wenn Sie in Israel in einem Autobus fahren, dann stellt sich Ihnen automatisch die Frage: Wieso gehören alle diese Leute eigentlich einem Volk an? Selbst die jüdischen Israelis sind von so verschiedener Herkunft, verschiedenen Mentalitäten, verschiedenen Kulturen. Und einer von fünf Israelis ist ein Araber. Das ist wieder eine ganz andere Identität. Darüber hinaus sind viele Israelis Nichtjuden, vor allem die aus Russland kamen. In Tel Aviv existiert ein ganzes Stadtviertel, in dem Afrikaner leben, die zumeist illegal eingereist sind, um bei uns zu arbeiten. Auch sie sind schon ein Teil der Israelis.

Israel weist so viele verschiedene Elemente auf, dass die Herausbildung einer klaren Identität wirklich schwer fällt. Auch alle diejenigen, die sich schon darauf geeinigt haben, dass sie Israelis sind, unterscheiden sich in ihrer persönlichen Einstellung. Manche sind religiös, andere säkular. Sogar in der Frage, was Judentum sei, gehen die Meinungen auseinander. Die Krise ist subtil.

Hauptbezugspunkt wäre wahrscheinlich die hebräische Sprache als Alltags- und Kultursprache. Aber viele Einwanderer leben in ihren eigenen Sprachen, was ihre israelische Identitätsfindung natürlich behindert.

Entstehen im Zuge der Entmythologisierung der israelischen Geschichte neue Mythen?

In der Tat entstehen immer wieder »Ersatzmythen«, die ebenso gefährlich sind wie die alten Mythen. Etwa wenn alles, was die Palästinenser tun, verteidigt wird, jeder Fehler, den sie jemals gegenüber Israel begingen, einfach geleugnet wird. Damit wird der politischen Aufklärung kein guter Dienst erwiesen. Zweifellos werden die Palästinenser von Israel unterdrückt und die Israelis haben sich an ihnen vieler Verbrechen schuldig gemacht. Aber wenn ein israelischer Historiker in einem Buch behauptet, die Entstehung Israels wäre auf der Grundlage einer ethnischen Säuberung erfolgt und dabei jeden palästinensischen, jeden arabischen Fehler geflissentlich übersieht, dann haben wir es mit einem neuen Mythos zu tun.

Wie gefangen sind die Politiker Israels in Mythen?

Die heutigen führenden Politiker Israels sind von ganz anderem Zuschnitt als die von 1967. Die damaligen Politiker dachten noch in geschichtlichen Dimensionen und waren sich bei allen Fehlern, die sie begingen, sehr wohl bewusst, dass sie im Dienst eines neuen Landes, einer neuen Nation und somit in einer historischen Mission tätig waren. Das heißt nun nicht, dass sie »unparteiisch« gewesen wären und »selbstlos« ihre Aufgaben erfüllt hätten. Gewiss nicht. Politiker sind eben Politiker und ähneln einander überall auf der Welt. Doch die heutige »politische Elite« Israels lässt keinerlei Vergleich mit den politischen Kräften von 1967 und davor zu. Typisch hierfür ist Ehud Olmert, der derzeitige Ministerpräsident. Er ist ein Mann von ausgeprägtem Zynismus, der rücksichtslos nur seine eigenen jeweiligen Interessen verfolgt und nicht das geringste Gespür für historische Verantwortung besitzt. Deshalb sind die Israelis heute auch so resigniert, weil Olmert gewissermaßen eine ganze Generation von Politikern dieses Typus verkörpert.

Welche Perspektiven hat Israel?

Das Land lebt in einer großen Krise, weil viele Israelis keine wirkliche politische Perspektive sehen. Daher rührt auch die zunehmende Abwanderung der Menschen aus Israel. Worauf es jetzt ankäme, wäre, die Situation in dem Sinne zu verbessern, dass das Leben erträglicher wird – und zwar für die Palästinenser wie für die Israelis. Um das zu erreichen, wird es unumgänglich sein, dass Israel mit den Vertretern der Hamas redet. Es sind Terroristen, natürlich, aber es sind die Feinde, die wir haben – mit ihnen müssen wir uns auseinandersetzen. Wir können sie nicht bekämpfen, weil man den Terrorismus nicht bekämpfen kann. Es gibt nur eine politische Lösung und deshalb muss Israel mit der Hamas reden. Wenn die Politiker Israels sich jedoch als außerstande erweisen, den israelisch-palästinensischen Konflikt einer Lösung zuzuführen, dann sollten andere, etwa die EU, Initiativen ergreifen, um durch Verhandlungen eine Veränderung der scheinbar aussichtslosen Lage herbeizuführen.

Der Eifer auf europäischer Seite ist aber nicht sehr groß.

Dazu kann ich nur sagen: Auch Europa hat eine Verantwortung. Zumindest erklärt es immer wieder, eine solche für den Nahen Osten zu haben. Schon humanitäre und finanzielle Leistungen an die Palästinenser sind hilfreich. Sie führen zwar nicht unmittelbar zum Frieden, können aber die prekäre Situation entspannen.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2007


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