'Sicherheitsmauer' als Sackgasse
Die Mauer legt das Ausmaß eines zukünftigen "palästinensischen Staates" fest.
Von Claudia Haydt (IMI, Tübingen)
Im Folgenden dokumentieren wir eine aktuelle Analyse aus der Informationsstelle Militarisierung e.V. Tübingen, die vor wenigen Tagen als IMI-Analyse 2003/033 erschien.
Ob sich die israelischen Armee nun aus der 45.000 Einwohner Stadt
Qalqilia in der West Bank zurückzieht oder nicht - für die
palästinensische Bevölkerung dieser Stadt macht es kaum einen
Unterschied: die israelische Armee ist im Stadtgebiet schon länger kaum
noch präsent. Sie musste dies auch nicht - die Kontrolle war und ist
dennoch effektiv. Rund um die Stadt Qalqilia zieht sich eine Mauer -
Teil einer gigantischen Befestigungsanlage, die bald alle
palästinensischen Gebiete umschließen soll. In der offiziellen
Terminologie der israelischen Regierung (die gelegentlich auch von US-
und EU-Repräsentanten und Medien übernommen wird) heißt das Bauwerk
euphemistisch "Sicherheitszaun".
Die High-Tech-Befestigungsanlage kostet ca. 1 Million Dollar je
Kilometer. Würde ihr Verlauf ungefähr der Waffenstillstandslinie von
1967 folgen, dann wäre die Mauer insgesamt ca. 350 km lang. Doch da sie
sich in wilden Kurven quer durch die West Bank schlängelt (um möglichst
viele Siedlungen und viel Land auf die "israelische Seite" zu bringen),
wird die Mauer wahrscheinlich bis zu 1000 km lang werden. Die Anlage ist
zwischen 60 und 150 Meter breit. Zu ihr gehören neben modernster
Überwachungstechnik, ein Graben mit vier Metern Tiefe, eine acht Meter
hohe Betonmauer, eine Panzerstraße und alle 200 Meter Überwachungstürme.
Ca. 150 km im Norden sind weitgehend fertiggestellt einschließlich 22km
um Jerusalem und trotz beginnendem internationalem Druck wird fieberhaft
weiter gebaut.
Die Mauer schränkt die Bewegungsfreiheit der palästinensischen
Bevölkerung massiv ein. In Qalqilia ermöglicht es nur eine einzige
Öffnung mit zwei Checkpoints, die Stadt zu verlassen oder zu betreten.
Auch nach der "Befreiung" der Stadt sollen die Kontrollen bleiben. Die
Bewohner sind faktisch Gefangene "bis die palästinensischen
Terrororganisationen zerschlagen sind." (Spiegel 17.8.2003). Diese
kollektive Bestrafung trifft die Einwohner Qalqilias hart - aber nicht
nur diese:
-
Die Mauer verläuft quer durch palästinensisches Gebiet teilweise viele
Kilometer entfernt von der Grenze von 1967 ("Grüne Linie"). Allein durch
den Bau des 1. Abschnitts der Anlage wurden ca. 3.500 Hektar Land
enteignet und dem Erdboden gleich gemacht. Dabei wurden Häuser,
Gewächshäuser und zehntausende von Bäumen zerstört. In dem Gebiet
zwischen Tulkarem, Jenin und Qalqilia werden mindestens 30 Quellen, 47
Brunnen und der Zugriff auf einen bedeutenden Teil des Grundwassers im
westlichen Aquifer verloren gehen. "Die Palästinenser verlieren also
nicht nur ein bzw. drei Viertel ihrer gegenwärtigen Nutzung aus dem
westlichen Aquifer. Sie verlieren zusätzlich die Aussicht auf eine weit
größere Menge, nämlich beinahe 100% des zu erschließenden Grundwassers."
(C. Messerschmid, inamo, Heft 34, 2003) Die Hydrologie im Bereich der
West Bank wird sich auch oberirdisch verändern. "Der Verlauf des
Oberflächenwassers wird sich ändern und Erosion und Sedimentation werden
zunehmen." (Earth First! 1/2003). An Aufrechterhaltung oder gar Ausbau
von Landwirtschaft ist unter solchen Bedingungen überhaupt nicht zu denken.
- Die Einwohner vieler Dörfer sind eingesperrt zwischen der Mauer, die
sie nicht überqueren können und der "Grünen Linie", die sie nicht
passieren dürfen. Damit sind die Enklaven westlich der Mauer von
Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser etc.) sowie ökonomischem und
sozialem Austausch weitgehend abgeschnitten. Diese prekäre
Lebenssituation erzeugt in der Konsequenz einen starken
Abwanderungsdruck. Wer für sich und seine Familie eine ökonomische
Zukunft oder Bildungsmöglichkeiten, ärztliche Versorgung, Schutz vor
Übergriffen usw. haben will, der wird früher oder später aus diesen
Regionen wegziehen. In der Kasbah von Hebron (vgl. B'tselem 8/2003) kann
man dieses Phänomen bereits beobachten: 42% der Bewohner und
Geschäftsbesitzer haben aufgrund der ständigen Repression durch Armee
und Grenzpolizei (hunderte Tage Ausgangssperre etc.) sowie Übergriffe
der Siedler ihr zuhause verlassen. Die Grenzanlage wird diesen "stillen
Transfer" durch unerträgliche Lebensbedingungen noch weiter beschleunigen.
- Neben der eigentlichen, "westlichen" Mauer entstehen auch im Osten von
palästinensischen Dörfern und Städten (z.B. Qalqilia, Tulkarem)
sogenannte sekundäre Barrieren. Dadurch entstehen Enklaven östlich der
Mauer, die die Menschen in prekäre Lebensverhältnisse zwingen. Die
Einwohner der ehemals reichen Stadt Qalqilia sind nun fast vollständig
auf Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen angewiesen,
das durchschnittliche Familieneinkommen ist von 1000 Dollar im Monat auf
beinahe 60 Dollar gesunken (Palestine Monitor 7/2003). Auch für die
palästinensischen Einwohner des Großraums Jerusalem spitzt sich die Lage
zu. Hier soll durch ein ganzes Netzwerk von inneren und äußeren
Befestigungen sowohl der israelische Anspruch auf ein Groß-Jerusalem
zementiert werden als auch die darin verbleibende palästinensische
Bevölkerung von den jüdischen Gebieten ferngehalten werden.
- Durch die Trennungsmauer verlieren viele palästinensische Bauern, die
östlich der Mauer wohnen, den Zugang zu ihrem Ackerland auf der
westlichen Seite. Besonders sensibel ist das Gebiet zwischen Qalqilia
und Tulkarem, hier werden 42% der Früchte und Gemüse in der West Bank
produziert (AFP 15.1.2003). Der Lebensstandard der Menschen in der
Region und die Versorgung mit Lebensmitteln wird in der Folge noch
schlechter werden als heute.
Sicherheit - das vorgebliche Ziel der Mauer - ist durch das zur Zeit
verfolgte Konzept nicht zu erreichen. Durch ihren gewundenen Verlauf ist
die Mauer militärisch kaum zu verteidigen. Ginge es um militärisch
effiziente Herstellung von "Sicherheit", dann wäre eine Grenzbefestigung
entlang der "grünen Linie" die deutlich sinnvollere, kürzere und
billigere Lösung.
Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon erklärte gegenüber der
internationalen Presse "Gute Zäune machen gute Nachbarn". Doch welche
Nachbarn akzeptieren einen Zaun, der ihnen große Teile des eigenen
Gebietes wegnimmt und besonders die fruchtbarsten und damit ökonomisch
wichtigen Gebiete? Wenn die Mauer die palästinensischen
Bevölkerungszentren lückenlos umschließt, dann könnte dies (vielleicht)
zu einer kurzfristigen Senkung von Attentaten führen - weil sie
organisatorisch schwieriger werden. Doch durch den geplanten Verlauf der
Mauer bleiben bedeutende Teile der "feindlichen Bevölkerung" auf der
israelischen Seite der Mauer.
Viel schwerwiegender ist aber, dass durch die Mauer im Gaza-Streifen und
in der West Bank insgesamt drei Millionen Menschen pauschal unter
Terrorismusverdacht gestellt und gewissermaßen vorbeugendend in Haft
genommen werden - dabei werden ihnen grundlegende Menschenrechte
systematisch vorenthalten. Das Recht auf Bewegungsfreiheit
(Menschenrechtsdeklaration Art 13/1) wird für die gesamte
palästinensische Bevölkerung eingeschränkt, besonders aber für die
Einwohner der oben beschriebenen Enklaven, in folge dessen sind das
Recht auf Arbeit und das Recht auf Besitz von Eigentum
(Menschenrechtsdeklaration Art. 17) betroffen. Die Liste ließe sich
beinahe beliebig fortsetzen - wichtig ist, dass all dies eine
Kollektivbestrafung darstellt. Kollektivbestrafung ist
völkerrechtswidrig (4. Genfer Menschenrechtskonvention, Art. 33).
Auf mittlere und längere Sicht wird die "Sicherheitsmauer" zum
"todsicheren" Rezept für die Entstehung von immer neuem Terror, denn
erlebte Ungerechtigkeit, Ausweglosigkeit und Frustration sind eine im
wahrsten Sinne des Wortes explosive Mischung. Prinzipiell lässt sich
Aussöhnung und Frieden nur durch Begegnung und Kooperation und nicht
durch Abschottung herstellen - man denke an die früheren "Erbfeinde"
Deutschland und Frankreich. Nur der Respekt vor der Menschlichkeit der
jeweils anderen ist ein sicherer Schutz vor Terror.
Durch die Trennungsmauer soll offensichtlich nicht in erster Linie
Sicherheit hergestellt werden - es geht vielmehr darum Fakten zu schaffen.
Die Mauer legt das Ausmaß eines zukünftigen "palästinensischen Staates"
fest. Dieser wird wahrscheinlich ca. 45% der West Bank umfassen und aus
einem Fleckenteppich von "Kantonen" und Enklaven bestehen, ohne Zugang
zueinander, ohne Ost-Jerusalem und ohne jegliche Chance auf eine
politisch und ökonomisch selbstbestimmte Zukunft. Dies ist der
palästinensische Staat von dem Scharon redet.
Außerdem wird durch den Verlauf der Mauer der israelische Anspruch auf
das Wasser des westlichen Aquifers zementiert. "Bereits Mitte der 90er
Jahre ... haben israelische Hydrologen "Maps of Water Interest"
gezeichnet, in denen die Gebiete, die nun hinter die Mauer fallen zu den
strategischen Interessenzonen Israels gezählt werden. In diesen Gebieten
sollte eine zukünftige palästinensische Erschließung unterbunden
werden." (inamo, Heft 34, 2003). Doch wie soll ein "Staat" der seinen
Bewohnern keine Freiheit und keine ökonomischen Entwicklungsperspektiven
bieten kann - zu einem Partner für den dringend benötigenden Frieden mit
Israel werden? Wer seinen Nachbarn jegliche Chance auf eine bessere
Zukunft nimmt, kann nicht erwarten, dass dies die Grundlage für
friedliche Koexistenz ist.
Der Oslo-Prozess scheiterte auch daran, dass sich die Weltöffentlichkeit
der Illusion eines kommenden Friedens hingab, während vor Ort durch die
Verdopplung des Siedlungsbaus sowohl auf der konkreten als auch auf der
symbolischen Ebene die Grundlagen für einen gerechten Ausgleich zerstört
wurden. Aus diesem Fehler hat das Nahost-Quartett (UNO, USA, EU,
Russland) gelernt. Die Forderung nach einem Siedlungsstopp steht in der
Road Map. Doch nun wird die Landnahme durch die Mauer fortgesetzt.
Und einen internationalen Aufschrei gegen die Mauer gibt es bis heute
nicht. US-Präsident George W. Bush erklärte zwar "Der Zaun(!) ist ein
Problem" und dachte laut über eine eventuellen Kürzung von
Kreditbürgschaften nach. Doch große Differenzen sind nicht zu erwarten:
Bush ließ seine Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice beteuern, dass der
"Zaun" die Bürgschaft nicht beeinträchtigen werde (Ha'aretz 6.8.03). Die
Europäische Union fasst ihre Kritik (wenn überhaupt) in so zaghafte
Worte, dass daraus keine Schlagzeilen und erst recht kein politischer
Druck entsteht.
Die einzigen, die wirklich konsequent auf die Problematik der Mauer
hinweisen sind Menschenrechts- (B'tselem) und Friedensorganisationen
(Gush-Shalom, Ta'ayush, International Solidarity Movement), die mit
gewaltfreien Aktionen zusammen mit den betroffenen Bewohner/inne/n den
Widerstand gegen die "Apartheidsmauer" organisieren. Doch je weiter die
Mauer fortschreitet, um so schwerer wird es auch sein, diese Form von
brückenbildendem Widerstand fortzusetzen. Deswegen ist verstärkter
internationaler Druck für einen Stopp des Mauerbaus dringend nötig -
ebenso wie die Solidarität mit den israelischen, palästinensischen und
internationalen Aktivist/inn/en, die durch ihren Protest die
sprichwörtlichen und die konkreten Mauern und Gräben überwinden.
Der Artikel von Claudia Haydt befindet sich auf der Homepage der Informationsstelle Militarisierung e.V. Tübingen: http://imi-online.de
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