Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Zweierlei Völkerrecht

Die ungleiche Behandlung der Israelis, der Libanesen und der Palästinenser ist nicht hinzunehmen

Von Jochen Hippler *

Noch vor wenigen Wochen hätte man solche deutlichen Worte von Michel Aoun nicht gehört. Der Christ, Führer der libanesischen Opposition und demnächst vielleicht Präsident des Landes, hatte Ende der achtziger Jahre zu einem "Befreiungskrieg gegen Syrien" aufgerufen. Heute verdammt auch er das, was er "eine Aggression Israels gegen den Libanon und einen Krieg gegen alle Libanesen" nennt. "Israel", sagt er, "hat sein wahres Gesicht entlarvt. Denn es ist das einzige Land, das internationale Entscheidungen nicht respektiert. Die Staatengemeinschaft hat durch den UN-Sicherheitsrat eine kleine Operation, bei der zwei israelische Soldaten gefangen genommen wurden, verurteilt und als Akt des Terrors qualifiziert. Als Israel die Libanesen bombardierte und Tausende von Zivilisten tötete, enttäuschte es uns, dass diese Handlungen nicht auch verurteilt worden sind. Niemand verurteilte den Einsatz von Streubomben und Schwefelbomben durch Israel. Israel hätte zumindest die Regeln des Kriegs und der Genfer Konvention respektieren müssen. Seine Armee zerstörte aber mit Unverhältnismäßigkeit unsere Infrastruktur und tötete Zivilisten."

Diese Sätze stammen wohl gemerkt nicht von einem islamistischen Agitator, sondern von einem gemäßigten Christen. Keine Frage - die beiden israelischen Soldaten zu entführen, war verwerflich und politisch dumm. Dennoch fällt es schwer, der Kritik Aouns zu widersprechen. Das Völkerrecht gilt für alle Akteure, auch für die europäischen Länder, für die USA und Israel. Doch zeigt ein jüngst publizierter Bericht von amnesty international, die israelische Kriegsführung im Libanon brach neben zahlreichen Menschenrechten auch das Völkerrecht. Nahezu jeder Supermarkt im südlichen Libanon wurde durch Luftangriffe zerstört, genauso wie die größte Molkerei des Landes und der Flughafen. Straßen voller Flüchtlinge gerieten ebenso unter Beschuss wie über 80 Brücken. Wie konnten diese Angriffe dazu dienen, zwei entführte Soldaten zu befreien oder Raketenangriffe zu stoppen? Das ist nicht nur erklärungsbedürftig - es ist zuallererst völkerrechtswidrig.

Hier haben die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung mit zweierlei Maß gemessen. Außenminister Steinmeier verlautbarte zu Beginn des Krieges, Israel stehe das Recht auf Selbstverteidigung zu. Das ist unbestreitbar, alle Staaten verfügen nach Artikel 51 der UNO-Charta über dieses Recht - doch vor dem Hintergrund der laufenden Kampfhandlungen musste Steinmeiers Aussage als versuchte Rechtfertigung erscheinen.

Auch US-Präsident Bush hatte seinerzeit den Irakkrieg in absurder Weise als "Selbstverteidigung" gerechtfertigt, obwohl er Beweise für eine geplante Aggression Saddams bis heute schuldig blieb. Fast zeitgleich mit der Entführung der beiden israelischen Soldaten wurden zwei deutsche Privatpersonen im Osten Nigerias gekidnappt. Hätte die Bundesrepublik in "Selbstverteidigung" die Infrastruktur und Wohnbezirke des westafrikanischen Landes zerstören dürfen? Ein solches Verhalten würde das Völkerrecht seines Rechtscharakters berauben und zu einer bloßen Waffe gegen politische Kontrahenten degradieren. Daran sollten wir uns nicht gewöhnen.

Wie steht es um die neue, internationale Friedenstruppe für den Libanon? Fraglos ist eine Blauhelmpräsenz dort sinnvoll und wünschenswert. Allerdings: Nicht jedes internationale Militärkontingent verdient den Namen Friedenstruppe. Denn eine solche muss - im Gegensatz zu Besatzungs- oder Interventionseinheiten - unparteilich sein, sie soll beide Konfliktparteien voreinander schützen. Ob die Einsatztruppe im Libanon dem gerecht wird, muss sich erst noch erweisen.

Ihre Mission ist kompliziert: Die Blauhelme müssen willens und gerüstet sein, Israel vor Angriffen aus dem Libanon zu schützen, etwa vor dem Beschuss durch Katjuscha-Raketen. Darüber hinaus wäre es wertvoll, wenn sie zur Entwaffnung der Hisbollah beitragen könnten. Dies wurde bekanntlich von der UN wie vom Libanon beschlossen. Es bleibt aber höchst unklar, wie die Friedenstruppe das erreichen kann, ohne selbst zu einer kriegführenden Partei zu werden.

Zur selben Zeit gilt es, mit gleichem Nachdruck dafür zu sorgen, dass auch die Libanesen vor israelischen Angriffen geschützt werden, am Boden, aus der Luft und von See - und zwar unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit. Der Libanon und seine Bevölkerung haben das gleiche Recht auf Sicherheit, territoriale Integrität und Unverletzlichkeit der Grenzen wie Israel und die Israelis. Das ist eine völkerrechtliche Selbstverständlichkeit, aber auch eine Voraussetzung, um einen stabilen Frieden in der Region zu schaffen. Er kann dauerhaft nur gelingen, wenn die Menschen aller Länder des Nahen Ostens in Sicherheit leben, sonst ist die nächste Runde der Gewalt nur eine Frage der Zeit. Um Israel dauerhafte Sicherheit zu verschaffen, müssen auch seine Nachbarstaaten stabil und unbedroht existieren können.

Bei alldem darf nicht übersehen werden: Es reicht nicht, den Frieden im Libanon zu schützen. Denn das Schicksal der Zedernrepublik ist an den Nahostkonflikt geknüpft. Er ist ein symbolisches wie reales Hindernis für eine umfassende Friedenslösung in der Region. Die ständigen Luftangriffe auf palästinensische Ziele, die wiederholten Bodenoffensiven, die gezielten Ermordungen und die Entführungen von gewählten Abgeordneten sowie Regierungsmitgliedern sind falsch und gießen weiteres Öl ins Feuer. Auch hier gilt: Das Existenzrecht Israels liefert keine Begründung, die Rechte anderer zu verletzen. Die internationale Gemeinschaft muss in diesen Fragen mit größerem Nachdruck und deutlicher Unparteilichkeit auftreten.

Eine mögliche Zweistaatenlösung droht an einem Klima der Gewalt zu scheitern. Deshalb bedarf es einer robusten internationalen Friedenstruppe nicht nur für den Libanon, sondern auch für die palästinensischen Autonomiegebiete.

* Aus: Freitag 37, 15. September 2006


Zurück zur Seite "Naher Osten"

Zur Libanon-Seite

Zur Israel-Seite

Zur Palästina-Seite

Zur Völkerrechts-Seite

Zurück zur Homepage