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Arafats letztes Kapitel?

Zur Geschichte und Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde

Von Reiner Bernstein

Notwendige Vorbemerkung

Wer sich kritisch zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) äußert, wird sich des Verdachts erwehren müssen, entweder ein Gegner des nationalen Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes zu sein und damit die inhärenten Schwächen der Führung Yasser Arafats überbewerten oder die israelische Propaganda bestätigen zu wollen. Deshalb will ich von vornherein zweierlei klären: Zum einen steht die palästinensische Politik natürlich weithin unter dem israelischen Diktat. Den Palästinensern wird nach wie vor das Recht auf nationale Souveränität verweigert. Doch zum anderen gibt es einen autonomen Bereich des politischen Lebens der Palästinenser in der Westbank (einschließlich Ost-Jerusalem) und des Gazastreifens. Diese Dynamik ist bestimmt durch die häufig kontrovers agierenden Fraktionen und Institutionen - von PA mit Arafat selbst, vom Legislativrat ("Palestinian Legislative Council [PLC]"), von "Fatah" ("Bewegung zur Befreiung Palästinas") mit seinen "Al-Aqza-Brigaden", vom "Tanzim" ("Organisation") sowie von "Hamas" ("Bewegung des islamischen Widerstandes") und "Islamischem Djihad". Jüngst hat sich dieses politische Eigenleben in einem Nervenkrieg zwischen Arafat und Abu Mazen (Mahmud Abbas) geäußert.

Zu der Dimension der innerpalästinensischen Willensbildung will ich mich vorrangig äußern, zumal da sie in unseren Betrachtungen wenig Aufmerksamkeit findet oder lediglich als Reaktion auf die israelische Politik verstanden wird. Damit werden die Palästinenser jedoch ausschließlich als bedauernswerte Opfer wahrgenommen. Diese Sichtweise ist insofern bedenklich, als wir ihnen damit die Rolle als historische Subjekte ohne eigenständige politische Würde absprechen. Wer seine Kritik lediglich auf die Zahl der palästinensischen Toten und Verletzten sowie auf die Zerstörungen richtet, die die israelische Armee verursacht, muss sich zwischen zwei Optionen entscheiden: Entweder man glaubt an das Recht der Palästinenser auf einen nationalen Befreiungskampf, der notwendigerweise Opfer fordert, oder man beklagt sich über dessen unerträglich erscheinende Schäden.

"Oslo ist fast zu einem schmutzigen Wort geworden"

So wie die PLO vom Ausbruch der ersten "Intifada" (Dezember 1987) überrascht wurde, so verlegen machte sie der Beginn der zweiten "Intifada". Denn sie ging nicht allein auf eine Initiative Arafats zurück, der damit sein Versagen in Camp David kaschieren wollte, wie Ehud Barak behauptete, noch reicht die Erklärung des provokativen Besuchs Ariel Sharons auf dem Tempelberg am 28. September 2000 aus. Vielmehr war der Aufruhr auch das Ergebnis zweier Wahrnehmungen. Mit der Thematisierung der inneren Reformunfähigkeit der Autonomiebehörde und der PLO, ihres erschütterten internationalen Prestiges und ihres innerarabisch angeschlagenen Renommees wurde die Alleinherrschaft Arafats zum zweiten Mal nach dem erzwungenen Auszug aus Beirut 1982 und der Niederlassung in Tunis auf die politische Tagesordnung gesetzt:
  1. Der von Israel definierte politische Friedensprozess war im Sommer 2000 endgültig zusammengebrochen und wurde als Fortsetzung der kolonialen Enteignung des palästinensischen Volkes verstanden. Die Geheimdiplomatie Arafats, die in der Unterzeichnung der Prinzipienerklärung (September 1993) mündete, hatte keine politische Dividende erbracht.
  2. Der wachsende Ärger über den unberechenbaren und autoritären Führungsstil Arafats in Kombination mit despotischer Selbstgefälligkeit ließ sich trotz des Aufgebotes aller rhetorischen Mittel und taktischen Finessen nicht länger verbergen. Die Konzentration der politischen Macht auf seine Person und seine engste Umgebung sowie die Geringschätzung gewählter Institutionen veranlasste die jüngere "Fatah"-Garde, den Widerstand gegen die Besatzung selbst zu organisieren, um die eigene politische Zukunft zu sichern.
Dass Arafats Verhalten einem Politiker wie Shimon Peres "mitunter rätselhaft" erschien, war noch zu erklären. Gleiches mochte für den bekennenden Sympathisanten der Palästinenser, den UN-Gesandten Terje Larsen, gelten, nach dessen Worten Arafat ein "irrationaler Lügner" sei, der nach seinen Instinkten handelt und ohne strategische Planungen improvisiere. Doch auch Palästinenser wunderten sich, ob er überhaupt eine politische Strategie besitze. Deshalb trat Arafat die Flucht nach vorn an. Aber mit der "Al-Aqza-Intifada" trat die Erosion der politischen Loyalität ihm gegenüber in ihre letzte Phase ein.

Diese hatte sich seit dem "Gaza-Jericho-Abkommen" Anfang Mai 1994 abgezeichnet. Als die "Tunesier" (Tawansah) damals in Gaza-Stadt eintrafen, repräsentierten sie weder die neue Generation, die in der Besatzungszeit sozialisiert worden war, noch verfügten sie über konkrete Kenntnisse und Erfahrungen der Okkupationsbedingungen. Ja, sie baten die israelischen Verhandlungspartner darum, ihre Truppen aus dem Gazastreifen nicht schon bei Unterzeichnung des Dokumentes, sondern erst nach ihrem Eintreffen selbst zurückzuziehen - sie befürchteten einen von der palästinensischen Bevölkerung getragenen Mechanismus, der ihr politisches Alleinvertretungsrecht beeinträchtigen würde.

So war die Diskrepanz zwischen den Erwartungen und den Ansprüchen auf beiden Seiten frühzeitig offenkundig geworden. Nachdem Tausende Palästinenser in den "Volksschulen" der israelischen Gefängnisse und Lager eigene Erfahrungen gesammelt hatten, begegneten sie den bürokratisch-revolutionären Attitüden der vom Exil geprägten Führung, die 2300 Personen in der tunesischen Hauptstadt beschäftigt hatte und symbolische Militäreinheiten in Jemen, Algerien, Libyen, Libanon, Ägypten, Irak und Jordanien unterhielt, mit dem unüberhörbaren Vorwurf, dass sie wie "fette Katzen" lebten und die einheimische politische Führung verdrängen wollten, die die Verantwortungslast der ersten "Intifada" getragen hatte. Israels Besatzung hatte zwar die palästinensische Gemeinschaft sozial verwüstet, aber gleichzeitig war in der Westbank und im Gazastreifen ein neues politisches Selbstbewusstsein entstanden, das sich nur mühsam den Vorgaben und Anordnungen Arafats fügen wollte.

Hatte Arafat bis zum Gipfeltreffen von Camp David im Sommer 2000 eine Art Doppelstrategie betrieben, auf Verhandlungen zu setzen und gleichzeitig den "bewaffneten Kampf" offen oder stillschweigend zu unterstützen, so verlor er seit dem Herbst beide Optionen: Er wurde von der israelischen Regierung als "Partner" abgelehnt und verlor die Kontrolle über die militanten Aktivisten in den eigenen Reihen. Wenn "Fatah" in ihrer Botschaft an die Sozialistische Internationale im November 2000 verkündete, dass die "Straße" genauso wenig gestoppt werden könne, wie der Aufruhr geplant worden sei, so verbarg sich hinter dieser Aussage das erste Eingeständnis der Machtlosigkeit. Edward Said schrieb damals:
"Ich vermute, dass ein Teil der neuen palästinensischen Intifada gegen Arafat gerichtet ist, der sein Land mit falschen Versprechungen in die Irre geführt hat und sich hinter einer Batterie korrupter Beamter verschanzt, die kommerzielle Monopole kontrollieren, obwohl ihre Verhandlungen im Namen Arafats von Inkompetenz und Schwäche künden. Sechzig Prozent der öffentlichen Ausgaben fließen in die Bürokratie und das Sicherheitssystem, und nur zwei Prozent werden für die Infrastruktur ausgegeben. Vor drei Jahren gestanden sogar Arafats Rechnungsprüfer ein, dass vierhundert Millionen Dollar der jährlichen Finanzmittel einfach verschwunden waren. Arafats internationale Gönner dulden all dies im Namen des sogenannten ›Friedensprozesses‹, jener Phrase also, die heute sicherlich zu den meistgehassten Ausdrücken des palästinensischen Wortschatzes gehört."

Nur die Angehörigen der Sicherheitsdienste konnten auf die pünktliche Auszahlung ihrer Bezüge hoffen. Im PLC-Auftrag vorgelegte Rechnungsprüfungsberichte bescheinigten Arafats Kabinett gravierende Unregelmäßigkeiten, Verschwendung und Nepotismus. Der größten NGO in den besetzten Gebieten, der "Palestinian Society for the Protection of Human Rights and the Environment (LAW)", der zwischen September 1997 und August 2002 rund zehn Millionen US-Dollar zugeflossen waren, hielten schwedische Rechnungsprüfer vor, etwa vier Millionen US-Dollar veruntreut zu haben, davon seien zwei Millionen auf geheime Bankkonten in Israel geflossen. Der LAW-Vorsitzende sah sich zwar zum Rücktritt veranlasst, was ihn nach Presseberichten nicht daran hindere, eine politische Karriere anzustreben.

Weder die Prinzipienerklärung noch die Interimsvereinbarung ("Oslo I + II") hatten dem palästinensischen Recht nicht zum Durchbruch verholfen. Der Zorn über das Scheitern setzte sich in der Enttäuschung des "Tanzim" über die "tunesischen Importe" fort. Ein früher Disput entspann sich um die Teilnahme von Kindern am Aufstand. So rechtfertigte der Präsident des "Jordan Institute for Diplomacy" bei einer Konferenz im April 2001 ihren zivilen Ungehorsam mit der "brutalen und nackten Gewalt der israelischen Armee" und vertrat auf die Frage, ob es angehe, die Kinder zu tadeln, den Standpunkt: "Wir sollten nicht die Symptome, sondern die Ursachen analysieren." Dagegen trug ein Angehöriger der Bir-Zeit-Universität die Ergebnisse einer Studie über den Zusammenhang von Trauma und psychologischen Problemen vor und wies darauf hin, dass es in der arabischen Kultur ein unanfechtbares Konzept der Männlichkeit im Zentrum des sozialen Spektrums gebe: "Kinder wollen Männer sein und deshalb tragen sie Waffen." Zu den bevorzugten Spielen gehöre das "Märtyrerspiel". Der Sozialpsychologe leitete daraus die Verpflichtung ab, die Kinder von militärisch-politischen Handlungen abzuschirmen.

Anderthalb Jahre später erreichten die Strömungskonflikte die politische Führungsebenen. In einer Rede vor den "Volkskomitees" der Flüchtlingslager im Gazastreifen warf Abu Mazen die Frage auf, welche Ziele die "Intifada" erreicht und welche Konsequenzen ihre Aktionen nach sich gezogen hätten. Der Sekretär des PLO-Exekutivausschusses kam zu der vernichtenden Einsicht, dass der bewaffnete Aufstand Ariel Sharon die Chance eingeräumt habe, seine "Aggression" fortzusetzen. Mehr noch: Aus seiner Forderung zur Auflösung der "Al-Aqza-Brigaden" leitete er den Appell zu einer international ausgreifenden Sympathiekampagne ab:
"Lasst uns der Welt sagen, dass wir gemordet und zerstört haben und dass dies ein Verbrechen ist, das beendet werden muss, weil wir Frieden wollen. Jeder, der an den Frieden glaubt, würde dann auf unserer Seite stehen. Wir müssen sehen, dass die ganze Welt jetzt nach einem palästinensischen Staat ruft, was bisher nicht vorgekommen ist. In Ergänzung zu [der Forderung nach] dem Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten ist dieses Verlangen zu einem beständigen Axiom der internationalen Gemeinschaft geworden."

Selbst wenn man solche Hoffnungen als realitätsfern beurteilt, so legte das Eingeständnis von selbstgestellten "Fallen" und "Fehlern" doch die Illusion Arafats und des "Tanzim" bloß, dass die gewaltige Militärmaschinerie Israels in die Knie gezwungen werden könne. Dass die Selbstkritik von einem Angehörigen der "alten Garde" kam, zeigte darüber hinaus, dass es den jungen Militanten nicht gelungen war, jenseits des bewaffneten Kampfes eine politische Alternative zu anzubieten. Über dieses Versäumnis konnte auch der Beitrag des "Tanzim"-Führers Marwan Barghouti in der "Washington Post" nicht hinwegtäuschen, in dem er "eine friedliche Koexistenz zwischen zwei gleichberechtigten und friedlichen Staaten auf der Grundlage der 67er Grenzen" verlangte. Damit wiederholte er lediglich alte Vorstellungen, die nachgewiesenermaßen ergebnislos geblieben waren.

Das Vorbild der "Partei Gottes" ("Hisbollah"), deren Übergriffe auf israelisches Militär und Ortschaften in Ober-Galiläa Ehud Barak im Mai 2000 zur Räumung des Süd-Libanons veranlasst hatten, erwies sich als bedeutungslose Phrase. Statt dessen wurde das Vertrauensvakuum, das die Autonomiebehörde hinterließ, seit 1995 allmählich von "Hamas" aufgefangen, deren Leitung am überzeugendsten politische und religiöse Vorstellungen miteinander verband. "Unser Ziel ist die Errichtung eines panislamischen Staates, wie er noch vor einhundert Jahren [im Osmanischen Reich] bestand", erklärte der Sprecher von "Hamas" und ihr führender ideologischer Kopf im Gazastreifen, Mahmud Zahar. Der israelischen Politik, die mit der jederzeit drohenden Verhängung des Ausnahmezustandes über die palästinensischen Gebiete ihren unumschränkten Souveränitätsanspruch untermauerte, setzte "Hamas" das Axiom der territorialen Integrität im "Haus des Islam" gegenüber. Solange die eine Seite lediglich den Status eines "Volkes der Schutzbefohlenen" ("ahl dhimma") gemäß dem osmanischen "Millet"-System anbietet, während die andere Seite darauf besteht, dass kein Araber dem Lande einen charakteristischen Stempel aufgedrückt habe und es hier deshalb bestenfalls ein arabisches Wohnlager gebe, trotzen beide Ansätze einem nachhaltigen Interessenausgleich.

Die Renaissance des Religiösen überlagerte das Denken in politischen Kategorien. Für einen ehemaligen Bürgermeister von Gaza hatten die Menschen alle Hoffnungen begraben und schwenkten deshalb auf einen religiösen Fundamentalismus ein. Die "Al-Aqsa-Intifada" legte endgültig die tektonischen Verschiebungen offen, wonach große Teile keineswegs so säkular sind, wie bisweilen angenommen worden war. Dieses Phänomen beobachtete der französische Orientalist Olivier Roy für den gesamten Mittleren Osten: Der anfängliche Kampf der islamistischen Bewegungen für eine supranationale Gesellschaft sei in eine Art "Islamo-Nationalismus" übergegangen. Selbst der säkulare Irak wird nach dem Sturz Saddam Husseins davon nicht verschont. "Wir wurden die Opfer der irrigen Auffassung", bemerkte selbstkritisch der in Damaskus lehrende Philosoph Sadik al-Azm,
"dass die Geschichte bereits alle Fragen, die die arabische Renaissancebewegung (nahda) aufwarf, zugunsten des Fortschritts, einer echten Modernisierung, einer modernen Wissenschaft, des Säkularismus, des Sozialismus und der nationalen Befreiung entschieden hat."

Für "Hamas" ging es nicht mehr allein um die Zerstörung des Staates Israel, sondern im letzten Stadium auch um die Eliminierung säkularer Regimes wie jenem der Autonomiebehörde. Immer stärker sprang Arafats Bemühen ins Auge, islamische Motive in seine Äußerungen zu integrieren. Auch galten taktische Bündnisabsprachen und Aufrufe zu Protestgebeten als probate Mittel, die klerikalen Kräfte einzubinden. Vorläufig unbeantwortet blieb das Problem, unter welchen Bedingungen die Regierenden die religiöse Symbolik aus Gründen der Opportunität nutzen beziehungsweise wann diese eine Eigendynamik zur Beseitigung des politischen Systems entwickelt. Bei seinem Lavieren zwischen den Fronten scheute Arafat nicht einmal davor zurück, jedem arabischen Staat die Legitimität abzusprechen, wenn er nicht dem Islam folge. Die Konsequenz daraus spiegelt sich in den Verfassungsentwürfen wider, in denen der Islam als Staatsreligion und die "Sharia" als Hauptquelle der Gesetzgebung bezeichnet werden. Indem sich das politische Denken auf religiöse Kategorien einpendelte, wurde der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht nur als Rivalität zweier territorialer Souveränitätsansprüche, sondern auch als Widerstreit zweier Zivilisationen interpretiert - und damit antagonistisch.

Das System Arafat

Auch wenn sie selbst an der Erfüllung des nationalen Selbstbestimmungsrechts zweifelten, setzten palästinensische Repräsentanten als Kontrapunkt zur politischen Resignation auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Sie sei zwar noch keine Demokratie, aber sie könne doch als ein unverzichtbares Werkzeug auf dem Weg dorthin dienen. So plädierte der palästinensische Verhandlungsführer seit der Madrider Friedenskonferenz 1991 Haydar Abd' al-Shafi dafür, das palästinensische Haus unabhängig vom Ende der Okkupation in Ordnung zu bringen und sich damit von illusionären Zielvorstellungen zu befreien. Zugleich warnte er vor der Annahme, dass die Vereinten Nationen und die Europäische Union ihre Passivität zugunsten der Palästinenser aufgeben würden. Auch für die damalige Sprecherin der Verhandlungsdelegation Hanan Ashrawi begann der Prozess des staatlichen Aufbaus ("nation-building") mit der Verwirklichung demokratischer Ideen, wobei ihr besonderes Interesse der Achtung individueller Rechte galt. Intellektuelle und Angehörige der politischen Führung wie Faisal Husseini (Jerusalem) hatten sich früher sogar einen eigenen Staat als Übergangsetappe für einen Flügelschlag der Geschichte - weniger als zehn Jahre - oder ein konföderatives Modell vorstellen können, die nötig seien, "um frische Luft zu atmen nach so vielen Jahren der Unterdrückung"; später könne ein Kantonalsystem nach Schweizer Muster als erster Schritt zur regionalen Zusammenarbeit zum Zuge kommen. Erst kurz vor seinem Tode konnte sich Husseini nicht länger der politischen Verzweiflung erwehren und beschwor die Befreiung des historischen Palästina in allen seinen Teilen, selbst wenn seine Erfüllung noch tausend Jahre auf sich warten lasse.

Dennoch blieb die Vorstellung einer gemeinsamen israelisch-palästinensischen Zukunft ein Topos in politischen Debatten. Denn ähnlich weitreichenden Konzepten, denen natürlich das Minimum der vollen Parität zugrunde lag, hatte sich der heutige Präsident der Al-Quds-Universität Sari Nusseibeh verpflichtet gefühlt, als er die Integration der besetzten Gebiete in das Staatsgebiet Israels auf der Grundlage gleicher politischer Rechte empfahl: Intellektuelle wie er hätten nicht für einen weiteren, sondern für einen demokratischen Staat in der Region gekämpft, in dem die Palästinenser in Würde leben könnten. In die gleiche Richtung argumentierte der Historiker Nazmi al-Jubeh, der sich auf "eine kleine Gruppe von palästinensischen Akademikern und Intellektuellen" berief, "die seit einigen Monaten für einen binationalen Staat eintreten".

Im Spätsommer 1998 schrieb Edward Said, es gebe keinen Grund, warum das Prinzip der Rechtsgleichheit von Palästinensern und Israelis nicht auch in den besetzten Gebieten Anwendung finden solle, und verband seinen Ansatz mit einer scharfen Kritik an den politischen Fehlschlägen, den Menschenrechtsverletzungen, der militärischen Unfähigkeit und am Niedergang der geistigen Produktivität, die in der modernen arabischen Geschichte einzigartig seien. Auch Sadik al-Azm hielt einen unabhängigen palästinensischen Staat nicht länger für eine lebensfähige historische Option. Selbst auf dem Höhepunkt der israelischen Wiederbesetzung der Westbank seit März 2002 bezeichnete der greise Abd' al-Shafi einen gemeinsamen demokratischen Staat als die beste Möglichkeit. Alle diese Stimmen erkannten damit zweierlei an: Zum einen gehörte für sie die Zwei-Staaten-Regelung in das Reich vergangener Hoffnungen, und zum anderen verwahrten sie sich gegen Arafats Staatsobsession, die alle anderen politisch-gesellschaftlichen Aufgaben vernachlässigte, wenn nicht gar unterpflügte.

Insgesamt gesehen verteidigen jedoch nur wenige Intellektuelle die Bedeutung einer offenen demokratischen Gesellschaft gegenüber dem Kampf um die Anerkennung der nationalen Legitimität, zumal d öffentliche Debatten über das Ziel und die Zweckmäßigkeit blutiger Konfrontationen massiv unterdrückt wurden. Dennoch legten im November 1999 zwanzig Mitglieder des Legislativrates sowie Intellektuelle, Lehrer, Journalisten und Angehörige freier Berufe - darunter einige "Fatah"-Angehörige und der bei einem Terroranschlag des "Jüdischen Untergrunds" Mitte der achtziger Jahre schwer verletzte Bürgermeister von Nablus, Bassam Shaka'a - ein Manifest "Das Vaterland ruft uns" vor. In ihm verurteilten sie pflichtschuldig die Fortdauer der Bodenenteignungen und der Siedlungspolitik, beschuldigten aber gleichzeitig die Autonomiebehörde der Korruption, der Täuschung und des Despotismus. Daraufhin setzten Arafats Sympathisanten im PLC eine Resolution durch, in der die Verfasser scharf getadelt und "des Aufruhrs, der Verleumdung, der Diffamierung und der Beleidigung" beschuldigt wurden; ein Ausschuss sollte fortan Meinungsäußerungen der Abgeordneten bewerten. Darüber hinaus wurde den Unterzeichnern nach dem bewährten Muster der Verschwörungstheorie eine politische Fernsteuerung unterstellt - interessanterweise aus Damaskus. Einige "Aufrührer" wurden von Arafats Geheim- und Sicherheitsdiensten festgenommen, unter Hausarrest gestellt und misshandelt. Nicht einmal der Umweltminister blieb vor solchen Zugriffen verschont.

Doch diesmal ließ sich die Opposition nicht zum Schweigen bringen: In einem zweiten Anlauf Ende Februar 2000 wiesen die Unterzeichner die ständigen Proklamationen nationaler Souveränität als Manöver zurück, solange sie zu Lasten des Rechts gehe. Darüber hinaus distanzierten sie sich von Arafats Vorstellung, dass "der Weg nach Palästina" über Amerika führe. Ein weiterer Aufruf von Intellektuellen, zu denen Persönlichkeiten wie Hanan Ashrawi, George Abed (Washington, D.C.) Camille Mansour, George Giacaman (beide Bir Zeit), Hisham Sharabi und Samih Farsoun (beide Washington, D.C.) gehörten, befürchteten wenig später, dass die gegenwärtige Situation die Saat eines künftigen Krieges in sich trage. Der als intellektuell unbestechlich geltende Journalist Danny Rubinstein kam nicht umhin, Arafats Qualitäten als Führungsgestalt und politischer Praktiker als erbärmlich zu bezeichnen.

Dass palästinensische Plädoyers dennoch keine stärkere Wirkung entfalteten, lag in der politischen Konstruktion der Autonomie sowie in den fehlenden institutionellen und personellen Alternativen begründet. Von Arafat konnte keine Stärkung unabhängiger Kräfte erwartet werden, weil ihm an der Kontrolle gesellschaftlicher Eigenkräfte mehr als an einer selbstkritischen Bestandsaufnahme gelegen war. Die Geltung des Volkes als Souverän - der "Sockel der Demokratie" (al-Shafi) -, die Schaffung eines Mehrparteiensystems, eine kraftvolle Legislative, eine unabhängige Rechtsprechung, die Harmonisierung ottomanischer, britischer, jordanischer und ägyptischer Kodizes sowie eine effektive Aufsicht über die Sicherheitsdienste wurden hintangestellt. Da sich auch die Opposition gegen Arafats Regime nach Lage der Dinge nicht gänzlich von der These befreien konnte, wonach allein die israelische Politik für die palästinensische Misere verantwortlich sei, wurde ihr Kritikern, denen solche Rücksichtnahmen fremd waren, politisches Versagen, historische Pflichtvergessenheit und triviales Verhalten vorgeworfen. Insofern glich ihr Unvermögen, sich nachdrücklich Gehör zu verschaffen, der Schwäche des israelischen Friedenslagers.

Dabei hatte der 88 Personen umfassende PLC - davon 37 aus dem Gazastreifen, 44 aus der Westbank und sieben aus Ost-Jerusalem -, seine Arbeit in einer post-euphorischen Atmosphäre begonnen, auch wenn sich keine Parteien zur Entscheidung stellten, sondern die in der PLO vertretenen nationalen Formationen sowie Technokraten und auf lokale Klientele zurückgreifende Einzelkandidaten. Zur Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Vertretung hatte die Wahl von ausgesprochenen "Oslo"-Kritikern wie al-Shafi und Ashrawi eindrucksvoll beigetragen. Selbst Sympathisanten von "Hamas" beteiligten sich trotz einer Empfehlung zum Boykott zu 60 bis 70 Prozent an der Stimmabgabe. Während der PLC aufgrund seiner politischen Marginalisierung zur Festigung des Autonomieapparates von Arafats Gnaden beitrug, vermittelte er im Ausland den Anschein eines normalen parlamentarischen Betriebs.

Auch unter den Bedingungen der zweiten "Intifada" ließen sich kritische Beobachter nicht davon abbringen, außer dem Ende der israelischen Okkupation die Demokratisierung des politischen Willensbildungsprozesses zu fordern. Jene Stimmen wurden lauter, die öffentlich für einen Führungswechsel plädierten und die Erneuerung der politischen Institutionen anmahnten. Nur auf diese Weise lasse sich der nationale Befreiungskampf erfolgreich bestehen. Nach Auffassung von Hanan Ashrawi müssten die politischen Reformen allerdings von den Palästinensern selbst in Gang gesetzt werden, fremde Interventionen würden dem Prozess der Umgestaltung nicht helfen:
"Neuwahlen für das Amt des Präsidenten, den Legislativ- und die Stadträte müssen sofort stattfinden und setzen die Registrierung von mehr als einer Million Wähler voraus. Alle Formen des Missmanagements, des Missbrauchs amtlicher Autorität und der Verschwendung öffentlicher Mittel müssen ausgerottet werden. Das aufgeblähte Kabinett muss gestutzt werden, damit es effizient und verlässlich arbeitet. Die Beschränkung der Amtszeit auf vier Jahre muss für Sicherheitsbeamte eingeführt werden. Gleichheit vor dem Gesetz und eine klare Trennung der Gewalten sind zu gewährleisten."

Doch mit Arafats neuem "Kabinett" Ende Oktober 2002 wurde "eine nutzlose Regierung durch eine zweite nutzlose Regierung ersetzt". Der Präsident des Obersten Gerichtshofs in Gaza kritisierte den geringen Respekt der Autonomiebehörde vor dem Gesetz und die mangelnde Unabhängigkeit der Rechtspflege. Justizminister Freij Abu Medein - der einzige Jurist in der palästinensischen Delegation bei den Osloer Verhandlungen - musste im Sommer 1999 einräumen, dass sich die Justiz in einem katastrophalen Zustand befinde. Dieses Eingeständnis hinderte den Minister jedoch nicht, trotz scharfer Proteste aus dem In- und Ausland im Januar 2001 die von Arafat bestätigte Exekution von zwei Palästinensern zu verteidigen, die ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren wegen angeblicher Kollaboration mit Israel hingerichtet wurden. Der Mangel eines geschlossenen Rechtssystems war auch im Medienbereich auffällig, obwohl die Autonomiebehörde schon im Juni 1995 ein Gesetz erlassen hatte, das die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung garantieren sollte. Statt dessen wurde die Berichterstattung über die Arbeit des Parlaments an Auflagen gekoppelt, die eine Missachtung von Grundsätzen der Berufsmoral begünstigten. Um Unabhängigkeit bemühten Journalisten wurde vorgehalten, die "nationale Einheit" zu gefährden, manche sollten im Gefängnis über ihr Tun nachdenken. Die Einschüchterungsmethoden, wonach die journalistische Arbeit den Prinzipien der Objektivität, der Tadellosigkeit und der Ausgewogenheit zu folgen habe, förderten die Flucht in die Selbstzensur.

Die Verletzung solcher Rechte ließ sich schwerlich durch den Hinweis rechtfertigen, dass Palästina nicht zu den anerkannten Signatarstaaten internationaler Konventionen gehöre oder dass die Autonomiebehörde unter dem Druck Israels wenig Handlungschancen habe. Denn palästinensische Delegationen ließen es sich nicht nehmen, auf internationalen Kongressen israelische Schikanen zu kritisieren. Auch die Unterscheidung zwischen der Verletzung von Menschenrechten, die auf das Konto der israelischen Behörden ging, und von Bürgerrechten durch die Autonomiebehörde überzeugte nicht. Wie könne man von Israel glaubwürdig das Ende von Polizeiterror und Folter verlangen, wurde gefragt, wenn die Behörden mit dem eigenen Volk so umgingen? Wer einen Staat aufbauen wolle, brauche Bürger und keine Sklaven.

Die arabischen Regierungen nahmen von Ermahnungen Abstand, weil sie befürchten mussten, sich vor der eigenen Öffentlichkeit der Lächerlichkeit preiszugeben. Hätten sie gegen Arafats Praktiken nachdrücklichen Protest eingelegt, wären sie zum Nachweis genötigt gewesen, unzweideutige Belege für die Wahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land zu liefern. Dass ausgerechnet Staaten wie Afghanistan, Pakistan und Saudi-Arabien Anfang 1999 eine Resolution in die UN-Vollversammlung unterstützten, in der Israel zur Achtung der allgemeinen Menschenrechte aufgefordert wurde, sprach nicht für die Seriosität ihres Anliegens.

Das Verhältnis zwischen der PLO und der Autonomiebehörde blieb ungeklärt. Die Konkurrenz unter den Instanzen, die an Beratungen beteiligt sein oder zumindest gehört werden wollten, lud zu periodischen Konflikten ein und stärkte die Dominanz Arafats. Das Kabinett traf sich nur selten und dann gemeinsam mit Mitgliedern des Exekutivkomitees der PLO, ihre "Minister" traten im Namen der durch Wahlen in den Gebieten nicht legitimierten PLO auf, die sich jedoch weiterhin als die einzig legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes verstand. Damit entfernten sich die Sprecher der revolutionären Bewegung noch weiter von der Gesellschaft. Bis hin zur Bestimmung seines "Bruders Abu Mazen" als Nachfolger im Amt wollte sich der "Präsident" die letzte Entscheidungsgewalt vorbehalten, obwohl das Wahlgesetz eindeutige Verfahrensregeln vorgab, bis er sich dessen Ernennung mit allen taktischen Mitteln zu widersetzen suchte. Bei einer Umfrage zwischen dem 14. und 22. November 2002 versagten 51 Prozent der palästinensischen Führung ihr Vertrauen.

Den ersten Entwurf der Vorläufigen Verfassung hatte der Legislativrat schon Ende 1993 der Autonomiebehörde vorgelegt. Er basierte auf der symbolischen Proklamation des Staates Palästina im November 1988 und auf der Prinzipienerklärung, deren Präambel die "legitimen und politischen Rechte" auswies. Nach mehrfachen Beratungsrunden mit Politologen, Verfassungsjuristen, Wirtschaftsfachleuten und Religionsführern wurde ein zweiter Verfassungsentwurf im Februar 1994 verabschiedet, die letzte Lesung des dritten Entwurfs erfolgte Anfang Oktober 1997. Die 112 Artikel sollten eine Vollverfassung nicht ersetzen, sondern den Bedingungen der politischen Übergangsphase Rechnung tragen. Ausdrücklich wurden in der Präambel die Ansprüche auf die historischen Rechte des palästinensischen Volkes betont, darunter die Rückkehr der Flüchtlinge - lange ein vernachlässigtes Problem, weil am bewaffneten Kampf mit dem Ziel der Vernichtung Israels festgehalten worden war -, die nationale Selbstbestimmung sowie die Etablierung des palästinensischen Staates mit der Hauptstadt Jerusalem. Die PLO wurde als einzige legitime Vertreterin des arabisch-palästinensischen Volkes bestätigt.

Der 33 Artikel umfassende Grundrechtskatalog bezeichnete Palästina als "Teil des großen arabischen Vaterlandes" und sein Volk als "Teil der arabischen Nation" (Art. 1). Drei Artikel weiter wurde der Islam als offizielle Religion in Palästina proklamiert: Die "Prinzipien der Sharia sind eine grundlegende Quelle der Gesetzgebung" - eine Vorkehrung, die in Erinnerung an den säkularen Nationalismus der PLO als "rückschrittlich und schädlich" bezeichnet wurde (Elias H. Tuma). Weitere Bestimmungen wiesen das künftige Palästina als plurale und parlamentarische Demokratie aus (Art. 5), in der Grundrechte und -freiheiten anzuerkennen und zu respektieren seien (Art. 10). Ausdrücklich wurden Folter sowie unmenschliche und demütigende Bestrafungsmethoden verboten (Art. 13) sowie die Sicherheit der häuslichen Sphäre gewährleistet (Art. 17). Die Prinzipien der freien Wirtschaft seien zu beachten (Art. 21), jeder Palästinenser habe das Recht auf Teilnahme am politischen Leben (Art. 26), und die freie Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild sei garantiert (Art. 27). Im Abschnitt über die Gesetzgebung war den Mitgliedern des PLC Immunität zugesagt (Art. 40). In den Kapiteln über die Exekutive wurde festgelegt, dass der Präsident gegebenenfalls mit Zweidrittelmehrheit zum Rücktritt gezwungen werden könne - eine Vorkehrung, von der die Abgeordneten Gebrauch machten, als Anfang 2003 sie Arafat zur Aufgabe exekutiver Vollmachten zwingen wollten. Spätestens nach sechzig Tagen seien dann freie und direkte Neuwahlen durchzuführen (Art. 54). Innerhalb von dreißig Tagen habe der Präsident vom PLC beschlossene Gesetze zu unterzeichnen und auszufertigen, es sei denn er begründe seinen Widerspruch gegenüber dem Parlament (Art. 57). Die vom Präsidenten ernannten Minister, deren Zahl auf höchstens 19 festgelegt wurde, bedürften der parlamentarischen Zustimmung (Art. 62, 65). Die Sicherheitskräfte und die Polizei wurden auf den Rechtsstaat verpflichtet (Art. 75), die Einnahmen aus Steuern, Gebühren, Anleihen und Schenkungen sollten dem öffentlichen Finanzhaushalt zugeführt werden (Art. 82). Der Justiz wurde die Unabhängigkeit garantiert, Gesetze sollten für ordentliche Verfahren bei der Ernennung, Versetzung und Beförderung der Richter sorgen (Art. 88-90).

Einige grundlegende Bedenken konnten die Entwürfe dennoch nicht ausräumen. So blieb die Abgrenzung zwischen einem präsidialen und einem demokratischen System vage. Aussagen fehlten zum Staatsbürgerrecht und wer als Palästinenser anerkannt würde. Das Verhältnis zur palästinensischen Mehrheitsbevölkerung in Jordanien, zu den staatenlosen Bewohnern der Flüchtlingslager der "United Nations Works and Relief Agency (UNWRA)" außerhalb der Westbank und des Gazastreifens sowie zu den anderen Teilen der Diaspora fanden keine Erwähnung. Ansätze für die Bildung und die Tätigkeit von Parteien waren aus früheren Vorlagen trotz der Sorge entfernt worden, damit solle das Tunis-Regime auf die Gebiete übertragen werden. Indem dem Präsidenten im Abschnitt "Executive Authority" der Einfluss auf die Legislative, die Kontrolle des administrativen Handelns und der Sicherheitskräfte übertragen wurde, sicherte sich Arafat außergewöhnliche Vorrechte. Sie wurden noch dadurch erweitert, dass er gemäß Artikel 58 Gesetzentwürfe vorlegen, Urkunden veröffentlichen und "angemessene Maßnahmen zu ihrer Ausführung" ergreifen konnte. Insgesamt wurde Arafat also eine erhebliche Grauzone undefinierter Befugnisse überlassen. Dennoch weigerte er sich bis Ende Mai 2002, den letzten Verfassungsentwurf per Unterschrift auszufertigen, besonders die Drittwirkungen des Grundrechtskatalogs dürften seinen Argwohn erregt haben. Am 7. Juli vergangenen Jahres trat das Grundgesetz als "Kerngebilde für eine dauerhafte Verfassung" in Kraft.

Das Überleben Arafats war in der palästinensischen Öffentlichkeit lange Zeit mit dem Sieg des Volkes gleichgesetzt worden. Noch vor kurzem bescheinigte ihr Azmi Bishara eine "extreme Politikarmut", bei der taktische Beschlüsse mit strategischen Entscheidungen verwechselt wurden. Demonstrationen und gewalttätige Aktionen als Vergeltung und Wut seien noch keine Widerstandsstrategien, zumal wenn sie von untereinander konkurrierenden Fraktionen ausgeführt würden, die eher die Zahl der Märtyrer zählten statt die gegnerischen Verluste. Bishara machte fünf strategische Ziele aus, an denen sich jede palästinensische Führung künftig orientieren solle:
  1. Der nationale Befreiungskampf brauche den politischen Diskurs über seine angemessenen Wege und Ziele.
  2. Der palästinensische Befreiungskampf müsse dem Gegner das genaue Ziel seiner Aktionen klarmachen. Während der "Yishuv" 1948 gegen einen zweiten Holocaust und für einen eigenen Staat gekämpft und dafür den nach heutigen Maßstäben gerechneten Preis von 100.000 Menschen gezahlt habe, müsse der israelischen Gesellschaft klar gemacht werden, dass es den Palästinensern um die Westbank und den Gazastreifen gehe. Es sei unvorstellbar, dass ein antikolonialistischer Befreiungskampf in eine Konfrontation der Religionen umdefiniert werde. Wenn dies dennoch geschehe, würden sich zwei exklusive und unumstößliche Wahrheiten gegenüberstehen, zwischen denen es keinen politischen Kompromiss gibt.
  3. Die palästinensische Gesellschaft müsse sich bewusst werden, welchen Preis sie selber zu zahlen bereit sei. Während der libanesische Widerstand über die geographische Tiefe eines unabhängigen Staates verfügt habe und auf die Hilfe Syriens und Irans bauen konnte, entfielen solche Vorbedingungen bei den Palästinensern.
  4. Der Gegner müsse einen Preis für die Besatzung bezahlen. Doch statt die israelische Gesellschaft darüber zu spalten, führten gewalttätige Operationen dazu, dass diese ihre Reihen schließe und ein ängstlicher Chauvinismus gestärkt werde.
  5. Die Palästinenser brauchten eine klare Botschaft gegenüber der Welt, was sie politisch wollten, wenn sie ihrerseits Solidarität erwarteten.
Die Diskussion über strategische Ausrichtungen wie diese stehen noch am Anfang. Sollte sie jedoch ausbleiben, wird sich die palästinensische Führung auch weiterhin den Vorwurf des politischen Selbstbetruges gefallen lassen müssen, wenn die Kluft zwischen hohen nationalen Absichtserklärungen und der bescheidenen Realität so groß wie bisher ausfällt.

Arafats letztes Kapitel: ein Nachwort

Der frühere Außenminister Abba Eban hat einmal den Satz geprägt, die Palästinenser versäumten keine Chance, eine Chance zu versäumen. Sollte Abu Mazens tatsächlich seine Kandidatur für das Amt des "Ministerpräsidenten" zurückziehen, dann scheint sich diese Einschätzung erneut zu bestätigen. Schon einmal, zwei Jahre nach dem Scheitern von Camp David und nach dem Beginn der "Al-Aqza-Intifada", hatte ein ehemaliger Kabinettsminister beklagt, dass Arafat heute genau das verlange, was er damals zurückgewiesen habe. In der regierungsnahen "Jordan Times" hieß es süffisant, es sei ein Kardinalprinzip für die Verhandlungskunst, dass die schwächere Seite "Angebote" nicht ablehnen dürfe, auch wenn sie unbefriedigend ausfielen. Die palästinensische Führung habe in Camp David den Fehler von 1947 wiederholt, als sie den UN-Teilungsplan verworfen habe.

Die Autonomiebehörde von heute steht vor drei institutionellen Herausforderungen mit wegweisenden politischen Konsequenzen:
  1. Das alte Arafat-Regime kämpft um sein Überleben. Nachdem sich seine Verantwortung für Oslo nicht ausgezahlt hat, muss es seine Hoffnungen auf die "Road Map" des Quartetts setzen. Das dürfte eine Kompromissbereitschaft voraussetzen, die die palästinensische Gesellschaft neuen Zerreißproben aussetzt.
  2. Die "alte Garde" hat durch militante Führungskräfte der "Nach Oslo"-Generation Konkurrenz erhalten, deren Gefolgschaft allerdings durch die Vergeltungsschläge der Israelis ("targeted killings") ausgedünnt ist, um die politische Macht zu übernehmen. Außerdem fehlt es ihnen an einer erkennbaren Alternative, die über den Einsatz von Gewaltmitteln hinausgeht.
  3. Beiden Gruppierungen, "Fatah" und der "jungen Garde", wird die Führung von jenen Gruppen des "bewaffneten Widerstandes" streitig gemacht, der durch "Hamas" mit seinem militärischen Arm, den "Izz al-Din al-Qassam"-Brigaden, dem "Islamischen Djihad" sowie den "Al-Aqza-Brigaden" von Fatah repräsentiert wird.
Noch ist nicht entschieden, welche dieser Komponenten und Kräfte sich durchsetzen wird. Von der Hoffnung des früheren französischen Außenministers Hubert Védrine "Es wird der Augenblick kommen, wo von israelischer und palästinensischer Seite Verantwortliche sagen werden: Es gibt keine andere Lösung, als die Koexistenz zu organisieren", sind beide Völker noch weit entfernt. Wohl eher dürfte die Prophezeiung des Schriftstellers David Grossman zutreffen, dass nur ein Wunder oder eine Katastrophe die Lage ändern kann.

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Email: Reiner.Bernstein@web.de
Website: www.reiner-bernstein.de



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