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"Abu gegen Abu" - Arafat kontra Mahmut Abbas / "Abu against Abu"

Eine Auseinandersetzung um existenzielle Fragen / A debate about existential questions

Von Uri Avnery

Der Konflikt zwischen Abu 1 und Abu 2 - Abu-Amar vs. Abu-Mazen - ist keine persönliche Angelegenheit, wie es Journalisten in Israel und überall in der Welt darzustellen belieben. Gewiss: Die Egos der beiden Persönlichkeiten spielen eine Rolle, das ist in allen politischen Kämpfen so. Aber die eigentliche Kontroverse geht viel tiefer. In ihr spiegelt sich die einzigartige Situation des palästinensischen Volkes.

Ein Angehöriger der palästinensischen Führungsschicht ("upper class") definierte die Situation in dieser Woche im israelischen Fernsehen als "den Übergang von einer Kultur der Revolution zur Kultur des Staates". Das meint: Der palästinensische Befreiungskampf ist beendet, nun komme die Zeit, in der die Sache des Staates in Ordnung gebracht werden müsse. Deshalb müsse Arafat (Abu-Amar), der den ersten Weg repräsentiert, abtreten und Mahmud Abbas (Abu-Mazen), der den zweiten Weg vertritt, müsse die Sache übernehmen.

Keine Lagebeschreibung könnte von der Wirklichkeit weiter entfernt sein als diese. Der palästinensische Befreiungskampf befindet sich derzeit auf dem Scheitelpunkt. Vielleicht hat es niemals eine kritischere Situation gegeben. Die Palästinenser sind mit existenziellen Bedrohungen konfrontiert: ethnische Säuberungen (in Israel "Transfer" genannt) oder Gefangenschaft in nicht überlebensfähigen Bantustan-gleichen Enklaven.

Wie konnte nur die Illusion entstehen, dass der nationale Kampf vorbei und nun die Zeit gekommen sei, in der man sich den administrativen Aufgaben zuwenden könne?

Die Situation des palästinensischen Volkes ist in der Tat einzigartig. Soweit ich es beurteilen kann, gibt es dafür keine Parallele in der Geschichte. Im Gefolge der Oslo-Vereinbarungen entstand eine Art palästinensischer Ministaat, der aus mehreren kleinen Enklaven in der Westbank und im Gazastreifen besteht. Das nationale palästinensische Ziel jedoch - ein lebensfähiger unabhängiger Staat im ganzen Westjordanland einschließlich Ostjerusalems und im Gazastreifen - ist in weiter Ferne. Davor liegt noch ein mühevoller nationaler Kampf.

Es existieren also zwei unterschiedliche - und gegensätzliche - Strukturen nebeneinander: eine nationale Befreiungsbewegung, die einer starken und autoritativen Führung bedarf, und ein Ministaat, der eine geordnete, demokratische und transparente Verwaltung braucht.

Arafat repräsentiert die erste Struktur. Er ist viel mehr als nur ein "Symbol", wie oft gesagt wird. Er ist ein Führer, der über eine unvergleichliche moralische Autorität in seinem Volk und über große internationale Erfahrung verfügt. Er hat die palästinensische Nationalbewegung aus ihrer Abhängigkeit von arabischen und internationalen Interessen heraus gelöst und sie aus der fast völligen Versenkung bis an die Schwelle der Unabhängigkeit geführt.

Abu-Mazen und seine Gefährten repräsentieren die andere Wirklichkeit. Sie haben keine feste Basis in der Bevölkerung, aber sie verfügen über Beziehungen zu mächtigen Akteuren, insbesondere zu den USA und Israel - mit allem was dazugehört.

Die Debatte zwischen beiden dreht sich vor allem um die Einschätzung der Intifada. Zweieinhalb Jahre lang erleidet das palästinensische Volk riesige Verluste: Etwa 2.500 Menschen wurden getötet, zehntausend wurden verletzt oder haben bleibende Schäden erhalten, eine ganze Generation junger Führer wurde ausgelöscht, die Wirtschaft zerstört, dem Eigentum wurden immense Schäden zugefügt. Hat sich das gelohnt? Kann es so weiter gehen?

Abu-Mazen und seine Freunde sagen Nein. Sie glauben, dass der Kampf von Anfang an ein Fehler war. Schon vor der gegenwärtigen Debatte forderte Abu-Mazen die Einstellung der "bewaffneten Intifada". Er vertritt die Auffassung, dass die Palästinenser ihre Ziele besser auf dem Verhandlungsweg mit den USA und in einem politischen Prozess mit Israel erreichen können. Er verlässt sich hier auf die Hauptströmung der israelischen Friedensbewegung und auf Persönlichkeiten wie den früheren Minister der Arbeitspartei, Yossi Beilin. Seiner Meinung nach untergräbt die Gewalt den politischen Prozess und schadet dem palästinensischen Volk.

Abu-Mazens Gegner leugnen all das. Ihrer Meinung nach ist die Intifada keineswegs gescheitert, sondern hat im Gegenteil wichtige Ergebnisse gebracht: Die israelische Wirtschaft ist in einer ernsten Krise, die Spannungen innerhalb der israelischen Gesellschaft haben sich zugespitzt, Israels Erscheinungsbild in der Welt als einer sich selbst verteidigenden Demokratie ist herabgesunken zu einer rücksichtslosen Besatzungsmacht. Die Sicherheitslage hat sich so sehr verschlechtert, dass heute bewaffnete Sicherheitskräfte allüberall anzutreffen sind. Die Opfer scheinen ihnen ein Preis zu sein, den es sich zu zahlen lohnt. Wenn der Zermürbungskrieg weitergeht, werden ihrer Meinung nach die Israelis gezwungen sein, in die Minimalforderungen der Palästinenser einzuwilligen: ein Staat, die grüne Linie als Grenze, Jerusalem als geteilte Hauptstadt, Räumung der Siedlungen und eine Verhandlungslösung über die Flüchtlingsfrage.

Darüber hinaus glauben die Gegner von Abu-Mazen, dass dessen Grundannahmen falsch sind. Die USA würden niemals Israel zwingen, ein Land, dessen Agenten die Kontrolle über Washington haben. Israel wird niemals irgendetwas zugestehen, ohne dazu gezwungen zu sein. Scharon wird fortfahren, Siedlungen zu bauen, und wird damit Fakten am Boden schaffen und den Palästinensern selbst dann noch den Boden unter den Füßen wegziehen, wenn sie vorgeben Verhandlungen zu führen.

Vielleicht wäre Abu-Mazens Position stärker, wenn die USA und Israel nicht so offenkundig versuchen würden, ihn dem palästinensischen Volk aufzuzwingen. Die Beispiele des armen Karsai in Afghanistan und der erbärmlichen Bande oppositioneller Exiliraker, welche die Amerikaner nach Irak mitgebracht haben, sind zweifellos nicht sehr hilfreich für Abu-Mazen, auch wenn er einer der Gründer der Fatah-Bewegung ist.

Eine große Gruppe von Vermittlern hat versucht einen Kompromiss zu erreichen. Sie sagen, in der Praxis gäbe es eine ideale Arbeitsteilung: Arafat wird den Kampf um die Befreiung weiter führen, Abu-Mazen wird die palästinensischen Enklaven verwalten.

Aber daraus erwächst eine Menge praktischer Probleme. Zum Beispiel: Woher soll das Geld für den Befreiungskampf herkommen? Was geschieht mit den bewaffneten Formationen und wer wird die Sicherheitskräfte kontrollieren? Wer wird die letzte Entscheidungsgewalt haben - das palästinensische Volk als Ganzes, einschließlich der Diaspora (Arafat als Vorsitzender der PLO) oder die Verwaltung der Enklaven (Abu-Mazen)?

Und die wichtigste Frage: Würde Abu-Mazen bereit sein einen Bruderkrieg zu riskieren? Die USA und Israel verlangen, dass er die bewaffneten Formationen auflöst und ihre Waffen einsammelt, bevor die Palästinenser den ersten Schritt zu einem eigenen Staat gemacht haben. Das würde natürlich einen blutigen Selbstvernichtungskampf heraufbeschwören, der Scharons Regierung erfreuen wird und seine eigene Position weiter stärken würde. Oder sollte die nationale Einheit mindestens solange aufrechterhalten bleiben, bis Israel alle Siedlungsaktivitäten gestoppt hat und einem Palästinenserstaat in allen besetzten Gebieten zustimmt?

Diese Diskussion geht weit über den persönlichen Streit zwischen Abu und Abu, Ego und Ego, hinaus. Für das palästinensische Volk ist es ein Streit um existenzielle Fragen - ähnlich den Debatten in der jüdischen Gemeinschaft in Palästina, die erst mit der Gründung des Staates Israel beendet waren.

23. April 2003
Übersetzung aus dem Englischen: Peter Strutynski


Uri Avnery
23.4.03

"Abu against Abu" - Arafat against Mahmut Abbas

The clash between Abu-1 and Abu-2 - Abu-Amar v. Abu-Mazen - is not a personal matter, as it is presented by journalists in Israel and all over the world. Of course, the egos of the two personalities do play a role, as in all political fights. But the controversy itself goes much deeper. It reflects the unique situation of the Palestinian people.

An upper-class Palestinian defined it this week on Israeli television as "the move from the culture of revolution to the culture of a state." Meaning: the Palestinian war of liberation has come to an end, and now the time has come to put the affairs of state in order. Therefore, Yasser Arafat (Abu-Amar), who represents the first, must go and Mahmud Abbas (Abu-Mazen), who represents the second, must take over.

No description could be further from reality. The Palestinian war of liberation is now at its height. Perhaps it has never been at a more critical stage. The Palestinians are faced with existential threats: ethnic cleansing (called in Israel "transfer") or imprisonment in powerless, Bantustan-style enclaves.

How has this illusion - that the national struggle is over and that the time has come to turn to administrative matters - arisen?

The situation of the Palestinian people is indeed unique. As far as I am aware, it has no parallel in history. Following the Oslo agreements, a kind of Palestinian mini-state came into being, consisting of several small enclaves on the West Bank and the Gaza Strip. These enclaves have to be administered. But the national Palestinian aim - a viable, independent state in all the West Bank and Gaza Strip, including East Jerusalem - is far from being attained. In order to achieve it, an arduous national struggle lies ahead.

Thus, two different - and contradictory - structures exist side by side: a national liberation movement requiring strong and authoritative leadership, and a mini-state that needs a regular, democratic and transparent administration.

Arafat represents the first. He is much more than a "symbol", as he is often described. He is a leader possessing an unequalled moral authority among his own people and vast experience in international affairs. He has steered the Palestinian national movement away from subjugation to Arab and international interests and led it from near oblivion to the threshold of independence.

Abu-Mazen and his colleagues represent the second reality. They have no solid base among their own people, but do have connections with powerful players, most importantly the United States and Israel, with all that entails.

The debate between the two hinges on an assessment of the intifada. For two and a half years, the Palestinian people have been suffering immense losses: about 2500 people killed, ten thousand disabled and injured, a whole stratum of young leaders wiped out, the economy destroyed, immense damage to property. Was this worthwhile? Can it continue?

Abu-Mazen and his supporters say No. They believe that the whole fight was a mistake. Even before the present debate, Abu-Mazen called for the cessation of the "armed intifada". He believes that the Palestinians can achieve more in negotiations with the US and in a political process with Israel. He relies on the mainstream Israeli peace movement and personalities like ex-Labor minister Yossi Beilin. In his opinion, the violence undermines the political process and harms the Palestinian people.

Abu-Mazen's opponents deny all this. In their opinion, not only has the intifada not failed, but, quite the contrary, has had important results: the Israeli economy is in deep crisis, the tensions in Israeli society have reached a peak, Israel's image in the world has sunk from a democracy defending itself to a ruthless occupier. Security has worsened to the point that there are armed security guards everywhere. The casualties seem to them a price worth paying. If the war of attrition continues, they believe, Israeli will in the end be compelled to accede to the minimum demands of the Palestinians (a state, the Green Line border, Jerusalem as a shared capital, dismantling the settlements and a negotiated solution of the refugee question.)

Moreover, Abu-Mazen's opponents believe that his basic assumptions are wrong. The US will never pressure Israel, whose agents control Washington. Israel will never concede anything without being forced to do so. Sharon will continue building settlements, creating facts on the ground and pulling the land out from under the feet of the Palestinian people even while pretending to conduct negotiations.

Abu-Mazens position may, perhaps, have been stronger if the US and Israel had not been so obviously trying to impose him on the Palestinian people. The examples of poor Karzai in Afghanistan and the miserable gang of emigres whom the Americans brought to Iraq are certainly not helping Abu-Mazen, despite his being one of the founders of the Fatah movement.

A large group of mediators have tried to achieve a compromise. They say, in effect, that there is an ideal division of labor: Arafat will continue to lead the struggle for liberation, Abu-Mazen will administer the Palestinian enclaves.

However, this raises many practical problems. For example: where will the money for the liberation struggle come from? What will happen to the armed organizations, and who will control the security forces? Who will possess the supreme authority - the Palestinian people as a whole, including the Diaspora (Arafat as Chairman of the PLO) or the administration of the enclaves (Abu-Mazen)?

And, most important of all: would Abu-Mazen be prepared to risk a fratricidal war? The US and Israel demand that he liquidate the armed organizations and confiscate their weapons, even before the Palestinians move one step towards a state of their own. This will, of course, involve a bloody internecine struggle that will fill Sharon's government with joy and consolidate its position still further. Or should national unity be maintained, at least until Israel stops all settlement activity and agrees to a Palestinian state in all the occupied territories?

This debate is much wider than the personal struggle between Abu and Abu, ego against ego. For the Palestinian people, this is a debate about existential questions - just like similar debates in the Jewish community in Palestine, that ended only with the founding of the State of Israel.


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