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Moldawien: Transnistrien will unabhängig sein - Option für Anschluss an Russland

Umstrittenes Referendum von der EU nicht anerkannt - Russland will Konfrontation mit dem Westen vermeiden

Im Folgenden dokumentieren wir drei Artikel, die sich mit dem umstrittenen Referendum in der abtrünnigen Moldau-Republik Transnistrien befassen. In ihnen spiegelt sich vor allem auch die Sicht Russlands.



Dnjestr-Republik zieht es zu Russland

OSZE und EU erkennen Referendum nicht an

Von Irina Wolkowa, Moskau *


Bei dem umstrittenen Referendum in der von Moldova abgespaltenen Dnjestr-Republik haben am Wochenende 97,1 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit und einen künftigen Beitritt zu Russland votiert. Die Wiedervereinigung mit Moldawien sei mit 94,6 Prozent der Stimmen abgelehnt worden. Die Wahlbeteiligung lag bei fast 78 Prozent.

Formell gehört die Dnjestr-Republik (Transnistrien) zur Ex-Sowjetrepublik Moldova. Die Macht der Zentralregierung in Chisinau erstreckt sich jedoch lediglich auf die Gebiete mit rumänischsprachiger Bevölkerung am rechten Ufer des Dnestr. Das linke Ufer, wo fast ausschließlich Russen und Ukrainer leben, sagte sich 1992 von Moldova los. 15 Jahre faktischer Unabhängigkeit, so Separatistenchef Igor Smirnow vor der Abstimmung bei Radio »Echo Moskwy«, hätten gezeigt, dass die Region als souveräner Staat überlebensfähig sei. Das Referendum solle daher den gegenwärtigen Status quo nur legalisieren.

Genau das ist indes das Problem: International ist die Dnjestr-Republik nicht anerkannt, auch das Referendum erklärten OSZE und EU für illegitim. Daher entsandten sie auch keine Beobachter. Präsent waren lediglich Wahlbeobachter aus den GUS-Staaten, vor allem aus Russland, Abgesandte anderer Separatistenregionen wie Südossetien und Berg-Karabach sowie Vertreter westlicher Nichtregierungsorganisationen. Luc Michel von der »Bewegung für direkte Demokratie in Europa« lobte, die Abstimmung sei demokratisch und »fairer als in Belgien« gewesen, ihre Ergebnisse müssten durch die EU anerkannt werden. Ähnlich äußerten sich auch Vertreter der »Gruppe für politisches Monitoring in Mitteleuropa«. Die Bevölkerung, so der Präsident des russischen Senats Sergej Mironow, habe »für Stabilität und Berechenbarkeit« gestimmt. Hoffnungen »auf eine gemeinsame Zukunft mit Russland« würden vor allem die Enttäuschung über dass bisherige Konfliktmanagement reflektieren.

Hiesige Politologen dagegen fordern Moskau zu maximaler Zurückhaltung bei Kommentaren zu den Abstimmungsergebnissen auf. Anderenfalls, so Mark Urnow, Leiter des »Ekspertisa«-Instituts, drohe Russland die weitere Verschlechterung der Beziehungen nicht nur zu zu Moldova, sondern auch zu Georgien und Aserbaid-schan, die gegenwärtig ebenfalls nur Teile ihres Hoheitsgebietes kontrollieren. Sollte Moskau das Referendum anerkennen, würde es die Separatisten ermuntern.

* Aus: Neues Deutschland, 19. September 2006


"Wremja nowostej": Transnistrien vor der Wahl

Die Moskauer Zeitung "Wremja nowostej" schreibt in ihrer Ausgabe vom 15. September:

Übermorgen kommt es zu einem signifikanten Ereignis im postsowjetischen Raum: In der nicht anerkannten Republik Transnistrien wird ein Referendum über die Unabhängigkeit stattfinden. Zwei Fragen sind zu beantworten: "Unterstützten Sie den Kurs auf Unabhängigkeit der Transnistrischen Moldawischen Republik und die nachfolgende freie Eingliederung Transnistriens in die Russische Föderation?" und "Halten Sie den Verzicht auf die Unabhängigkeit der Transnistrischen Moldawischen Republik mit dem nachfolgenden Anschluss an die Republik Moldawien für möglich?".

Das Ergebnis des Referendums ist ohne Weiteres vorherzusagen: Die Menschen werden ihr Ja zur Unabhängigkeit und der "freien Angliederung" an Russland sagen und den Beitritt zur Republik Moldawien ablehnen. Den Worten des Präsidenten der nicht anerkannten transnistrischen Republik Igor Smirnow zufolge "erhalten sich in der Region dank Russland seit Jahren Frieden und nationale Eintracht, wobei alle Einwohner Transnistriens, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, eine prorussische Mentalität haben".

Die Beteiligung am Referendum verspricht hoch zu sein. In den 16 Jahren des Lebens in einem nicht anerkannten Staat hat sich in den Menschen Müdigkeit aufgespeichert, sie streben nach Stabilität.

Doch haben Vertreter der USA, der EU und internationaler Organisationen (beispielsweise der OSZE) bereits erklärt, sie würden die Ergebnisse des Referendums nicht anerkennen.

Gestern forderte der russische Außenminister Lawrow auf, dem Referendum "nicht so viele Emotionen" zu widmen, weil das Wesen "in der Notwendigkeit liegt, an den Verhandlungstisch zurückzukehren". In Moskau wird die Auffassung vertreten, dass man in Tiraspol beschlossen habe, mittels des Referendums ihre Forderungen "laut genug hinauszuschreien, damit sie die internationale Gemeinschaft auch hört", während "das heutige Europa sich wohl kaum korrekt und politisch weitsichtig beim Ignorieren des Referendums verhält; erst recht dürfte es einer solchen Form der Willensäußerung des Volkes nicht so wenig Achtung entgegenbringen".

Kurz vor dem Referendum nahm in Tiraspol das Zentrum seine Arbeit auf, das die Dokumente für die russische Einbürgerung ausstellt. Nunmehr brauchen die Einwohner Transnistriens dazu nicht extra nach Chisinau zu fahren. Die Warteschlange nach dem Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft reicht für zwei Jahre.

Wird Tiraspol nach dem Referendum mit einer noch größeren Unterstützung von Seiten Moskaus rechnen können? Der Chefredakteur der transnistrischen oppositionellen "Nowaja gaseta" Andrej Safonow sagte den Kollegen von "Wremja nowostej", Russland werde sich "durch die Anerkennung Transnistriens als Subjekt des Völkerrechts nicht auf eine offene Konfrontation mit der EU, den USA und anderen Ländern einlassen".

Pessimisten warnen sogar davor, dass Moskau unter dem Druck des Westens Transnistrien einfach "aufgeben" könne, und dann werde Chisinau dieser Republik einen dekorativen autonomen Status zuerkennen und an die dortige Macht seine Leute bringen, wobei auch die örtlichen Geschäftsleute unter Druck gesetzt würden.

Der Chefredakteur der oppositionellen Ausgabe "Moldawskije wedomosti" (Chisinau) Dmitri Tschubaschenko schließt die Angliederung Transnistriens an Russland in fünf bis zehn Jahren nicht aus. Aber die Unentschlossenheit von Moskau könnte in Kiew Interesse für die nicht anerkannte Republik wecken.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 15. September 2006

Sollten die "Nichtanerkannten" nicht endlich anerkannt werden?

Die Zukunft der "nichtanerkannten Republiken" im postsowjetischen Raum hängt nicht von den Unabhängigkeitsreferenden in diesen Regionen, sondern vom geopolitischen Gewicht Moskaus ab

Von Alan Kassajew, Moskau **

Seit dem Zerfall der UdSSR sind 15 Jahre vergangen. Dennoch müssen sich die Politiker und die Öffentlichkeit im postsowjetischen Raum, aber auch in Europa und zu einem gewissen Maße auch in der ganzen Welt immer noch damit abquälen, was mit einigen der Ex-UdSSR-Splitter gemacht werden soll, die vom Schicksal besonders stiefmütterlich behandelt wurden. Gemeint sind die sogenannten nicht anerkannten Republiken: Berg-Karabach, Südossetien, Abchasien und Transnistrien.

Als die ehemaligen Unionsrepubliken eine nach der anderen ihre Unabhängigkeit erlangten und in die Uno aufgenommen wurden, stellte niemand in der Weltorganisation die Frage, inwieweit die Rechte der neuen Subjekte des Völkerrechts legitim sind. So entstanden die unabhängigen Republiken Georgien, Moldawien, Armenien und Aserbaidschan in den Grenzen der ehemaligen sozialistischen Sowjetrepubliken. Die ehemaligen Autonomien im Bestand dieser ehemaligen Unionsrepubliken, die mit dieser Entwicklung nicht einverstanden waren, versuchten, ihre eigene Meinung durchzusetzen. Damit ernteten sie aber nur Kriege. Bezeichnenderweise hat jede dieser Autonomien ihren eigenen Krieg gewonnen, allerdings nur de facto. De jure errangen sie aber den zweifelhaften Status von "nichtanerkannten Republiken", den sie nun ständig abzulegen versuchen.

Das Ergebnis des Referendums in Transnistrien war nicht nur für die Behörden in der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol, für Chisinau und für Moskau vorhersagbar, sondern auch für viele andere Metropolen in Europa und in Übersee. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung bestätigten ihren Wunsch, weiterhin einen unabhängigen Staat aufzubauen, der sich in Zukunft auf einen Beitritt zur Russischen Föderation einstellt.

In praktischer Hinsicht wird sich aber das Leben der dortigen Bevölkerung in nächster Zeit leider kaum verändern. Mit der Regelung der Beziehungen zwischen dem anerkannten Chisinau und dem nicht anerkannten Tiraspol haben sich Russland, die Ukraine, die OSZE, die EU und die USA - mal gemeinsam, mal abwechselnd - all die Jahre beschäftigt. Die letzte Lösungsvariante - eine weitestgehende Autonomie im Bestand Moldawiens, die ein eigenes transnistrisches Parlament, eigene Organe des Innern und sogar etwas wie eine nationale Garde vorsah, was bei einem hypothetischen EU- und einem wahrscheinlichen NATO-Beitritt Moldawiens bzw. bei einer Neutralitätserklärung durch dieses Land aufrechterhalten werden sollte - scheiterte aber. Im Prinzip ist es auch nicht wichtig, wer daran schuld war - Transnistrien, Moldawien oder Moskau. Nun warten alle Seiten, was nach dem Referendum geschehen soll.

Es ist wohl leichter vorauszusagen, was nicht geschehen wird. Es wird keine Eskalation des bewaffneten Konfliktes geben, weil Moldawien heute kaum gegen jemanden kämpfen will oder kann. Es wird keine Entscheidung über einen Anschluss Transnistriens an einen dritten Staat, konkret an Russland, geben: Russland hat keine gemeinsame Grenze mit Transnistrien, während die Ukraine, die dazwischen liegt, wohl kaum zusätzliche Instabilitätsquellen an ihren Grenzen braucht. Worin besteht dann der Sinn des Referendums?

Erstens: Die Behörden von Transnistrien rechnen mit einem starken inneren Impuls für die neue Etappe ihrer nicht anerkannten Existenz. Und zweitens: Das Referendum soll weniger das Transnistrien-Problem an sich, sondern vielmehr die ähnlichen Situationen in anderen Regionen des postsowjetischen Raums aktualisieren. Nämlich in Südossetien und in Abchasien.

Die ehemaligen Autonomien im Bestand der Unionsrepublik Georgien wollen ebenfalls ihre ewigen Existenzprobleme endlich regeln. Die Südosseten streben eine verwaltungsmäßige und kulturelle Wiedervereinigung mit den Nordosseten an, die zur Russischen Föderation gehören. Die Abchasen signalisieren Russland und der ganzen Welt ihre Weigerung, weiter im Bestand Georgiens zu bleiben. Nach den blutigen bewaffneten Zusammenstößen in den Jahren 1991 bis 1993 sind Südossetien und Abchasien faktisch von Georgien unabhängig geworden, die internationale Völkergemeinschaft betrachtet diese aber weiterhin als Teile Georgiens, wenn auch als abtrünnige und separatistische.

Nun ist ein Referendum über den Status Südossetiens an der Reihe, das für den 12. November geplant ist und blutige Ereignisse mit sich bringen könnte. Die relativ instabile Regierung Georgiens wäre nicht abgeneigt, die ihrer Ansicht nach unlegitime zukünftige Abstimmung zum Vorwand zu nehmen, um das Problem mit einem starken und zeitlich begrenzten militärischen Schlag zu lösen.

Indessen rechnen die Initiatoren der Volksaussprachen damit, dass die Willensbekundung der Bevölkerung von den internationalen Organisationen registriert wird. Immerhin ist vor kurzem Montenegro im Ergebnis eines Referendums zu einem souveränen Staat geworden, der als solcher auch in die Uno aufgenommen wurde. Bei der geplanten Abstimmung in der Provinz Kosovo kann ein weiterer anerkannter Staat auf dem Balkan entstehen. Die EU und die USA als die führenden Sponsoren des Friedensprozesses im Kosovo machen keinen Hehl daraus, dass sie gerade an einem solchen Ausgang interessiert sind. Zugleich unterstützen sie in keiner Weise die Referenden in Transnistrien und Südossetien.

Berg-Karabach tanzt in dieser Hinsicht ein bisschen aus der Reihe. Im Unterschied zu Abchasien, Transnistrien und Südossetien ist das Karabach-Problem dank dem Uno-Mitgliedsland Armenien zu einem selbständigen Punkt der internationalen Tagesordnung geworden. Die Karabach-Krise stärkt aber in moralischer Hinsicht die Positionen jener, die in dieser Entwicklung eine weitere Verschärfung einer überaus ernsten Frage der Weltpolitik sowie der Theorie und Praxis des Völkerrechts sehen. Wann soll man sich an das Grundprinzip der Uno-Charta über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung halten und wann sich von den Bestimmungen der Helsinki-Erklärung 1975 leiten lassen, die die Unverbrüchlichkeit der europäischen Grenzen garantiert hat?

Seit der Gründung der Uno 1945 sind bis zum heutigen Tag mehr als 70 neue Staaten auf der Landkarte entstanden. Für die internationale Anerkennung brauchte ein Anwärter einfach immer einen ernsthaften Sponsor. In den Jahren der Entkolonisierung war das beispielsweise die UdSSR. Als später der Einfluss dieses Landes in rasantem Tempo bis auf den Nullpunkt sank, haben die USA diese Rolle weiterhin beibehalten. Offen gesagt, die Vereinbarungen von Helsinki wurden von 1989 an - zunächst in Jugoslawien, dann in Ostdeutschland und später auch in der UdSSR - mehrfach verletzt. Diese Verletzungen wurden anschließend von der Uno auf die eine oder andere Weise legitimiert. Bedeutet das nun, dass die Variante von Montenegro und Kosovo der Haupttendenz der heutigen Weltpolitik entspricht? Bedeutet das auch, dass Transnistrien und Südossetien sowie später eventuell auch Abchasien und Berg-Karabach als unabhängige Staaten anerkannt werden?

Völlig sicher ist ein solcher Ausgang vorerst nicht. Die national-territorialen Veränderungen der 90er Jahre vollzogen sich nämlich vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der bipolaren Weltstruktur und dienten eindeutig der Festigung einer monopolaren Welt mit der dominierenden Rolle der USA. Die heutige Reformierung auf dem Balkan erfolgt aber bereits nicht mehr nach einem Szenario der Vereinigten Staaten, die noch vor fünf Jahren Anspruch auf eine absolute Welthegemonie erheben konnten, sondern eher im Interesse eines neuen internationalen Einflusspols, nämlich der immer stärker werdenden EU - wenn auch selbstverständlich mit Zustimmung der USA.

Insofern wird eine echte Unabhängigkeit und eine Anerkennung Transnistriens wie auch anderer ähnlicher Territorien um Russland herum nicht von Referenden abhängen, sondern davon, ob sich Russland in nächster Zeit in einen realen Partner der EU und der USA zumindest in der Region Groß-Europas "vom Atlantik bis zum Ural" verwandeln wird oder nicht.

Momentan ist ein mächtiger Durchbruch Moskaus zu den seinerzeit gewohnten Höhen in der Weltpolitik zu beobachten. Der Weg bis dahin ist jedoch recht beträchtlich. Ohne Rücksicht auf Moskau können zwar die Europäische Union und die USA das Kosovo-Problem und ähnliche national-territoriale Probleme nicht mehr lösen, zugleich können aber die "traditionellen" Einflusszentren den Standpunkt der Russischen Föderation nicht 100-prozentig teilen. Insofern besteht momentan die beste Lösung im Ausbleiben einer endgültigen Lösung.

Hauptsache: Ein Blutvergießen muss verhindert werden - das betonen Moskau, Washington und Brüssel recht laut und deutlich. Ob aber diese Stimmen in Chisinau, Tiraspol, Tiflis und Zchinwali wirklich gehört werden?

** Der Autor, Alan Kassajew, ist Direktor der Chefredaktion der Länder der GUS und des Baltikums sowie Mitglied des Expertenrates von RIA Novosti.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 20. September 2006



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