Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wut auf den Staat

Wahl in Mexiko: Geringe Beteiligung am Sonntag erwartet. Polizei soll Urnen vor Bevölkerung schützen. Linke sucht Alternativen

Von Torge Löding, Mexiko-Stadt *

Die meisten Mexikaner werden voraussichtlich nicht abstimmen, wenn sie am kommenden Sonntag aufgefordert sind, wie alle drei Jahre die Mitglieder der Abgeordnetenkammer zu wählen. Laut einer Studie des Nationalen Wahlinstituts wollen weniger als ein Drittel von ihrem Recht Gebrauch machen.

Selten haben die Mexikaner so wenig in ihre politischen Institutionen vertraut. Wesentlichen Anteil an ihren Zweifeln hat das Verbrechen von Iguala vom September 2014. Damals nahmen Sicherheitskräfte 43 Studenten nach einer Spendensammelaktion in der Stadt im Bundesstaat Guerrero widerrechtlich fest, die Hochschüler sind seitdem »verschwunden«. Sechs Menschen starben bei dem Vorfall, 17 weitere wurden verletzt. Nach offiziellem Ermittlungsstand lieferten die lokalen Behörden die anderen Studenten an die organisierte Kriminalität aus. Mitglieder eines lokalen Kartells sollen sie dann ermordet haben. Seit dem »Verschwinden« der Studenten gehen in Mexiko immer wieder Tausende Menschen auf die Straße, die die Beteiligung staatlicher Institutionen kritisieren und eine weitere Suche nach den Studenten fordern.

Viele wird von der Wahl abschrecken, dass in dieses Verbrechen nicht nur rechte, sondern auch Politiker der aus einer linken Tradition stammenden »Partei der Demokratischen Revolution« (PRD) verwickelt waren. Dazu zählen etwa der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, und seine Ehefrau und lokale PRD-Abgeordnete im Bundesstaat Guerrero, María de los Ángeles Pineda Villa. Die beiden werden von der Justiz für die Attacke auf die Studenten verantwortlich gemacht.

Gleichzeitig wächst der Unmut über die soziale Situation. Wie der lateinamerikanische Fernsehsender TeleSur berichtete, traten im südlichen Bundesstaat Oaxaca am Montag Lehrer in einen unbefristeten Streik, um gegen eine neoliberale Bildungsreform zu protestieren. Mitglieder der linken Gewerkschaft CNTE zerstörten in elf Wahllokalen Einrichtungsgegenstände und Unterlagen, wie das nationale Wahlinstitut mitteilte.

Neben den Parlamentsabgeordneten sollen am 07. Juni in 17 der 32 Bundesstaaten Stadtverwaltungen und in einigen Gouverneure gewählt werden. In Staaten wie Guerrero, Michoacán oder Veracruz haben die staatlichen Institutionen angesichts der eskalierenden Gewalt kapituliert. Dort wurden im Wahlkampf Kandidaten aller politischen Richtungen ermordet. In Guerrero sollen Sicherheitskräfte das Aufstellen der Urnen gegen die protestierende Bevölkerung gewaltsam durchsetzen. Eltern der »Verschwundenen«, Lehrer und Studenten hatten dort eine Verschiebung der Abstimmung gefordert, bis der Fall aufgeklärt sei und die Vermissten gefunden würden.

Die zahlreichen Strömungen der Linken Mexikos debattieren auch noch wenige Tage vor dem Wahltag über die richtige Strategie. Anarchistische Zirkel und kommunistische Organisationen sehen keine Alternative auf den Stimmzetteln, Vertreter zapatistischer Ideen halten die Abstimmung gar für eine Ablenkung von den eigentlichen politischen Aufgaben. Die nach Iguala von progressiven Geistlichen wie Raúl Vera und Alejandro Solalinde ins Leben gerufene Bewegung für eine verfassunggebende Versammlung ist gespalten. Einige Linke unterstützen die von dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten, Andrés Manuel López Obrador, gegründete neue Linkspartei »Bewegung für die nationale Regenerierung« (Morena). »Der Koalition der Rechten durch Boykott das Feld zu überlassen ist keine politische Strategie, sondern eine Bankrotterklärung«, sagte der Schriftsteller und führende Morena-Politiker Paco Ignacio Taibo II am Mittwoch vergangener Woche auf einer Veranstaltung in Mexiko-Stadt. »Wir müssen heute um jede Stimme kämpfen und bereits am Wahltag mit der Vorbereitung einer Alternative für die Präsidentschaftswahl 2018 beginnen. Diese kann nur ein breites linkes Bündnis gegen den Neoliberalismus sein -- von rosa bis rot, vom moderaten Sozialdemokraten bis zum bakunistischen Anarchisten.«

Umfragen zufolge werden nur zehn bis 15 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei Morena machen, was diese nach den drei Parteien des regierenden »Paktes für Mexiko«, PRI, PAN und PRD, auf den vierten Platz bringen würde. In der linken Hochburg Mexiko-Stadt hofft Morena, drei bis sechs der insgesamt 16 Bezirksbürgermeisterposten zu erobern.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 03. Juni 2015


Zurück zur Mexiko-Seite

Zur Mexiko-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage