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Versagen im großen Stil

Mexiko: Ermittlungslücken im Fall der 43 "Verschwundenen". Angehörige werben um Unterstützung

Von Lena Kreymann *

Vom heutigen Donnerstag an wollen die Angehörigen der seit September vergangenen Jahres vermissten Studenten durch den Norden und Süden Mexikos ziehen und dort für Unterstützung bei der Suche nach den 43 Hochschülern sowie beim Kampf um Aufklärung und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen werben. Erst am Sonntag, exakt zehn Monate nach dem »Verschwinden« der Studenten, waren in Mexiko-Stadt und weiteren Orten erneut Tausende auf die Straße gegangen. »Ich kann nicht schweigen, selbst wenn einige wollen, dass ich nicht demonstriere. Aber ich bin Mexikaner und Familienvater. Es muss ein Ende geben, sei es glücklich oder nicht«, erklärte gegenüber der Zeitschrift El Proceso Emiliano Navarrete, dessen Sohn nach den Vorfällen bei der mexikanischen Stadt Iguala »verschwunden« ist. Die Studenten der Pädagogischen Landschule »Raúl Isidrio Burgos« des Dorfes Ayotzinapa waren zu einer politischen Aktion nach Iguala gefahren, auf dem Rückweg von der Polizei angegriffen worden und werden seitdem vermisst. Sechs Personen starben noch vor Ort.

Angehörige und internationale Experten kritisieren seit Monaten Unstimmigkeiten bei offiziellen Ermittlungen. Diesem Urteil schließt sich nun ein Bericht der mexikanischen Menschenrechtskommission an, der am vergangenen Donnerstag vorgestellt wurde. In dem auf ihrer Internetseite veröffentlichten Dokument hält sie die vorläufigen Ergebnisse ihrer Ermittlungen seit dem 27. September vergangenen Jahres fest und formuliert 32 Anforderungen an die Generalstaatsanwaltschaft, die Kontaktstelle für Opfer von Verbrechen (CEAV), die Staatsanwaltschaft von Guerrero und das Bürgermeisteramt von Iguala. In dem Bericht werden gravierende Schwächen der offiziellen Ermittlungen deutlich. Diesen zufolge sollen die Studenten an die kriminelle Bande »Guerreros Unidos« übergeben worden sein. Diese soll sie getötet und auf einer Müllhalde im nahegelegenen Cocula verbrannt haben. Bislang wurden allerdings nur die sterblichen Überreste von Alexander Mora identifiziert. Die Ermittlungen sind seit vergangenem Frühjahr de facto eingestellt, die Ergebnisse der Untersuchungen laut dem Bericht auf vier Ebenen nicht zusammengeführt.

Demnach hat die Generalstaatsanwaltschaft eine Reihe von »unverzichtbaren« Beweisen gar nicht erst untersucht. »Das ungenügende Handeln der für die Untersuchung zuständigen Behörde verletzt die Menschenrechte der Opfer, indem es ihr Recht einschränkt, die Wahrheit zu erfahren, Rechtsmittel einzulegen, und dass der Schaden behoben sowie eine Wiederholung ausgeschlossen werde«, heißt es. Die Staatsanwaltschaft müsse beispielsweise die Handydaten der »Verschwundenen« auswerten. Erdproben aus dem Fluss San Juan, in den die Asche der verbrannten Leichen angeblich geworfen wurde, müsse mit dem Boden der Müllhalde abgeglichen und dort entdeckte Kugeln analysiert werden. Anthropologen sollen die Knochenfunde aus Cocula analysieren. Blutflecken und Kleidungsstücke aus einem leer unter einer Brücke aufgefundenen Bus, der denen der Studenten vorausgefahren war, müssen untersucht werden. Mit den Anwohnern des Ortes, an dem der Polizeiüberfall stattgefunden hatte, ist offenbar nicht oder nicht ausreichend gesprochen worden. Der Bericht hält jedenfalls fest, dass diese Personen überhaupt erst gefunden werden müssten.

Doch nicht nur diese naheliegenden Schritte wurden versäumt, auch widersprüchlichen Aussagen wurde dem Bericht zufolge bisher nicht ausreichend nachgegangen. So gibt es zwar Geständnisse von Bandenmitgliedern, die Studenten in Cocula verbrannt zu haben, aber auch Behauptungen, dass sie auf dem Berg Cerro Viejo ermordet und vergraben worden seien. Auch soll auch im Fall Julio César Mondragón geleistet werden. Der Student war am 27. September mit gehäutetem Gesicht aufgefunden worden. Eine kriminalistische Untersuchung hält das Offensichtliche fest: Die »Verletzungen« seien mit einem »scharfen Instrument« zugefügt worden. Der Autopsie zufolge sollen sie jedoch »durch die Einwirkung der Fauna« entstanden sein – angesichts der im Internet verbreiteten Bilder ein absurdes Ergebnis.

Die Kommission fordert in dem Bericht, die Verbindung zwischen organisiertem Verbrechen und Staatsapparat müsse unterbunden werden, sonst gebe es in Mexiko »weder Frieden noch Gerechtigkeit«. Sie kritisiert außerdem, dass die Behörden in Iguala die Sicherheit in der Stadt zur Zeit nicht ausreichend garantieren würden.

Besondere Tragik erhalten die Ereignisse in Iguala laut dem Dokument durch die »Funde von Leichen in Dutzenden geheimen Gräbern – ohne Namen, ohne Identität, zeitlos, ohne alles«. Wie der lateinamerikanische Fernsehsender TeleSur am Montag meldete, sind laut Staatsanwaltschaft bei der Suche nach den Studenten im Zeitraum von Oktober bis Mai über 60 Gräber mit 129 Leichen allein im Bezirk Iguala gefunden worden. Die Studenten sind nach aktuellen Ermittlungen nicht darunter.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Juli 2015


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