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"Ganz Mexiko hat ein Problem mit Gewalt gegen Frauen"

Die Rechte ist auf dem Vormarsch, es droht ein Rückfall in die Zeit vor 1917. Ein Gespräch mit Yésica Sánchez *

Yésica Sánchez aus dem mexikanischen Bundesstaat Oaxaca ist Anwältin und setzt sich vor allem für die Menschenrechte ein



Die Organisation »Consorcio«, für die Sie als Anwältin arbeiten, kämpft gegen die zunehmende Gewalt gegen Frauen in Mexiko. Was tut denn der Staat dagegen?

In Mexiko unterscheiden wir zwischen»homocidio« und »femicidio«, dem Mord an einem Mann und dem an einer Frau. Seit geraumer Zeit gibt es für letzteres eine Steigerung, den »feminicidio«. Dieser Begriff steht für die Kriminalität des Staates, die darin besteht, daß er sich hartnäckig weigert, den zunehmenen Morden an und der Gewalt gegen Frauen nachzugehen. Der Staat versagt den Frauen die Garantie auf ein sicheres Leben, auf körperliche und psychische Unversehrtheit sowie auf den Zugang zu Bildung und Justiz – wobei das alles doch seine eigentliche Aufgabe wäre. Gewalttätigen Männern wird damit signalisiert, daß sie mit Frauen machen können, was sie wollen. Strafen drohen ihnen kaum.

Die Stadt Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA hat wegen einer Serie von Morden traurige Berühmtheit erlangt – über 400 Frauen wurden dort von 1995 bis 2005 umgebracht. Politik, Wirtschaft und Drogenhandel haben die Justiz beeinflußt, die Fälle wurden niemals aufgeklärt. Geht es in Oaxaca auch so zu?

In unserem aktuellsten Bericht, dem für 2009, haben wir für Oaxaca eine Zunahme der Zahl von Vergewaltigungen, Gewaltdelikten, Entführungen und Morden an Frauen registriert. Eine erste Studie hatten wir 2004 der Regierung unseres Bundesstaates vorgelegt, die das Papier dann nach Mexiko-Stadt weiterleitete. Dort hat sich die Regierung wegen des enormen Drucks der Medien im Fall Ciudad Juárez ein wenig bewegt und eine Untersuchungskommission eingerichtet. Die kam zu dem Ergebnis, daß es das »feminicidio«-Phänomen in zehn von 31 Bundesstaaten Mexikos gibt.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt mußte allen klar sein: Ganz Mexiko hat ein Problem mit der Gewalt gegen Frauen – man darf das nicht auf Ciudad Juárez reduzieren. Oaxaca lag bei dieser Erhebung an der Spitze. Mindestens 600 Frauenmorde innerhalb der letzten zehn Jahre wurden nicht aufgeklärt. Jede Frau kann Opfer werden: Indigene, Mestizen, Weiße, Arme und Reiche.

Gab es Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen? Wird den Frauen jetzt geholfen?

So gut wie gar nicht. Bei Anzeigen wird dem Opfer sofort unterstellt, es habe den Mann zur Tat verführt, etwa durch einen Minirock. Das Justizsystem geht Verbrechen gegen Frauen weiterhin nicht nach und schafft so ein Klima der Straflosigkeit.

Die konservative Regierung von Felipe Calderón will jetzt das Recht auf Schwangerschaftsabbruch verbieten. Bisher konnten Frauen im Falle einer Vergewaltigung oder Gesundheitsgefährdung legal abtreiben ...

Im Bundesrat gäbe es die nötige Mehrheit für eine Verfassungsänderung im Sinn der Konservativen. Seit der Revolution 1910 und der Verfassung 1917 hatten die Frauen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Mit dem neuen Gesetz aber würden Frauen im Falle eines Abbruchs des Mordes angeklagt, sie müßten hohe Gefängnisstrafen fürchten. Was die Frauenrechte angeht, so fallen wir auf die Zeit vor 1917 zurück.

Was steckt hinter dieser Politik?

Die Rechte ist weiter auf dem Vormarsch – Mexiko ist politisch so rechts wie nie. Die »Partei der Institutionellen Revolution« (PRI), die das Land von 1929 an regierte und 2000 abgewählt wurde, rutscht nach rechts und erhofft sich durch Wertekonservatismus bessere Chancen auf eine Wiederwahl. Noch 2007 hatte das Oberste Bundesgericht das Recht auf Schwangerschaftsabbruch gestärkt. Sofort gingen PRI und die Calderón-Partei PAN ein Anti-Frauen-Bündnis ein, sie kämpfen gemeinsam für ein komplettes Verbot. Sie verhandeln schon jetzt miteinander, wer 2012 Präsident werden soll. Auch die Kirche, die ihren Einfluß im Staat entgegen der Verfassung immer mehr ausweitet, spielt eine wichtige Rolle. Gleichgeschlechtliche Ehen z.B. sind für sie ein Tabu.

Können linke Kräfte dem entgegenwirken?

Für die Linke bieten die Gegensätze eine Gelegenheit, sich klar zu positionieren und fortschrittliche Werte zu verteidigen. Im Juli finden in Oaxaca Wahlen für die Posten des Präfekten und der Bürgermeister statt.

Interview: Benjamin Beutler

* Aus: junge Welt, 5. Februar 2010


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