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"Seepferdchen" soll Flüchtlinge stoppen

Von Mauretanien nach Europa – oder in den Tod

Über 1200 Menschen sind allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres bei ihrer Flucht Richtung Kanarische Inseln ums Leben gekommen.

Von Alfred Hackensberger, Tanger*

Das Sonntagsmagazin der »New York Times« veröffentlichte kürzlich ein Foto von den Kanarischen Inseln: Am Strand ein Touristenpärchen unterm Sonnenschirm, im Hintergrund die aufgeblähte Wasserleiche eines Immigranten aus Schwarzafrika, die offensichtlich gerade angeschwemmt worden war. Die Situation der beliebten europäischen Ferieninseln vor der Küste Afrikas könnte kaum besser zum Ausdruck gebracht werden. Über 1200 Tote gab es allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres. Laut dem Roten Kreuz, das mit seinen Schätzungen in der Regel sehr zurückhaltend ist. Nur wenige der Toten werden an den Küsten der Kanarischen Inseln angeschwemmt, wo dann Touristen mit Kameras anrücken, bis sie von Polizei und Rettungskräften vertrieben werden.

Viele Immigranten werden »vom Meer verschlungen«. Ihre Boote sind für den rauen Seegang nicht gebaut und sinken irgendwann auf der rund 800 Kilometer langen Reise von der mauretanischen Küste zu den Kanarischen Inseln. Andere werden aufs offene Meer abgetrieben, sie verhungern und verdursten, wenn ihre Boote nicht schon vorher bei hohem Seegang gekentert sind. 2006 registrierten die spanischen Behörden rund 3500 Immigranten, fast so viele wie im gesamten Jahr 2005, in dem es 4700 waren.

Nach einjähriger Pause sind die Kanaren für Flüchtlinge und Menschenhändler offensichtlich wieder Reiseziel Nummer Eins. 2004 erreichten 8500 Menschen aus Afrika die spanischen Inseln. Damals noch von der marokkanischen Küste aus, die nur gut 100 Kilometer entfernt liegt. Nachdem marokkanische und spanische Behörden den Bootsverkehr fast gänzlich unterbanden, sind die Schmugglerbanden weiter in den Süden ausgewichen.

Zwischendurch schickte man die Immigranten ein Jahr lang wie gewohnt über Marokko nach Europa. Dort ärgern sich nun viele über die Wahl ihrer Reiseroute. »Wenn ich die Nachrichten höre«, sagt Jeffrey aus Nigeria, der sich in der Altstadt von Tanger versteckt, »dann möchte ich am liebsten meine Sachen packen und nach Mauretanien fahren. Schwupp, bin ich in Spanien, und das für wenig Geld.« Er flucht und stampft mehrmals auf den Boden. Anders als in Tanger, wo eine Fahrt nach Europa 1000 Euro kostet, müssen die Passagiere in Mauretanien nur etwa 500 Euro bezahlen. Oft kaufen sich mehrere Flüchtlinge zusammen ein »Pirouge« aus Holz oder Fieberglas, um so die Kosten pro Kopf fast um die Hälfte zu verringern. Zur Ausrüstung gehören auch Schwimmwesten, GPS zur Orientierung und ebenso Mobiltelefone, um die spanische Lebensrettung zu rufen. Das alles schützt aber nicht vor dem Risiko, auf dem Meer zu sterben.

»In Marokko ist es derzeit ruhig«, sagt Javier Gabaldon von »Ärzte ohne Grenzen« (MsF) in seinem Büro in Rabat. Momentan betreut die Hilfsorganisation nur rund die Hälfte der gewohnten 1500 Immigranten im Norden des Landes. »Das mit Mauretanien wird sich bald gelegt haben«, prognostiziert der Chefkoordinator in Marokko, »sobald sich herumspricht, dass die Leute zurückgeschickt werden.« 170 Afrikaner wurden bereits nach Mauretanien ausgeflogen. »Alle, die illegal nach Spanien kommen«, so die stellvertretende Premierministerin Maria Teresa Fernandez de la Vega, sollen so schnell wie möglich folgen.

Mauretanien nimmt zwar nur Immigranten aus Senegal und Mali auf, die jedoch stellen 90 Prozent aller Auswanderer. Ein Glücksfall für Spanien, das seine ungebetenen Gäste innerhalb der gesetzlichen Frist von 40 Tagen loswerden will. Nach dieser Zeit können sich Immigranten frei bewegen und tauchen in die Illegalität ab, wenn es keine Aussicht auf Papiere gibt. Mädchen in die Prostitution, Männer in den Drogenhandel.

Entsprechend einem Kooperationsabkommen vom März baut das spanische Militär in Mauretanien neue Auffanglager für Immigranten. »Das konnte man sogar im spanischen Fernsehen sehen«, sagt Javier Gabaldon von MsF. »Das Militär hämmernd und sägend in Afrika.« Die Regierung Mauretaniens habe keinerlei Erfahrung mit Immigration, meint er weiter. »Die sind hilflos und froh, wenn sie Unterstützung bekommen.« Bürger von 16 afrikanischen Ländern können nach Mauretanien ohne Visum einreisen. »Jeden Monat kommen etwa 1000 Afrikaner aus der Subsahara«, schätzt Sheik Mohamed Vall, Gouverneur der mauretanischen Küstenregion Nouadhibou. Berichten zufolge sollen es 10 000, manchmal 20 000 oder 30 000 Menschen sein, die in Mauretanien auf ihre Chance warten, ein Boot Richtung Europa zu besteigen. Für Mauretanien, das selbst nur drei Millionen Einwohner hat, sind die Immigranten eine allein nicht zu bewältigende

Aufgabe. Wie schon bei Marokko liefert Spanien auch dieses Mal bereitwillig Schnellboote, baut Überwachungsposten, trainiert Personal, gibt finanzielle und logistische Unterstützung. Die mauretanische Grenzpolizei ist neues Mitglied im EU-Grenzsicherungsprojekt »Seepferdchen«. Das afrikanische Schlupfloch nach Europa soll schnell gestopft werden.

»Organisierter Menschenhandel«, so Gabaldon, »hat signifikant zugenommen. Es wird bald kaum mehr unorganisierte Immigranten geben.« In Mauretanien haben die Menschenhändler in den ersten drei Monaten 2006 einen Umsatz von 2,5 Millionen Euro gemacht. Sobald es mit dem Geschäft in ein paar Monaten angesichts verstärkter Grenzsicherungen zu Ende geht, wird die Mafia neue Routen parat haben.

* Aus: Neues Deutschland, 6. April 2006


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