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Die "Freunde Libyens" zeigen sich ratlos

Machtprobe um Ölfrachter endet vorläufig mit einer Schlappe für die kaum noch vorhandene Zentralmacht

Von Mirco Keilberth, Tripolis *

Zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Gaddafis sind Libyens staatliche Strukturen dem Zerfall nahe. Am Montag haben Rebellen auf eigene Rechnung Öl verschifft. Der Premier soll abgesetzt worden sein.

Die zunehmend chaotische Lage in Libyen beunruhigt die ehemalige Kriegskoalition gegen Muammar Gaddafi. Neben dem alltäglichen Milizenterror symbolisierten zuletzt der Sturm auf das Übergangsparlament und die geringe Beteiligung bei der Wahl der Verfassungskommission, wie instabil die Machtverhältnisse derzeit sind.

Seit Dienstag ist die in Libyen herrschende Gesetzlosigkeit um eine Facette reicher. Ein mit illegal beschafftem Öl beladener Tanker aus Nordkorea verließ den Hafen Al-Sidra in der Cyrenaika. Die dortige selbst ernannte Autonomieregierung, die das Geschäft eingefädelt hatte, erklärte am Mittag im Internet, der Tanker befinde sich inzwischen in internationalen Gewässern. Das Verteidigungsministerium in Tripolis war am Dienstag nicht bereit, seine Niederlage einzugestehen. Regierungschef Ali Seidan hatte am Montag noch mit einem Angriff der Marine auf das Schiff gedroht.

Unerwartet kommt dies alles nicht. Vorige Woche hatte die westliche Allianz der »Freunde Libyens« zu einer Strategiesitzung in Rom geladen und auch die Gegner des NATO-geführten Angriffs von 2011 auf Libyen dazu gebeten. Neben den Außenministern der USA und Russlands, John Kerry und Sergej Lawrow, äußerten 40 Delegationen, darunter mehrere aus EU-Ländern, gemeinsam ihre Sorge um das nordafrikanische Land.

Uneinigkeit gab es hingegen in der libyschen Delegation. Der im Sommer 2012 gewählte Nationalkongress schickte seinen Präsidenten Nuri Abusahmain nach Italien, das Libyen rund 30 Jahre kolonial beherrschte und 1934 die drei Provinzen Cyrenaika, Fezzan und Tripolitanien unter dem Namen Libyen vereinigt hatte.

Seidan reiste auf eigene Faust an und führte auch Gespräche, fehlte jedoch auf offiziellen Gruppenbildern. Seit Monaten versucht der von religiös-konservativen Kräften dominierte Kongress, Seidan abzusetzen. Vor allem die Muslimbrüder werfen ihm vor, mit früheren Gaddafi-Getreuen zu paktieren. Am Dienstagnachmittag berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Lana, das Parlament habe Regierungschef Seidan per Misstrauensvotum abgesetzt.

Die Freunde Libyens begnügten sich in Rom mit einer Bestandsaufnahme der Lage. »In Libyen schwelen mehrere voneinander unabhängige Konflikte«, war ein viel gehörter Satz in den Hinterzimmern der Konferenz, einfache Lösungen seien nicht zu erwarten.

Deutschland und Frankreich kündigten eine Initiative an, die gigantischen Waffenlager in der Libyschen Wüste unter Kontrolle zu bekommen. Lokale Milizen in der Sahara berichten seit Langem von Konvois mit Luftabwehr- und Mittelstreckenraketen auf dem Weg nach Mali und nach Niger.

Ziel der deutsch-französischen Initiative ist es, den Bau provisorischer Waffensammellager zu unterstützen, um sie dem Zugriff der in der Sahara aktiven Al-Qaida-Gruppen zu entziehen. Die teilweise unbewachten Waffendepots aus der Gaddafi-Ära sind zum Arsenal für bewaffnete Konflikte von Syrien bis Zentralafrika geworden.

Ob es ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen war, sei dahingestellt. Aber am Tag der Konferenz lieferte die Regierung Nigers Saadi al-Gaddafi an Libyen aus, einen der sieben Söhne Muammar al-Gaddafis. Saadi wurde ins Hadba-Gefängnis in Tripolis gebracht, wo bereits andere Funktionäre aus der Gaddafi-Ära einsitzen. Der 40-Jährige hatte im Gegensatz zu seinem bereits inhaftierten Bruder Seif al-Islam während der Herrschaft seines Vaters keine politischen Ambitionen erkennen lassen. Bekannt war er vor allem für seine Fußballleidenschaft.

Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte, der prominente Gefangene solle wegen »Beteiligung an der gewaltsamen Unterdrückung der Revolution des 17. Februar« und »Aktivitäten zur Störung der Sicherheit und Stabilität Libyens« angeklagt werden. Während der Rebellion gegen seinen Vater hatte Saadi eine Militärbrigade befehligt.

Die Menschenrechtsorganisation »Human Rights Watch« forderte von den nigrischen Behörden eine Erklärung, warum sie davon überzeugt seien, dass Saadi al-Gaddafi in Libyen korrekt behandelt würde. Im Januar hatte die Organisation bereits die Umstände des Verfahrens gegen Saif Gaddafi beklagt, der gegen den Willen des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag in der im Nordwesten gelegenen Stadt Az-Zintan inhaftiert ist.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. März 2014


»Hauptquelle des illegalen Waffenhandels«

Libyen: Von der NATO an die Macht gebombtes Regime verliert immer mehr an Einfluß **

Drei Jahre nach dem Beginn des NATO-Bombenkrieges gegen Libyen und dem Sturz von Staatschef Muammar Al-Ghaddafi ist das nordafrikanische Land zu einer »Hauptquelle für illegalen Waffenhandel« geworden. Das erklärte der Vorsitzende des von den Vereinten Nationen eingerichteten Libyen-Sanktionskomitees, Eugene Gasana, am Montag (Ortszeit) vor dem UN-Sicherheitsrat in New York. Die 15 Mitglieder des Gremiums hatten die sich zuspitzende Lage in Libyen auf die Tagesordnung gesetzt und mußten eine verheerende Bilanz ziehen. »Radikale Kräfte« in mindestens 14 Ländern der Welt seien die Empfänger versteckter Rüstungsexporte aus Libyen, erklärte Gasana. Die Behörden seien nicht in der Lage, die Grenzen zu kontrollieren. Auch der Leiter der UN-Unterstützungsmission für Libyen (UNSMIL), Tarek Mitri, warnte, das Land könne vor einer »neuen Serie von Gewalt unvorhersehbaren Ausmaßes« stehen. Die Sicherheitslage habe sich in den vergangenen Monaten verschlechtert, die politische Zersplitterung habe zugenommen, hieß es in der von der UNO verbreiteten Zusammenfassung seines Beitrags.

Unterdessen hat am Dienstag ein mit Öl beladener Tanker unter nordkoreanischer Flagge offenbar den libyschen Hafen Al-Sidra verlassen. Das berichteten arabische Medien und Angehörige einer örtlichen Miliz von Aufständischen, die das Geschäft eingefädelt hatte. Die selbsternannte »Autonomieregierung« in der Stadt Adschdabija hatte das Öl an den libyschen Behörden vorbei an einen bislang unbekannten Empfänger verkauft. Regierungschef Ali Seidan hatte daraufhin mit einem Angriff der Marine auf das Schiff gedroht. Der Tanker befinde sich jedoch inzwischen in internationalen Gewässern, hieß es. Derzeit werden mindestens drei libysche Häfen von Rebellengruppen kontrolliert, die sich dem Regime in Tripolis widersetzen. Als Reaktion darauf setzte das Parlament am Dienstag Regierungschef Ali Seidan ab.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. März 2014


Zerrissenheit und Staatszerfall

Libyen: Milizen und Islamisten verhindern Stabilisierung

Von Michael Streitberg ***


Auch zweieinhalb Jahre nach dem von der NATO herbeigebombten Sturz des langjährigen libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi und dessen Ermordung durch bewaffnete Banden kommt das nordafrikanische Land nicht zur Ruhe. Eine Entwaffnung der am Sturz der Regierung beteiligten Milizen hat sich als unmöglich erwiesen. Während zunehmende Gewalt zwischen den rivalisierenden Gruppen und Übergriffe religiöser Fanatiker eine politische Stabilisierung verhindern, wächst in der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit der Übergangsregierung in Tripolis.

Diverse Milizen, die sich aus am Sturz Ghaddafis beteiligten Kämpfern rekrutieren, bilden noch heute »Staaten im Staat«, die sich keiner anderen Autorität als ihrer eigenen unterwerfen. Im vergangenen Jahr schätzten staatliche Stellen die Anzahl der Milizionäre auf 250000, berichtete die österreichische Tageszeitung Die Presse im November. Unter ihnen kommt es immer wieder zu Kämpfen. So griff der islamistische Verband »Schild Libyens«, der die Sicherheitskräfte der Zentralregierung dominiert, zugleich aber seine eigenen Interessen verfolgt, Beduinen-Milizen aus dem Westen des Landes an. Im Ostteil operierende Gruppen fordern einen höheren Anteil an den Gewinnen aus dem Ölexport. In den von ihnen kontrollierten Gebieten befinden sich die meisten Rohstoffvorkommen des Landes. Im vergangenen Oktober riefen einige von ihnen einen eigenen Staat unter dem Namen Barqua aus. Die Zentralregierung ist somit immer weniger in der Lage, dem zunehmenden Staatsverfall Einhalt zu gebieten.

Der Vorsitzende des in der Vorbereitungsphase der NATO-Angriffe 2011 auf Druck der westlichen Staaten gebildeten Libyen-Sanktionskomitees, Ruandas UN-Botschafter Eu­gene Gasana, erhob vor dem Sicherheitsrat schwere Vorwürfe. Das Land sei nicht in der Lage, seine Grenzen zu kontrollieren und ließe es daher zu, daß Waffen in die Hände »radikaler Elemente« fielen, zitierte der Moskauer Fernsehsender Russia Today am Montag den Diplomaten.

Religiöse Fanatiker, allen voran salafistische Gruppen, destabilisieren Libyen weiter. Waren fundamentalistische Strömungen unter Ghaddafi noch marginalisiert, erhalten sie seit dem Umsturz Zulauf. Nicht nur koptische Christen, sondern auch andere Strömungen des Islams werden zum Ziel ihrer Angriffe. So zerstörten mutmaßliche Salafisten im August 2012 eine Moschee in Tripolis, deren Besucher dem Sufismus zuzurechnen waren. Sie verprügelten den Imam und rissen das Gotteshaus mit Bulldozern nieder.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. März 2014


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