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Enttäuscht von der Demokratie

Schlechte Sicherheitslage und große Wirtschaftsprobleme überschatten die Wahl in Libyen

Von Mirco Keilberth, Tripolis *

Beobachter befürchten neue Gewaltausbrüche am Wahltag in Libyen. Denn seit Mitte Mai tobt ein von abtrünnigen Soldaten initiierter Krieg gegen radikal-islamische Milizen.

Das zweite Mal nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi bestimmen die Libyer am Mittwoch ein neues Übergangsparlament. Die 200 Abgeordneten des so genannten Repräsentantenhauses lösen den Nationalkongress ab, der vor zwei Jahren bei den ersten freien Wahlen in der Geschichte Libyens landesweit gewählt worden war. Während der dreiwöchigen Wahlkampfphase hatten die Kandidaten kaum Möglichkeiten, ihr Programm vorzustellen. Parteien wurden nicht zugelassen, nachdem im Vorjahr überall im Land Parteibüros von empörten Bürgern geschlossen wurden. Die Leute hatten die Parteifunktionäre aller politischen Richtungen als Lobbyisten wahrgenommen. Unter Gaddafi waren Parteien verboten. »Ohne Verfassung und staatliche Strukturen werden die Wähler sowieso nach der Persönlichkeit der Kandidaten und nicht nach irgendeinem Wahlprogramm abstimmen, das niemals umgesetzt wird«, sagt Ibrahim Shebani aus Tripolis, der Herausgeber des Magazins »The Libyan«.

In Cafés und Moscheen beherrscht nur ein Thema die Diskussionen: die schlechte Sicherheitslage. Wie wenig die Neupolitiker zum Chaos im Lande zu sagen haben, zeigte sich bei den Kandidatenpräsentationen, die erstmals in Bengasi stattfanden. »Das sind für viele die ersten Schritte in der Politik«, beklagt eine Studentin, die verzweifelt nach Informationen über die auf der Kandidatenliste verzeichneten Namen ist. »Ich weiß noch nicht wen, aber ich wähle schon aus Prinzip«, sagt sie trotzdem.

Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten hat sich registrieren lassen. Der Frust über das Auftreten des Nationalkongresses sitzt tief. Ursprünglich hatten die Abgeordneten ihr Mandat im Frühjahr eigenmächtig verlängert. Erst nach wütenden Bürgerprotesten stimmten sie der Wahl eines Nachfolgeparlamentes wenige Tage vor Ramadan zu. Für Schlagzeilen sorgte dann die erste Sitzung, in der die Kongressabgeordneten ihr Monatsgehalt verdoppelten.

Auch die nebulöse Abwahl von Premierminister Ali Seidan ließ die Umfragewerte des Übergangsparlamentes ins Bodenlose fallen. Die dominierende islamistische Fraktion bekam erst nach der offiziellen Schließung der Tagung die nötigen 120 Stimmen zusammen und setzte nach Abschaltung der Kameras Ahmed Al Thinni als Premier ein. Als den religiös-konservativen Kräften auch dessen Entscheidungen nicht gefielen, ließen sie ihn ebenfalls fallen. »Der Kongress hat den Glauben der Libyer an die Demokratie tief erschüttert. Aber das Eingreifen des Verfassungsgerichts hat den Politikern auch gezeigt, dass sie nicht das letzte Wort haben«, kommentiert der Experte Anas al-Gomati das Veto der Richter.

Wie die Wahlkommission HNEC am Dienstag bekannt gab, werden auch in Bengasi alle Wahlbüros geöffnet sein. Zur Zeit befindet sich die Hauptstadt der Provinz Cyrenaika im Kriegszustand. Immer wieder greift die so genannte Nationale Armee von General Khalifa Hafter die islamistischen Milizen Ansar Sharia aus der Luft an. Hafter unterstellt einigen Kongressabgeordneten und dem Verteidigungsministerium, den Aufbau von Polizei und Armee bewusst zu hintertreiben. »Mit Al Qaida verbündete Islamisten haben aus Libyen eine Basis für ihren Kampf für ein Kalifat von Mali bis Syrien gemacht. Wir stellen uns ihnen nun in den Weg«, so der 72-Jährige, der 2011 aus dem US-amerikanischen Exil zurückkehrte.

Ansar Sharia und die verbündete Milizenpolizei Derra Libya (Schutzschild Libyens) demonstrierten mit der Besetzung des staatlichen Krankenhauses und des Hafens ihre Präsenz; mindestens zehn Tote waren bei der Aktion zu beklagen. Die islamistischen Kämpfer bestätigten damit Spekulationen, dass die täglichen Erfolgsmeldungen von Hafters Allianz wohl nicht ganz der Realität entsprechen. Viele Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die religiös-konservativen Kräfte bei den Wahlen schlecht abschneiden. Die Willkür ihrer Milizen hat den ehemaligen »revolutionären Kämpfern« viel Sympathie gekostet.

»Libyens steht am Scheideweg«, so ein ausländischer Diplomat. »Wenn sich alle Konfliktparteien verständigen, gibt es durch das Öl genug Wohlstand für künftige Generationen. Wenn der Konflikt in Syrien und Ägypten aber auf Libyen übergreift, könnte es auch zu einem langen Bürgerkrieg kommen.« Hafter behauptet, dass bereits Selbstmordattentäter aus Syrien über Misratah nach Libyen eingereist wären. In Tripolis hat sich die Lage nach monatelangen Scharmützeln beruhigt. Immer wieder werden die Bürger aber von Stromausfällen und Benzinknappheit geplagt. In den kilometerlangen Staus vor den Zapfsäulen kommt es zu Auseinandersetzungen. Wie groß die Herausforderungen des neuen Übergangsparlamentes sein werden, zeigt auch die Blockade der Ölhäfen.

Obwohl im Tubruker Hafen Hariga dieser Tage erstmals wieder ein Tanker anlegte, halten die »Föderalisten« um Ibrahim Jardran drei andere Häfen weiterhin besetzt. Sie fordern, dass die Cyrenaika-Provinz an dem Erlös mit 15 Prozent beteiligt wird. Seit vergangenem Sommer schwinden durch den Einbruch des Ölexports von zuvor täglich 1,3 Millionen Barrel Öl auf rund 100 000 Barrel die Devisenreserven rapide. Schon jetzt druckt die Zentralbank Geld nach. Erstmals nach dem Sturz von Gaddafi konnten in den Ministerien keine Löhne gezahlt werden. » Es ist mir völlig egal, wer in das Repräsentantenhaus gewählt wird«, sagt denn auch der Wahlhelfer Mohamed Assul in Daha, einem Bezirk von Tripolis. »Hauptsache sie finden schnell eine Einigung mit den Föderalisten. Denn wenn das Geld knapp wird oder die große Inflation kommt, wird aus dem jetzigen Chaos eine richtige Katastrophe.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 25. Juni 2014


Langwieriger Übergang

Machtpoker vorm Urnengang

Am 25. Juni sind die rund drei Millionen wahlberechtigten Libyer aufgerufen, ein neues Übergangsparlament zu wählen. Die 200 Abgeordneten des Repräsentantenhauses werden auf ihrer ersten Sitzung nach dem Ramadan einen neuen Premierminister bestimmen. Der derzeitige Premier Abdullah Al Thinni wurde nach der Absetzung seines Vorgängers Ali Seidan nur als Übergangslösung ins Amt gewählt.

Beobachter bezweifeln, dass der im Kongress vorherrschende Machtkampf zwischen religiösen und liberalen Kräften nun ein Ende findet. Schon jetzt scheinen zwischen Muslimbrüdern, Islamisten und Stämmen Absprachen stattzufinden. Entscheidend für die Machtverteilung wird sein, wie die Kandidaten der ehemaligen 70-Parteien-Allianz von Mahmoud Jibril abschneiden. Vielen der zu Gaddafi-Zeiten gut vernetzten liberalen Politiker werden gute Chance eingeräumt. Würde sich die Machtbalance zu Ungunsten der Islamisten verschieben, befürchten viele Tripolitaner mehr Gewalt der religiösen Milizen.

Die Milizen hatten im letzten Jahr mit Gewalt das sogenannte Isolationsgesetz durchgesetzt, indem sie mehrere Ministerien umstellten und Abgeordnete bedrohten. Mit dem Isolationsgesetz wurden alle Funktionäre von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, die nach 1969 mindestens mittlere Managementpositionen innehatten. Dadurch verloren über Nacht etliche Ministerien einen großen Teil ihrer Fachleute. Seit Beendigung der Kämpfe Ende 2011 ist es der Regierung daher nicht gelungen, staatliche Großprojekte wieder anlaufen zu lassen und ausländische Investoren ins Land zu holen, die dringend benötigte Arbeitsplätze schaffen würden.

Ohne die Ankurbelung der Wirtschaft werden die Milizen nicht entwaffnet werden können, die hauptsächlich aus perspektivlosen jungen Männern bestehen.

Warten auf die Verfassung

Die im Frühjahr gewählte verfassunggebende Versammlung arbeitet unter dem Vorsitz des Liberalen Ali Tarhouni an einem Verfassungsentwurf. Die 60-köpfige Expertenrunde tagt in Al-Beida östlich von Bengasi, der alten Hauptstadt Libyens. Über deren Verfassungsvorschlag wird im September in einem Referendum abgestimmt. Erst mit Annahme der Verfassung und neuerlichen Parlamentswahlen wird Libyens Übergangsphase enden.

Völlig unklar bleibt, wie sich die zahlreichen Milizen verhalten werden, die meist mit politischen Parteien oder Politikern verbündet sind. Erst mit dem Aufbau von Polizei und Armee, die derzeit kaum in Erscheinung treten, wird das künftige Parlament arbeiten können. In den letzten Monaten wurde der Nationalkongress mehrmals von Milizen gestürmt. mk


Zweifel an den Gerichten in Tripolis

Umstrittener Prozess gegen Gaddafis Sohn

Die libysche Justiz setzt ungeachtet internationaler Auslieferungsforderungen den Prozess gegen den Sohn des früheren Staatschefs Muammar al-Gaddafi, Saif al-Islam, fort. Am Sonntag verhandelte nach Angaben der Nachrichtenagentur Lana das Gericht in der Hauptstadt Tripolis weiter im Verfahren gegen ihn und 36 weitere hochrangige Funktionäre der einstigen Volksjamahiriya, dem von Gaddafi in den 70er Jahren erfundenen »Gemeinwesen der Volksmassen«. Er selbst war im Oktober 2011 gestürzt und ermordet worden.

Mehrere Angeklagte sind gar nicht anwesend, sondern werden aus anderen Städten per Videokonferenz zugeschaltet, etwa aus Misratah und Sintan. Das gilt unter internationalen Juristen als nicht rechtsstaatlich, weil so die Rechte der Angeklagten und ihrer Anwälte im Gerichtssaal nicht gewahrt werden könnten.

Diese Maßnahme wird damit begründet, dass die Privatmilizen, in deren Händen sich die Angeklagten befinden, nicht mit den zentralen Behörden zusammenarbeiten. Sie hätten kein Vertrauen in die Gerichtsbarkeit und hielten sie für »von ausländischen Agenten« unterwandert. Wahrscheinlich wollen die jeweiligen Milizen nur sichergehen, dass es am Ende des »Prozesses« auf jeden Fall ein Todesurteil gibt.

Auch Saif al-Islam wird in Sintan gefangengehalten. Ihm hat man bereits zu verstehen gegeben, dass im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe sicher sei. Der Internationale Strafgerichtshof fordert auch deshalb seine Auslieferung »wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit« nach Den Haag. Menschenrechtsgruppen sehen die libyschen Behörden nicht willens oder in der Lage, einen fairen Prozess zu führen. Die Anklageschriften in Libyen lauten größtenteils auf Korruption oder Kriegsverbrechen. roe

(nd, 25.06.2014)




Abstimmung im Chaos

Libyen: Exgeneral präsentiert sich vor Parlamentswahl als Hoffnungsträger

Von Gerrit Hoekman **


Mit Blick auf die Parlamentswahlen in Libyen am heutigen Mittwoch kündigte Chalifa Haftar Ende Mai im US-Fernsehsender CNBC an: »Zuerst kämpfen, dann wählen« Der 71jährige pensionierte General ist der Mann der Stunde, seit von ihm kommandierte Einheiten der libyschen Nationalarmee vor etwas mehr als einem Monat in Bengasi begannen, gegen islamistische Milizen vorzugehen, die Teile der zweitgrößten Metropole des Landes kontrollieren. Gleichzeitig stürmten seine Soldaten das provisorische Parlament in Tripoli, in dem die Islamisten dominieren.

»Operation Würde« hat Haftar seine Offensive getauft, die er fortführen will, bis der letzte Gotteskrieger verjagt ist. »Wenn das passiert, werden wir Wahlen haben«, zeichnete Haftar vor drei Wochen seine Vision von Libyens Weg in die Demokratie. »Wir werden genug Zeit brauchen, um diese Wahlen vorzubereiten, und dann wird das libysche Volk entscheiden.« Das wichtigere Ziel sei erst einmal die Stabilität im Land. Haftar wird von vielen antiislamistischen Kräften unterstützt.

Vor 14 Tagen meldete die Nachrichtenagentur Reuters, Haftar verspreche, am Wahltag die Waffen ruhen zu lassen. Hinter dem plötzlichen Sinneswandel vermuten die einen politisches Kalkül in eigener Sache, die anderen den amerikanischen Geheimdienst. Die Wahl geht auf eine Initiative der Vereinten Nationen zurück, die hoffen, damit das politische Chaos zu beseitigen. Der Westen unterstützt die Idee. Nicht wenige befürchten allerdings, ein Sieg der Islamisten, den alle erwarten, werde das Land erst recht in den Bürgerkrieg führen.

Chalifa Haftar ist ein glühender Anhänger der Ikone der arabischen Einheit, Gamal Abdel Nasser. Religion hat für ihn in der Politik nichts zu suchen. 1969 gehörte Haftar zu den Offizieren um Muammar Al-Ghaddafi, die König Idris stürzten. Der »Revolutionsführer« ernannte ihn zum Armeechef. Im Krieg gegen den Tschad (1978-1987) erreichte Haftar zunächst Heldenstatus, fiel aber nach der entscheidenden Niederlage in der Schlacht von Maaten as-Sara bei Gaddafi in Ungnade. Er geriet in Kriegsgefangenschaft, später gelang ihm die Flucht, vermutlich mit Hilfe der CIA. Fast 20 Jahre lebte er erst in England, später im US-Bundesstaat Virginia. Als 2011 die Revolte gegen Ghaddafi begann, kehrte er zurück.

Haftar wollte sich als Demokrat in Uniform präsentieren und General Abdel Fattah Al-Sisi nacheifern, der seit kurzem Präsident in Ägypten ist. Al-Sisi geht hart gegen die Muslimbrüder und andere Islamisten vor. »Dies kann in Libyen unmöglich genauso geschehen, denn das komplette Volk ist bewaffnet«, droht Baschir Al-Kebti, ein Führer der libyschen Muslimbrüder, so die Deutsche Welle. Für die antiislamistischen Libyer wird der alte General mehr und mehr zum Hoffnungsträger. Bei Kundgebungen tauchen inzwischen Schilder auf: »Ja zur Würde!« oder »Libyen stellt die Würde wieder her!«

»Das ist nicht das Auftreten eines einzelnen Generals, sondern hier zeigt sich die gesamte libysche Bevölkerung. Die Grenzschutztruppen und viele andere Armeeeinheiten, aber auch viele Vertreter der Zivilgesellschaft sowie 40 bis 45 Mitglieder des Parlaments, zahlreiche Politiker und ehemalige Abgeordnete – sie alle haben sich hier zusammengetan, um das Land aus der Krise zu führen«, sagt der ehemalige Premierminister Ali Saidan in einem Interview mit der Deutschen Welle. Im März setzte ihn das Parlament ab, in dem die Islamisten dominieren. Er war diesen zu liberal.

Die Bedingungen für die Wahlen heute sind äußerst ungünstig: Das Land ist ein Flickenteppich aus Regionen, in denen Stämme und Warlords das Sagen haben. Bewaffnete Banden terrorisieren die Bevölkerung, erpressen Schutzgeld, entführen Politiker und Geschäftsleute. Wo die Ansar Al-Scharia regiert, der libysche Ableger der Al-Qaida, gelten die Regeln eines Gottesstaates. Die Übergangsregierung in Tripoli hat die Kontrolle verloren, das Land versinkt im Chaos.

Welche Macht das neue Parlament, in dem von den 200 Sitzen 30 für Frauen reserviert sind, vor diesem Hintergrund hat, steht in den Sternen, vermutlich aber wenig.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 25. Juni 2014


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