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Einheitsregierung oder Kalifat

Während sich in Libyen zwei Lager bekriegen, sind IS-Kämpfer auf dem Vormarsch

Von Mirco Keilberth, Tripolis *

In der marokkanischen Stadt Skhirat nahe Rabat verhandelten Vertreter der verfeindeten libyschen Lager. Das Treffen endete ohne Annäherung.

Die Zeit für eine friedliche Lösung der kriegerischen Konfrontation in Libyen läuft ab - so lautet die Warnung von UN-Vermittler Bernardino León. Der einst reichste Staat Afrikas stehe unmittelbar vor dem völligen Zusammenbruch. Nach dem drastischen Rückgang der Ölförderung verfügt keine der beiden verfeindeten Seiten über genügend Geld, Löhne und Rechnungen zu bezahlen.

In dem entstandenen Machtvakuum rücken nun die Anhänger des Islamischen Staates (IS) in Irak und Syrien auch in Libyen weiter vor. Nach der Einnahme von Sirte, einst Hochburg des 2011 getöteten Staatschefs Muammar al-Gaddafi, bereiten die Einheiten des IS den Sturm auf die Förderanlagen des «Ölhalbmondes» vor, wo ein Großteil der libyschen Ölvorkommen liegt.

Nach mehreren Selbstmordanschlägen auf die in Tripolis regierenden islamistischen Milizen der Fadschr (Morgendämmerung)-Allianz, geben sich deren moderate Kräfte nun kompromissbereit, obwohl sie ihre Forderung nach Anerkennung im Westen damit noch nicht durchsetzen konnten. Die EU droht den Extremisten beider Parteien mit Sanktionen und möchte ein Abkommen vor dem am 18. Juni beginnenden Ramadan erreichen. «Beide Seiten sollten sich gegen die Extremisten des Islamischen Staates verbünden», so León, «die Mehrheit der Libyer möchte ein Ende des Blutvergießens.»

Mehr als 400 000 Menschen sind vor den Kämpfen in Bengasi, Sirte und südlich von Tripolis geflohen, täglich kommen Lastwagen mit Migranten an der libyschen Mittelmeerküste an. Die Vermittler der Schmugglernetzwerke in Westafrika versprechen den Arbeitsuchenden, sie könnten sich auf libyschen Baustellen in wenigen Wochen das Geld für die Überfahrt nach Italien verdienen.

Doch spätestens nachdem vermummte Extremisten letzte Woche 89 christliche Eritreer entführten und es auf der Küstenstraße bei Zawiyya zu Kämpfen kam, wollen sogar langjährige Gastarbeiter einfach nur weg.

Mit der steigenden Hitze wird auch die Lage in den zwölf Internierungslagern für illegale Migranten verzweifelter. Die Leiterin des Roten Halbmondes, Hania Adieg, beklagt die mangelnde medizinische Versorgung der meist willkürlich auf der Straße festgenommenen Afrikaner. Die Freiwilligen des Roten Halbmonds besuchen die Gefangenen regelmäßig. «Wir benötigen dringend Babynahrung, Decken und Medikamente. Durch den Krieg fehlt es auch den Libyern an allem.

Mit Verwunderung berichtet die 55-jährige Ärztin, dass ihre Anfragen bei internationalen Organisationen meist unbeantwortet bleiben. »Die wirkliche humanitäre Krise am südlichen Mittelmeer findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt«, sagt sie. »In der Sahara sterben noch viel mehr Flüchtlinge als auf hoher See.«

Im Stich gelassen fühlt sich auch Mohamed Zadma, der Kommandeur der 166. Brigade in der Küstenstadt Misrata. Vor drei Tagen hat der 33-jährige Ingenieur drei seiner Männer bei einem Angriff auf einen Kontrollpunkt verloren. Zadma beklagt, dass seine Truppe über Monate vergeblich von der Regierung in Tripolis Nachschub an Waffen gefordert hatte. »Wir haben den Extremisten, die sich seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet, haben nur wenig entgegenzusetzen«, sagt er.

Neben dem Flughafen von Sirte sind den stets maskierten und militärisch gut trainierten IS-Einheiten nun auch Kontrollstellen des »Man Made River«-Projektes in die Hände gefallen. Die Pipeline versorgt die Küstenstädte mit Trinkwasser aus unterirdischen Vorkommen in der Sahara.

Die schnelle Expansion des IS, eine Allianz ehemaliger Regimeanhänger und ausländischer Freiwilliger, überrascht sowohl Hauptstädter als auch politische Analysten. Wie in Irak haben sich die mehr als 3000 Kämpfer mit Militärs verbündet, die von der ersten Nach-Gaddafi-Regierung 2012 mit dem sogenannten Isolationsgesetz ins Exil gedrängt worden waren. Auch die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit treibt immer mehr junge Männer in die Reihen zwielichtiger Milizen, der IS zahle aber am besten, berichten Männer in einem Café in Tripolis. Ein Student zeigt auf das Display seines Smartphones. Die französische Nummer stammt von einem Werber der Extremisten, der ihn gestern angerufen habe, sagt er.

Gezielt versucht der IS, vor allem in Flüchtlingslagern oder unter den ins Exil nach Tunesien geflohenen jungen Männern für sich zu werben.

Es winken 2000 Euro monatlicher Sold, Treffpunkt sei Ben Guardene in Südtunesien, von wo es weiter in die Ausbildungslager in Libyen gehe.

Sollte es in Berlin gelingen, ein Abkommen über eine Einheitsregierung durchzusetzen, wird Europa wohl auch für deren Sicherheit sorgen müssen, geben einige Diplomaten besorgt zu bedenken.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 11. Juni 2015


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