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Flüchtlingspolitik der EU

Libyen wird zur tödlichen Falle für Flüchtlinge *

11. Mai 2015 - Flüchtlinge und Migranten werden in Libyen regelmäßig ausgeraubt, gefoltert, entführt und sexuell missbraucht. Das stellt Amnesty International in einem heute veröffentlichten Bericht fest. Auch gezielte Gewalt islamistischer Gruppen gegen Christen, zumeist aus Ägypten, Äthiopien, Eritrea und Nigeria, dokumentiert der Bericht. Zuletzt tötete der sogenannte Islamische Staat 49 Christen in Libyen.

Die von der EU angestrebte Zerstörung von Schlepperbooten würde die Situation für Ausländer in Libyen nach Ansicht von Amnesty nur noch verschärfen. "Wenn die EU ihre Pläne umsetzt, sitzen die Flüchtlinge vollends in der Falle", sagt Selmin Çalışkan, die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. "Da auch Ägypten und Tunesien beginnen, ihre Grenzen zu schließen, bleibt ihnen der gefährliche Weg über das Mittelmeer als einzige Chance, der zunehmenden Gewalt und Grausamkeit in Libyen zu entkommen." Es wird erwartet, dass heute die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini die geplante Zerstörung von Schlepperbooten mit dem UNO-Sicherheitsrat diskutiert.

Amnesty International fordert von der EU, eine gemeinsame Seenotrettung auf dem Mittelmeer einzurichten, deren Einsatzgebiet bis vor die libysche Küste reicht, und deutlich mehr Aufnahmeplätze für Flüchtlinge in der EU zu schaffen. "Ohne sichere und legale Fluchtwege bleibt Tausenden nichts anderes, als sich in die Hände skrupelloser Schlepper zu begeben", stellt Çalışkan fest. Angesichts der zunehmenden Gewalt in Libyen fordert Amnesty aber auch die Nachbarländer Tunesien und Ägypten auf, ihre Grenzen für Flüchtlinge offen zu halten. "Die immer dramatischere Situation in Libyen treibt auch Menschen in die Flucht, die dort seit Jahren Arbeit und Schutz gefunden hatten."

Der Amnesty-Bericht mit dem Titel 'Libya is full of cruelty': Stories of abduction, sexual violence and abuse from migrants and refugees beschreibt Fälle von Entführung, Erpressung, Vergewaltigung und Folter durch Schmuggler und bewaffnete Banden auf dem Weg nach und durch Libyen ebenso wie die grausame Behandlung in den Flüchtlingslagern, in denen libysche Behörden Männer, Frauen und Kinder auf unbestimmte Zeit einsperren.

"Die Zustände in Libyen hat die Staatengemeinschaft durch ihre Untätigkeit mitverschuldet", sagt Çalışkan. "Seit dem Ende des Nato-Militäreinsatzes 2011 haben westliche Staaten tatenlos zugesehen, wie Libyen in Gesetzlosigkeit versinkt und bewaffnete Gruppen das Land ins Chaos stürzen. Sie dürfen jetzt nicht einfach das Leid der Flüchtlinge und Migranten in Libyen ignorieren."

* Aus: Website von amnesty international, 11.05.2015; https://www.amnesty.de/2015/5/11/libyen-wird-zur-toedlichen-falle-fuer-fluechtlinge?destination=startseite


Amnesty: Libyen wird zur tödlichen Falle für Flüchtlinge

Menschenrechtler warnen EU davor, massiv gegen Schlepper vorzugehen **

Berlin/London. In Libyen werden Flüchtlinge und Migranten nach Angaben von Menschenrechtlern regelmäßig ausgeraubt, gefoltert, entführt und sexuell missbraucht. Auch gezielte Gewalt islamistischer Gruppen gegen Christen aus Ägypten, Äthiopien, Eritrea und Nigeria sei an der Tagesordnung, erklärte Amnesty International in einem am Montag in Berlin und London veröffentlichten Bericht. Zuletzt habe die Terrormiliz «Islamischer Staat» 49 Christen in Libyen getötet.

Von Libyen aus versuchen viele Flüchtlinge, per gefährlicher Bootsfahrt über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Amnesty warnte aber vor Überlegungen der Europäischen Union, massiv gegen die Schleuser vorzugehen. Die von der EU angestrebte Zerstörung von Schlepperbooten würde die Situation für Ausländer in Libyen noch verschärfen. «Wenn die EU ihre Pläne umsetzt, sitzen die Flüchtlinge vollends in der Falle», sagte Selmin Caliskan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland.

«Da auch Ägypten und Tunesien beginnen, ihre Grenzen zu schließen, bleibt ihnen der gefährliche Weg über das Mittelmeer als einzige Chance, der zunehmenden Gewalt und Grausamkeit in Libyen zu entkommen.» Es wird erwartet, dass die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini an diesem Montag die geplante Zerstörung von Schlepperbooten mit dem UN-Sicherheitsrat diskutieren wird. Nach dem Tod von Tausenden Bootsflüchtlingen plant die EU nach einem Bericht der «Welt am Sonntag» erstmals ein Aufnahmelager im westafrikanischen Niger, um Flüchtlinge über Asylmöglichkeiten in Europa zu informieren. Anträge sollen dort aber nicht bearbeitet werden.

Amnesty fordert von der EU, eine gemeinsame Seenotrettung auf dem Mittelmeer bis vor die libysche Küste aufzubauen und deutlich mehr Aufnahmeplätze für Flüchtlinge in der EU zu schaffen. «Ohne sichere und legale Fluchtwege bleibt Tausenden nichts anderes, als sich in die Hände skrupelloser Schlepper zu begeben, warnte Caliskan. Auch die Nachbarländer Tunesien und Ägypten müssten ihre Grenzen für Flüchtlinge offen halten.

Caliskan sieht den Westen in der Verantwortung. »Die Zustände in Libyen hat die Staatengemeinschaft durch ihre Untätigkeit mitverschuldet«, erklärte sie. »Seit dem Ende des Nato-Militäreinsatzes 2011 haben westliche Staaten tatenlos zugesehen, wie Libyen in Gesetzlosigkeit versinkt und bewaffnete Gruppen das Land ins Chaos stürzen. Sie dürfen jetzt nicht einfach das Leid der Flüchtlinge und Migranten in Libyen ignorieren.«

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 12. Mai 2015


Quoten gegen Menschen

EU-Kommission stellt neues Konzept für den Umgang mit Flüchtlingen vor. Das Schicksal der vor Krieg und Elend Fliehenden spielt keine Rolle

Kommentar von jW-Chefredakteur Arnold Schölzel (voller Text) ***


»Das Geschäft mit den Flüchtlingen im Mittelmeer sei ›nicht nur ein humanitärer Notstand, sondern auch eine sicherheitspolitische Krise‹. Das kommt einem Völkermord gleich, denn gemeint ist die Sicherheit von EU-Europäern, nicht die von Flüchtlingen. Angesichts solcher Gefahr ist verständlich, dass mehrere EU-Staaten unter Federführung Frankreichs und Großbritanniens an einer UN-Resolution arbeiten, die laut AFP ›alle notwendigen Mittel‹ gegen Schleuserboote legitimieren würde. Die Formel ist bekannt, sie ist die des Blankoschecks.

Ob die Doppelgleisigkeit des Westens Russland und Afrikaner überzeugt, ist noch offen. Käme die Resolution zustande, wäre die Bundesmarine dabei. Sie ist schon vor Ort, ›unbegrenzt‹, wie die Verteidigungsministerin am Dienstag erklärte. Der nächste, besser ›begründete‹ Krieg in Libyen findet nicht mehr ohne ›uns‹ statt.«

Die EU-Kommission hat in Brüssel ihre Vorschläge für eine Reform der Migrationspolitik vorgestellt. Noch vor Ende des Monats soll demnach ein zeitlich befristetes Quotensystem für Menschen eingeführt werden, »die eindeutig internationalen Schutz in der EU benötigen«, erklärte die Behörde am heutigen Mittwoch in Brüssel. Ende des Jahres werde dann ein Vorschlag für ein dauerhaftes gemeinsames EU-System für »krisenbedingte Umsiedlungen infolge eines Massenzustroms von Migranten« folgen«, hieß es im seelenlosen Bürokratensprech.

Kriterien für die Verteilung der Menschen sollen unter anderem die Wirtschaftsleistung des jeweiligen Landes, die Bevölkerungszahl und die Arbeitslosenquote sein. Damit wäre die bisherige »Dublin II«-Regelung, nach der Flüchtlinge in dem EU-Land bleiben müssen, das sie zuerst erreicht haben, praktisch vom Tisch. Deutschland und andere zentral gelegene Staaten hatten dieses System bisher gegen Länder wie Italien oder Griechenland verteidigt. Nun aber unterstützt Berlin die Vorschläge der EU-Kommission. »Der Umschwung geht nicht auf die Einsicht zurück, dass das Dublin-System für die Betroffenen unmenschlich ist, sondern auf die Hoffnung, hierdurch weniger Flüchtlinge aufnehmen zu müssen«, kommentiert das die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Die Vereinigung lehnt auch die Vorschläge der Kommission ab. »Allen Quotenmodellen ist gemein, dass sie allein an den Interessen der Staaten – und nicht der Schutzsuchenden – orientiert sind. Sie alle würden nichts daran ändern, dass Asylsuchende in Länder gezwungen werden, wo sie keine menschenwürdigen Aufnahmebedingungen und Asylverfahren vorfinden. Darauf zu hoffen, dass perspektivisch EU-weit gleiche Asylstandards gelten, ist aus heutiger Sicht völlig unrealistisch. Eine Quotenregelung würde – genau wie das geltende Dublin-System – so weit an den existenziellen Bedürfnissen der Betroffenen vorbei gehen, dass ihnen letztendlich nichts anderes übrig bleibt, als den ›zuständigen‹ Staat zu verlassen. An dem jetzigen Problem der umherirrenden Schutzsuchenden würde sich durch eine Quote nichts verändern.« Pro Asyl verlangt dagegen, dass die in Europa Ankommenden selbst entscheiden dürfen, in welches Land sie weiterreisen wollen, zum Beispiel weil dort bereits Familienangehörige oder viele Landsleute leben. Dadurch werde die Integration der neuen Mitbürger erleichtert, so die Organisation.

Eine Reihe europäischer Regierungen will aber offenkundig an der bisherigen Form der »Festung Europa« festhalten. So lehnen Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten eine Quotenregelung ab. »Die einzelnen Regierungen wissen am besten, was sie im Rahmen gemeinsamer Solidarität leisten können«, sagte der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka nach einem Treffen mit seinem slowakischen Kollegen Robert Fico. Seine Regierung habe sich freiwillig bereiterklärt, 70 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Tschechien habe zuletzt sehr vielen Ukrainern Zuflucht geboten.

Die britische Innenministerin Theresa May hat sich sogar dafür ausgesprochen, Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer zurückzuschicken. Die EU solle sich darum bemühen, »sichere Landeplätze in Nordafrika zu schaffen, unterstützt durch ein aktives Rückführungsprogramm«, schrieb May in der Mittwochausgabe der Zeitung The Times. Die Einführung verbindlicher Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU werde dagegen »nur noch mehr Menschen dazu ermutigen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen«, behauptete sie.

Auch die bayerische CSU setzt mal wieder auf die rassistische Karte. Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer verlangte schärfere Gesetze gegen Asylsuchende aus Albanien und forderte, das Land als »sicheren Drittstaat« anzuerkennen.

Zugleich will die EU die »Festung Europa« auch militärisch weiter abriegeln. Die Kommission kündigte an, die Kapazitäten und Ressourcen für die Einsätze »Triton« und »Poseidon« der Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer für 2015 und 2016 zu verdreifachen. Ferner schlug sie Einsätze im Mittelmeer auf Grundlage der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU vor. Im UN-Sicherheitsrat hatte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini schon am Montag (Ortszeit) in New York für die Genehmigung eines »robusten Militäreinsatzes« geworben, der sich gegen »Schlepper« richten solle (jW berichtete). Das Geschäft mit dem Leid der Flüchtlinge sei »nicht nur ein humanitärer Notstand, sondern auch eine sicherheitspolitische Krise«, so Mogherini. Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten im April bei einem Gipfeltreffen unter anderem die Zerstörung von Flüchtlingsbooten beschlossen. Ein Militäreinsatz gegen »Schlepper« setzt jedoch ein Mandat der Vereinten Nationen voraus, damit die EU auch in libyschen Hoheitsgewässern operieren darf.

Vor einer solchen Eskalation warnt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Flüchtlinge und Migranten würden in Libyen bereits jetzt regelmäßig ausgeraubt, gefoltert, entführt und sexuell missbraucht, heißt es in einem am Montag veröffentlichten Bericht. Die von der EU angestrebte Zerstörung von Schlepperbooten würde die Situation für Ausländer in Libyen nur noch verschärfen. »Wenn die EU ihre Pläne umsetzt, sitzen die Flüchtlinge vollends in der Falle«, sagte die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Selmin Çalikan. »Da auch Ägypten und Tunesien beginnen, ihre Grenzen zu schließen, bleibt ihnen der gefährliche Weg über das Mittelmeer als einzige Chance, der zunehmenden Gewalt und Grausamkeit in Libyen zu entkommen.«

Auch der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD), hat sich gegen die Zerstörung von Schlepperbooten im Mittelmeer ausgesprochen. »Ich halte das für den falschen Ansatz«, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung vom Mittwoch. »Der Druck der Menschen nach Europa wird nicht dadurch geringer, dass man Schiffe vernichtet.« Strässer plädierte dafür, Flüchtlingen mehr legale Wege nach Europa zu eröffnen: »Wenn man von einer werteorientierten Flüchtlingspolitik im Rahmen der EU ausgeht, ist das der einzige Weg.«

Auch Amnesty International fordert von der EU, eine gemeinsame Seenotrettung auf dem Mittelmeer einzurichten, deren Einsatzgebiet bis vor die libysche Küste reicht, und deutlich mehr Aufnahmeplätze für Flüchtlinge in der EU zu schaffen. »Ohne sichere und legale Fluchtwege bleibt Tausenden nichts anderes, als sich in die Hände skrupelloser Schlepper zu begeben«, stellte Çalikan fest. Die Zustände in Libyen habe der Westen mitverschuldet. »Seit dem Ende des NATO-Militäreinsatzes 2011 haben westliche Staaten tatenlos zugesehen, wie Libyen in Gesetzlosigkeit versinkt und bewaffnete Gruppen das Land ins Chaos stürzen. Sie dürfen jetzt nicht einfach das Leid der Flüchtlinge und Migranten in Libyen ignorieren«, so Çalikan.

*** Aus: junge Welt (online), 13. Mai 2015 (Kommentar)


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