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Dschibril neuer starker Mann

Erste Wahl in Libyen brachte Gruppierung des wendigen Ex-Gaddafi-Funktionärs die meisten Mandate

Dschibril neuer starker Mann Erste Wahl in Libyen brachte Gruppierung des wendigen Ex-Gaddafi-Funktionärs die meisten Mandate Von Alfred Hackensberger, Tanger *

Die Allianz der Nationalen Kräfte ist als Siegerin aus der ersten libyschen Parlamentswahl hervorgegangen. Die Gruppierung des früheren Übergangsregierungschefs Dschibril erhielt 39 der 80 Sitze, die für Parteien reserviert waren.

Der Wahlsieg der als weniger religiös eingestuften Allianz Nationaler Kräfte (NFA) wird bereits seit mehr als einer Woche gemeldet. Es handelt sich dabei um ein Bündnis von rund 60 Parteien und zwölf zivilen Organisationen unter der Führung von Mahmoud Dschibril, dem ehemaligen Premierminister des Übergangsrats (NTC). Nun bestätigte die Oberste Nationale Wahlkommission den Sieg der NFA mit 39 Sitzen. An zweiter Stelle steht die islamistische Partei der Gerechtigkeit und des Aufbaus (PJC). Abgeschlagen dahinter weiter 19 Gruppierungen, mit jeweils 3 oder weniger Sitzen. In westlichen Medien wurde der Sieg Dschibrils als positive Ausnahme gefeiert. In beiden Nachbarländern des Arabischen Frühlings, Tunesien und Ägypten, haben islamisch orientierte Parteien klar gesiegt.

Zum Feiern gibt es noch keinen Anlass. Die Zahl der Sitze, die im Parlament für die Parteien vorgesehen sind, beläuft sich auf nur 80. Entscheidend für die Mehrheitsbildung sind die restlichen 120, die für unabhängige Abgeordnete vorgesehen sind. Und von ihnen ist noch nicht bekannt, wie sie sich verhalten werden. »Rund 20 unserer Mitglieder haben Sitze als Unabhängige bekommen, und wir sprechen mit vielen anderen Abgeordneten«, sagte Mohammed Sawan, der Vorsitzende der PJC, und fügte an: »Wir verhandeln auch mit zehn Parteien.« Die PJC hofft so, eine Mehrheit auszuhandeln. Einige der vielen kleinen Parteien sind islamistisch und werden gerne in eine Koalition mit der PJC eintreten.

Mit anderen Parteien werden die Verhandlungen schwieriger. Aber man kann in Libyen sehr leicht Ergebnisse über Gefälligkeiten erreichen. Ob Hausbau, Gründung eines Geschäfts oder Operation im Krankenhaus, nichts geht ohne Beziehungen und Bezahlung.

Die NFA wird ebenfalls nichts unversucht lassen, um Abgeordnete für eine »große Koalition der nationalen Einheit« zu gewinnen, die Dschibril angekündigt hatte. Wahrscheinlich hat seine Partei die größeren Chancen. Dschibril hat zwar eine Gaddafi-Vergangenheit, aber die scheint ihm, außer den Islamisten, niemand übel zu nehmen. 2007 war er Leiter des Nationalen Planungsbüros und arbeitete mit Gaddafi-Sohn Saif al-Islam an einer neuen Verfassung. Als Premierminister des NTC reiste er nach Paris, Washington, Berlin, London und Doha, um für ein militärisches Eingreifen zu werben. In ihm sehen die meisten Libyer den Mann, der die Revolution erst möglich machte. Sein Foto war in Libyen omnipräsent, als wäre er der einzige Kandidat der Partei.

Zwei Wochen haben die NFA und die PJC, um eine Mehrheit zu finden. Dann läuft die Frist ab, in der gegen das Wahlergebnis Einspruch eingelegt werden kann. Bis dahin bleibt in der Schwebe, ob Libyen ein mehr ziviler oder mehr religiöser Staat wird. Die NFA möchte die Scharia nicht auf alle Bereiche der Gesellschaft anwenden. »Wir wollen nicht ausschließlich das islamische Recht anwenden«, sagte Dschibril in Interviews. »Da wäre man bei der Trennung von gläubig und ungläubig, und das wollen wir nicht.« Die Islamisten dagegen sehen die Scharia als einzig verbindliche Basis eines zukünftigen Staates. »Der Islam lässt da keine Wahl«, versicherte Sawan von der PJC. »Man kann sich nicht einfach herauspicken, was man will.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juli 2012


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