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Was wird aus Libyens Waffen?

Wachsende Sorgen um das Schicksal der libyschen Vernichtungsmittel

Von Wolfgang Kötter *

In Libyen feiern die Sieger ihre Erfolge. Doch angesichts der anhaltenden Kämpfe, verbreiteter Plünderungen und Verwüstungen wächst international die Besorgnis, dass die im Land gelagerten Waffen und Vernichtungsmittel in falsche Hände geraten. Nicht nur versprengte Gaddafi-Anhänger, sondern auch extremistische Kräfte oder Terroristen könnten mit ihnen Angst und Schrecken verbreiten, aber auch riesigen Schaden anrichten.

Strahlenverseuchung durch „schmutzige Bombe“

Zwar hatte Staatschef Muammar al-Gaddafi vor acht Jahren öffentlich auf atomare, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen verzichtet, aber die Gefahr ist noch nicht gebannt. Zum einen geht es um radioaktives Nuklearmaterial. Atomexperten verweisen insbesondere auf ein potentielles Ausgangsmaterial für die Waffenentwicklung den sogenannten "Yellow Cake" in einem Forschungsreaktor in Tajoura nahe Tripolis. Dort hat Libyen Uran angereichert und nun wird befürchtet, dass das Spaltmaterial möglicherweise gestohlen und zum Bau von radiologischen Bomben verwendet wird. Dabei handelt es sich um herkömmliche Explosionskörper, die mit radioaktivem Material gefüllt sindt. Wenn eine solche „schmutzige Bombe“ detoniert, würde erhebliche Radioaktivität freigesetzt und über weite Flächen verbreitet. Olli Heinonen, bis vor einem Jahr Chefkontrolleur der internationalen Atomenergiebehörde IAEA, versichert zwar, dass hochradioaktives Uran bereits 2009 aus Libyen abtransportiert worden sei. Aber das verbliebene Material könne zum Bau einer „schmutzigen Bombe“ verwendet werden: „Die Situation in Tajoura ist nicht ganz klar. Wir wissen, dass wenn Regime zusammenbrechen, Gesetzlosigkeit und Plünderungen vorherrschen“, warnt der inzwischen an der Harvard Universität tätige Heinonen und fordert die libyschen Übergangsmachthaber nachdrücklich auf, die Sicherheit des Atommaterials zu gewährleisten. Denn auch das niedrig angereicherte Uran und der tonnenweise in der Nuklearanlage gelagerte Atommüll können für Diebe oder Terroristen eine attraktive Beute sein.

Gefahrenquelle: Giftgas

Eine weitere Gefahrenquelle besteht in den Restbeständen chemischer Waffen. Bei seinem Beitritt zur Chemiewaffen-Konvention im Jahre 2004 hatte Tripolis der Chemiewaffenorganisation OPCW Bestände von über 23 Tonnen Giftstoffen gemeldet. Hergestellt worden waren sie zum großen Teil in der von der deutschen Firma Imhausen-Chemie aus Freiburg gebauten Chemiewaffenanlage in Rabta. Seither wurden 3 500 Munitionsbehälter und Sprengköpfe für chemische Kampfstoffe zerstört. „Wir haben die gefährlichsten Elemente schon eliminiert, darunter auch die chemische Munition", versichert ein Sprecher des US-amerikanischen Außenministeriums, „aber es gibt noch chemische Kampfstoffe, die nicht in Waffensysteme integriert sind." Die Vernichtung der Bestände war nach verzögertem Beginn wiederholt ins Stocken geraten und so konnte auch der bereits verlängerte Endtermin im vergangenen Mai nicht eingehalten werden. Noch rund die Hälfte der ursprünglichen Vorräte an Senfgas wird etwa 600 Kilometer südöstlich der Hauptstadt in der Chemieanlage Ruwagha gelagert. Allerdings ist der Kampfstoff nicht in Granaten oder Gefechtsköpfe abgefüllt, sondern befindet sich als Rohmaterial in der verbunkerten Anlage. Die NATO und die USA überwachen die Lagerstätten seit Beginn des Aufstands hauptsächlich mit Flugzeugen, Drohnen und Satelliten. Ob die Informationen aber vollständig sind und zuverlässig verhindert wurde, dass Plünderer oder Terroristen an die Senfgasvorräte gelangt sind, ist unklar. Die USA haben inzwischen direkten Kontakt mit dem Nationalen Übergangsrat aufgenommen. Nach den Worten der Sprecherin des State Department, Victoria Nuland, unternimmt die Obama-Regierung Schritte, um sicherzustellen, “dass die regierenden Kräfte in Libyen volle Entscheidungsgewalt und Kontrolle über alle Massenvernichtungsmittel und Sicherheitseinrichtungen des Landes haben.“

Gefährliche konventionelle Waffen

Auch sogenannte konventionelle Waffen gibt es in Libyen immer noch massenhaft. Gaddafi hatte dereinst mehr als 400 Scud-B-Raketen aus sowjetischer Produktion gekauft. Viele von ihnen wurden in den vergangenen Monaten durch Luftangriffe zerstört und die verbliebenen sind veraltet. Zumindest aber eignen sich die 300 km weit fliegenden Raketen immer noch dafür, Ängste und Verunsicherungen zu erzeugen. Militärisch sind sie wegen ihrer geringen Treffgenauigkeit aber kaum von Bedeutung. Dennoch feuerten die Regierungstruppen in der Schlussphase der Kämpfe Scud-Raketen auf die heftig umkämpften Küstenstädte Brega und Misrata ab. In Misrata sollen sie nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Frühjahr auch Mörsergranaten mit Streumunition gegen Aufständische und Wohngebiete verschossen haben. Derartige Munition besteht aus bis zu Tausenden kleinen Sprengkörpern. Die mit Submunition gefüllten Mantelprojektile öffnen sich noch in der Luft und verbreiten "Bomblets", deren Füllung wiederum aus Splittergeschossen oder Minen bestehen kann. Durch die hohe Blindgängerquote verwandelt sich Streumunition dann faktisch zu Landminen, die Menschen in den betroffenen Gebieten auch noch lange nach dem Ende der Kämpfe töten oder verstümmeln. Sorgen bereitet ebenfalls der Verbleib von etwa 30 000 tragbaren Luft- und Panzerabwehrraketen. Sie sind sowohl leicht zu transportieren als auch einfach zu bedienen und damit für Terroristen wertvoll. In den Ein- und Ausflugsschneisen eines Flugplatzes beispielsweise könnten die russischen Strela-2 und ähnliche Raketen auch für den zivilen Luftverkehr zu einer großen Bedrohung werden. Nicht weniger gefährlich sind schließlich jene zahlreichen bewaffneten Gaddafi-Anhänger, die wie die Kämpfe in Irak und Afghanistan zeigen aus dem Untergrund noch jahrelang Tod und Gewalt verbreiten könnten.

Radiologische Waffen

Eine radiologische Waffe, auch „schmutzige Bombe“ genannt ist ein konventioneller Sprengsatz, in dessen Innerem sich nukleares Spaltmaterial, z.B. Strontium (Sr-90) oder Cäsium (Cs-137), befindet. Durch die Explosion eines herkömmlichen Explosionsstoffes kann radioaktives Material über weite Flächen verbreitet werden. Hier kommt zwar keine nukleare Kettenreaktion in Gang, aber es würde trotzdem erhebliche Radioaktivität freigesetzt und damit größere Gebiete auf lange Zeit unbewohnbar gemacht.

Die betroffene Gegend müsste gereinigt werden. Das Wasser, mit dem die Gebäude abgespritzt würden, wäre Giftmüll. Millionen Liter davon müssten speziell gelagert werden. Das normale Leben wäre empfindlich gestört. Denn nach einem solchen Anschlag würden die Menschen ihre Kinder nicht mehr in die Stadt zur Schule schicken, sie würden dort nicht mehr einkaufen, Grundstücke erwerben oder Arbeit annehmen.

Quellen für radioaktives Material in einer "schmutzigen Bombe" können medizinische Geräte oder Abfall von Atomkraftwerken sein. Cäsium wird als die wahrscheinlichste radioaktive Zutat gesehen, weil es vergleichsweise sicher in der Handhabung und in medizinischen Geräten weit verbreitet ist.

Senfgas, auch unter den Namen Lost, Yperit oder Gelbkreuz bekannt, ist ein hochwirksames Hautgift. Die Verbindung gehört zu den organischen Schwefelverbindungen. Das Kontaktgift dringt innerhalb von Minuten durch Kleidung und Haut in den Körper ein. Der Hautkontakt mit flüssigem Senfgas verursacht schmerzhaft brennende Blasen und Verätzungen. Zudem kann der übermäßige Kontakt der Augen mit Senfgas zum Erblinden führen. Durch das Einatmen von Giftgasschwaden wird das Lungengewebe zerstört. Das Gas schädigt jedoch auch Nerven sowie das Herzkreislauf-System, erhöht das Krebsrisiko und kann sogar tödlich sein.

Senfgas, dessen Name vom Geruch nach Knoblauch, Zwiebeln und Senf herrührt, kommt nicht natürlich in der Umwelt vor, sondern muss chemisch hergestellt werden. Es kann dann als Gas, einer Flüssigkeit oder auch in fester Form auftreten. In gasförmigem Zustand ist Senfgas schwerer als Luft und sammelt sich dementsprechend am Boden. Es kann gut durch Kleider, Schuhe und andere Materialien dringen.



* Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien unter demselben Titel am 30. August 2011 im "Neuen Deutschland"


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