Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gaddafi auf slawischem Waffenbasar

Russland könnte von Libyen weit weniger bekommen, als vor dem Moskau-Besuch Muammar Gaddafis erwartet wurde

Von Andrej Murtasin *

Experten stellten die Vermutung an, dass demnächst mit Libyen Rüstungsverträge in Höhe von zwei bis 4,5 Milliarden Dollar geschlossen würden. Aber während im Kreml ein passender Platz für das Beduinenzelt gesucht wurde, in dem der hohe Gast zu wohnen pflegt (und das er stets auf die Reisen mitnimmt), dachte der "Wüstensohn" über etwas anderes nach: wie und mit wem er in Moskau, Minsk und Kiew feilschen werde.

Für uns sind Russland, die Ukraine und Weißrussland Bruderländer der ehemaligen Sowjetunion, doch für den libyschen Revolutionsführer ein "slawischer Waffenmarkt", auf dem die slawischen Brüder vor allem gegeneinander konkurrieren.

Gaddafis Reiseroute durch die GUS-Staaten war alles andere als zufällig. Zuerst Russland, dann Weißrussland und abschließend die Ukraine. In Moskau konnte sich der libysche Oberst mit dem vollständigen Sortiment der russischen Waffenerzeugnisse bekannt machen.

Interesse zeigte Gaddafi an dem Ka-52-Hubschauber "Alligator", dem Su-35-Kampfjet, dem T-90-Panzer und den neuesten S-300-Raketenkomplexen, kurzum an den neuesten Modellen, die es in der Bewaffnung der russischen Armee entweder noch nicht oder nur in wenigen Exemplaren gibt.

Es handelt sich um die modernsten Waffen, die natürlich sehr teuer sind. Doch hat Russland auch andere Waffenmodelle, einfachere und billigere aus der Hinterlassenschaft der Sowjetarmee. Übrigens machen Minsk und Kiew die gleichen Offerten.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, als ich Mitte der 80er Jahre in Libyen als Militärdolmetscher war, dass die libysche Armee damals mit zahlreichen sowjetischen Waffen aus den 60er bis Anfang der 70er Jahre ausgestattet war.

Diese Waffen hatten ihre Effizienz nicht nur bei Übungen, sondern auch unter Kampfbedingungen bewiesen. (In jenen Jahren führte Gaddafi einen Krieg im Tschad, für den Libyen nicht gerade die Werbetrommel rührte.) Deshalb boten sowohl Alexander Lukaschenko als auch Viktor Juschtschenko dem libyschen Staatschef eben sowjetische, allerdings teilweise modernisierte Waffen an.

Auf einem Markt, auf dem alle ungefähr die gleiche Ware anbieten, wirken zwei Faktoren: der Preis und die Sympathie des Käufers für den Verkäufer. Muammar Gaddafi ist ein erfahrener Politiker, aber seinem Charakter nach gleicht er vielfach dem russischen Liberaldemokraten Wladimir Schirinowski und in gewisser Hinsicht dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko.

Nicht von ungefähr erklärten die Spitzenpolitiker von Libyen und Weißrussland in Minsk wie aus einem Munde, die Positionen beider Staaten seien einander ähnlich, und eine multipolare Welt müsse aufgebaut werden. Gerade in Minsk erinnerte sich Gaddafi daran, dass "Libyen eine Zeit der internationalen Sanktionen durchmachte, und gerade in jener Zeit reichte Weißrussland uns die Freundschaftshand".

In der Tat, zum ersten Mal trafen sich Alexander Lukaschenko und Muammar Gaddafi im Jahr 2000 in Libyen, wo die Grundlagen der heutigen weißrussisch-libyschen Beziehungen geschaffen wurden. Gaddafi betonte außerdem, Lukaschenko sei ein gern gesehener Gast in Libyen, worauf der weißrussische Präsident versprach, Tripolis erneut zu besuchen.

Medwedew kennt Gaddafi bislang kaum, aber Wladimir Putin war im April 2008 kurz vor seinem Amtsende als Präsident zu Besuch in Tripolis und beseitigte das größte Hindernis bei der Entwicklung der russisch-libyschen Beziehungen: Er erließ dem nordafrikanischen Staat dessen Altschulden gegenüber der UdSSR in Höhe von 4,5 Milliarden im Austausch gegen neue Verträge mit Russland.

In Moskau nahm Putin nicht nur an Medwedews Verhandlungen mit Gaddafi, sondern auch am Kulturprogramm des libyschen Führers teil. Gemeinsam besuchten sie ein Konzert von Mireille Mathieu im Kreml-Palast, und zur Überraschung aller machte Putin den libyschen Gast mit der berühmten französischen Sängerin bekannt.

In Kiew wurde der libysche Politiker ohne sonderliche Feierlichkeiten empfangen: In der heutigen innenpolitischen Situation in der Ukraine wären sie sowieso unangebracht gewesen. Doch nach den Verhandlungen mit Gaddafi sprach Viktor Juschtschenko auf einer Pressekonferenz offen von dem nicht realisierten Potential der militärtechnischen Zusammenarbeit mit Libyen, allerdings ohne auf Details einzugehen.

Experten waren erstaunt, dass in Moskau keine Unterzeichnung von russisch-libyschen Dokumenten bekannt gegeben wurde, während sie in Minsk stattfand. Übrigens heißt das keineswegs, dass Medwedew, Putin, Lukaschenko und Juschtschenko im militärischen Bereich mit Gaddafi nichts vereinbart hätten. Eher umgekehrt: Sie haben es getan, jedoch aus nahe liegenden Gründen beschlossen, sich jeglicher Kommentare zu enthalten.

Es ist nach wie vor unklar, ob Russland in der libyschen Hafenstadt Benghazi am Mittelmeer einen neuen Marinestützpunkt haben wird. Wie vor wenigen Tagen die russische Zeitung "Kommersant" schrieb, war das eines der Themen der Verhandlungen Gaddafis mit Medwedew. Zugleich besuchte vor kurzem ein Kampfschiffverband der russischen Nordflotte mit dem Atomkreuzer "Pjotr Weliki" als Flaggschiff die libysche Hauptstadt Tripolis. Auch das russische Küstenschutzschiff "Neustraschimy", das derzeit die Schifffahrt vor der somalischen Küste schützt, machte dort einen Zwischenstopp.

Wie "Kommersant" schreibt, wird Russlands militärische Präsenz nach der Idee Gaddafis Libyen vor einem Angriff der USA schützen, die es trotz zahlreicher Versöhnungsgesten von Tripolis nicht eilig haben, Gaddafi in die Arme zu schließen. Eine gewiss kühne, aber interessante Ansicht.

Völlig offensichtlich ist, dass Russland unbestreitbare Vorteile gegenüber Weißrussland und der Ukraine hat, und dies aus mindestens drei Gründen. Erstens sind die russischen Waffen neu, hochtechnologisch und übertreffen in vieler Hinsicht ähnliche ausländische Modelle.

Zweitens ist es nicht ausgeschlossen, dass die slawischen Brüder trotz der zahlreichen politischen Widersprüche (besonders zwischen Russland und der Ukraine nach den ukrainischen Waffenlieferungen an Georgien) dennoch vereinbart haben, was sie Gaddafi verkaufen wollen und zu welchem Preis.

Drittens ist es nicht unwahrscheinlich, dass Moskau doch den Beschluss fasst, in Benghazi eine Flottenbasis aufzubauen, deren Pachtpreis vermulich sehr teuer sein wird. Es fragt sich nur, ob sich Russland einen solchen Luxus angesichts der Weltfinanzkrise wird leisten können, da seine Gold- und Devisenreserven zusehends schmelzen und sich der schnelle Zustrom von Petrodollars zu einem stillen Bach entwickelt hat.

Wen von den drei slawischen Brüdern - Medwedew, Lukaschenko oder Juschtschenko - wird der "libysche Oberst" vorziehen, bei wem mehr Waffen kaufen? Die Antwort werden wir erst dann erfahren, wenn in Tripolis wieder Schiffe einlaufen, Flugzeuge anfliegen und Panzer mit dem nicht beseitigten Stempel "Made in USSR" anrollen, während moderne Weltraumsysteme ihre Wege ohne Weiteres verfolgen werden.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 6. November 2008; http://de.rian.ru



Zurück zur Libyen-Seite

Zur Seite "Rüstungsproduktion, Rüstungsexport, Waffenhandel"

Zurück zur Homepage