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Gaddafi verschanzt sich vor seinem Volk

Libyscher Machthaber soll in Stützpunkt bei Tripolis sein / Städte im Osten feiern "Befreiung" *

Der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi steht mit dem Rücken zur Wand. Immer mehr Diplomaten, Regierungsmitglieder und Soldaten wenden sich von dem seit über 40 Jahren regierenden Herrscher ab.

Gaddafi soll sich am Mittwoch mit vier Brigaden in einem Stützpunkt in Tripolis verschanzt haben. Derweil feierten die Bewohner mehrerer Städte im Osten Libyens die »Befreiung« ihrer Region. Augenzeugen berichteten, in den östlichen Städten Bengasi und Tobruk seien die Vertreter der Staatsmacht entweder verschwunden oder hätten sich den Aufständischen angeschlossen. Die Straßen der Hauptstadt Tripolis waren nach Augenzeugenberichten am Mittwoch weitgehend menschenleer.

Der ehemalige Botschafter Libyens bei der Arabischen Liga in Kairo, Abdulmoneim al-Honi, sagte in einem Interview der Zeitung »Al-Hayat«, der Sturz des Regimes von Gaddafi sei nur noch eine Frage von Tagen. Er rechne dennoch mit weiterem Blutvergießen, »denn dieser Mann ist zu allem fähig«. Die Arabische Liga beschloss, Libyen vorläufig von ihren Sitzungen auszuschließen.

Die UNO forderte Gaddafi auf, die Gewalt sofort zu stoppen. Generalsekretär Ban Ki Moon, der mit Gaddafi 40 Minuten telefonierte, sagte, einige der Ereignisse in Libyen »scheinen klare Verstöße gegen das internationale Recht und die Menschenrechte zu sein«. Die Gewalt gegen Zivilisten dürfe nicht ungestraft bleiben. Die 27 EU-Staaten erwägen nach einem Stopp der Waffenexporte weitere Sanktionen gegen das Regime.

Tausende Europäer, Amerikaner und Asiaten flüchten aus Libyen. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu sprach von der größten Rettungsaktion in der Geschichte seines Landes. Das US-Außenministerium charterte zwei Katamarane, die Malta Richtung Tripolis verließen. Auch das Auswärtige Amt will weitere Deutsche aus Libyen holen. Laut Auswärtigem Amt waren am Mittwoch noch 250 Deutsche in Libyen.

Der von Gaddafi für tot erklärte Ex-Innenminister Abdulfattah Junis schloss sich den Aufständischen an. In einem Telefoninterview des Senders Al-Arabija sagte er, ein Anhänger Gaddafis habe versucht, ihn zu erschießen. Er sei nun kein Minister mehr, sondern ein Soldat im Dienste des Volkes.

Der Aufstand hat nach Angaben einer Menschenrechtsorganisation bislang mindestens 640 Menschen das Leben gekostet. Seit Beginn der Proteste seien allein in Tripolis mindestens 275 Menschen ums Leben gekommen, teilte der in Frankreich ansässige Internationale Verband der Menschenrechtsligen (FIDH) am Mittwoch mit. Weitere 230 Tote wurden demnach in der Stadt Bengasi gezählt.

Ein französischer Arzt, der anderthalb Jahre in einem Krankenhaus in Bengasi gearbeitet hatte, sprach sogar von über zweitausend Toten allein in der zweitgrößten libyschen Stadt.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte ein Verfahren gegen Gaddafi vor dem Internationalen Strafgerichtshof. »Es besteht der begründete Verdacht, dass Gaddafi mit der rücksichtslosen Jagd auf Demonstranten in seinem Land Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat«, sagte die Chefin von Amnesty-Deutschland, Monika Lüke.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Februar 2011


Die offiziellen Strukturen funktionieren nicht mehr

Udo Steinbach: Stammeschefs spielen wieder stärkere Rolle **


Prof. Dr. Udo Steinbach war bis 2007 Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien Hamburg. Gegenwärtig lehrt er am Centrum für Nah- und Mitteloststudien an der Philipps-Universität Marburg. Über Machtstrukturen und Einflusssphären im Libyen des einstigen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi, Kräfteverhältnisse und Perspektiven sprach mit dem Islamkundler und Orientalisten für Neues Deutschland (ND) Roland Etzel.

ND: Herr Steinbach, warum sind die Experten so ratlos, wenn sie die Kräftekonstellation in Libyen analysieren sollen?

Steinbach: Weil wir aus Libyen seit Jahrzehnten eigentlich kaum wirklich verlässliche Informationen hatten. Eine relativ freie Presse gab es nicht, Journalisten hatten kaum Zugang, und was das Regime von sich gegeben hat, das war nicht mehr als eben Selbstdarstellung.

Wie kann man sich jetzt das Machtgefüge im Land vorstellen? Welche Rolle spielen zum Beispiel die legalen Strukturen, die so genannten Volkskomitees, und welche informellen Machtstrukturen prägen das tägliche Leben?

Die offiziellen Machtstrukturen der Volkskomitees spielen in der gegenwärtigen Situation keine Rolle mehr. Das System hängt an Gaddafi und an seiner Entschlossenheit, diesen Aufstand niederzuschlagen. Die Volkskomitees repräsentieren jenen Teil der Bevölkerung, der an dem System partizipiert hat. Die Anhänger und Mitglieder der Volkskomitees werden also nicht gerade unter den Demonstranten zu suchen sein. Aber mit Blick auf den Machterhalt und mit Blick auf die künftigen politischen Strukturen spielen sie keine Rolle.

Wenn wir über informelle Strukturen sprechen, dann werden in der Tat wieder alte Konstellationen sichtbar, insbesondere die tribalen Strukturen, von denen Libyen bis in die 70er Jahre weitgehend gekennzeichnet war. Die Stammesoberhäupter beginnen wieder, eine Rolle zu spielen. Einer hat sogar damit gedroht, den Ölexport zu verhindern.

Das zweite informelle Strukturelement sind die religiösen Orden, die seit dem 19. Jahrhundert in Teilen Libyens Bestand hatten, insbesondere im Osten des Landes. Und diese Orden und Bruderschaften, die eher einen mystischen als einen militanten Charakter haben, treten wieder stärker hervor. Ich denke, wenn wir über die Zukunft sprechen, sprechen wir über religiöse Strukturen plus Stammeselemente plus Elemente einer mittlerweile auch in Libyen herangewachsenen, aus dem Ausland kommenden Elite.

Die libysche Führung, eigentlich Gaddafi allein, hat mit der Grünen Fibel dem Islam eine weltweite Verbreitung verschaffen wollen. Trotzdem gibt es Proteststimmen aus den Reihen konservativer islamischer Gelehrter. Wie muss man das einschätzen?

In der Tat, Gaddafi hat gewisse Elemente des Islam – und zwar ausschließlich des Korans – für seine populistische Theorie gebraucht. Er hat im Grunde den Koran auf seine Weise interpretiert und es jedem freigestellt, im Lichte des Grünen Buches – der dritten allgemeinen Theorie, wie er es selbst genannt hat – den Koran zu interpretieren.

Die etablierten religiösen Strukturen haben diese Form von Willkür, den Islam in den Dienst einer Diktatur zu stellen, schon von einem sehr frühen Zeitpunkt an, den 70er Jahren, nicht mitgemacht. Sie wandten sich von Gaddafi ab. Eine Reihe von Elementen aus dem konservativen Lager sind ins islamistische Lager übergewandert, haben ihn also militant bekämpft, und er hat sie unterdrückt. Ein weiterer Teil der religiösen Strukturen, nämlich Orden und Bruderschaften, hat sich einfach zurückgezogen.

In der Vergangenheit sollen die Stämme oder ihre Führer sehr gut an den Gewinnen aus dem Ölverkauf beteiligt gewesen sein. Gaddafi konnte sich damit Wohlverhalten erkaufen. Hat sich daran in jüngerer Zeit etwas geändert?

Ja, daran hat sich natürlich etwas verändert durch die Art und Weise, wie diese Unruhe, die von Ägypten nach Libyen hinübergeschwappt ist, bekämpft worden ist. Und in dem Augenblick, da Angehörige eines Stammes Opfer von Regierungsgewalt geworden sind, tritt die Loyalität des Stammes gegenüber diesen Angehörigen wieder deutlicher hervor. Und es sind zahlreiche Protestierende Opfer der Repression geworden. Jeder von ihnen ist einem bestimmten Stamm zuzuordnen. Und jetzt können die betroffenen Stämme nicht anders, wollen auch gar nicht anders, als der Regierung zu drohen, von ihr abzufallen bzw. sie über die Erdölförderung in ihrem Gebiet unter Druck zu setzen.

Konnte man sagen, dass es vorher Stämme gab, die für Gaddafi waren, und andere, die sich zu ihm in Opposition befanden?

Sicherlich, nach der Revolution von 1969 gab es eine Reihe von Stämmen, die Gaddafi sozusagen mitgebracht hat, als er die Macht in Libyen übernahm. Gaddafi selber ist ein Angehöriger des Stammes gleichen Namens. Dann hat er den Versuch gemacht, die Stämme sozusagen aufzukaufen, insbesondere die Stammesscheichs. Und die wiederum hatten damit ihrerseits Möglichkeiten, die Loyalität ihrer eigenen Stammesmitglieder zu erkaufen, weil sie vom Staat für bestimmte Loyalitätsverhältnisse Geld bekamen.

So gesehen kann man sagen, dass bis weit in die Gegenwart hinein die Masse der Stämme aufgekauft worden ist. Hier und da hat es bei einzelnen Schritten der Regierung Gegenwehr gegeben, die aber in der Regel brutal unterdrückt worden ist. Aber das war kein flächendeckender Widerstand wie jetzt.

Das Königreich Libyen wurde einst aus den drei Regionen Cyrenaika, Tripolitanien und Fezzan gebildet. Kann es sein, dass da alte Rivalitäten wieder aufgebrochen sind?

Das halte ich für kaum wahrscheinlich. Gaddafi verstand sich ja als libyscher oder gar als arabischer Nationalist. Als solcher hat er allerdings nie reüssiert. Die anderen Araber haben ihn nie akzeptiert, so wie sie ihn auch jetzt schon wieder aus der Arabischen Liga ausgeschlossen haben.

Auf wen kann sich Gaddafi gegenwärtig in seinem Land noch stützen?

Nur noch auf Teile der Armee.

** Aus: Neues Deutschland, 24. Februar 2011


Janusköpfe

Von Roland Etzel ***

Gaddafi hat keine Gönner mehr – falls er je welche hatte. Verlierer, besonders politische, sind einsam, noch ehe sie Macht und Einfluss ganz verloren haben. Dieses bekannte Szenario fällt im Falle des schrillen libyschen Führers noch krasser aus. Verkracht mit den Nachbarn und verfeindet mit der westlichen Welt, besonders den USA, ist das Libyen Gaddafis schon über die Hälfte seiner vier Jahrzehnte währenden Herrschaft. Es gibt in Arabien/Afrika wohl keinen Staatsmann, der die Welt schärfer polarisierte. Muammar al-Gaddafi ist der Prototyp eines Januskopfes: auf der einen Seite der Visionär für eine Gesellschaft, die andere – nicht er – als eine Art islamischen Sozialismus bezeichneten; auf der anderen ein grausamer manischer Herrscher, dem jegliche Toleranz fremd zu sein scheint. In diesem Sinne war er ein völlig politikunfähiger Mensch und musste auf diesem Feld am Ende scheitern. Seine jüngste Rede beseitigte da letzte Zweifel.

Dennoch: Die Kübel an Abscheu, die derzeit von Europa nach jenseits des Mittelmeeres gegossen werden, riechen doch erbärmlich nach Scheinheiligkeit. Gaddafis Öl bescherte ihm ja auf dieser Seite des Mittelmeeres nicht wenige Geschäftspartner. Gerade die, die sich jetzt am meisten ent-rüsten, haben ihn aber bis gerade eben noch ge-rüstet. Wieviel Minuten deren Rüstungsembargo noch vor zwölf gekommen ist, entscheidet sich in diesen Stunden. Janusköpfig dürfen sie mindestens auch genannt werden.

*** Aus: Neues Deutschland, 24. Februar 2011 (Kommentar)


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