Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Flammender Protest gegen Gaddafi

Demonstranten in Tripolis setzten Gebäude in Brand / Diktator bereits außer Landes? *

Trotz der Ankündigung von Reformen durch die libysche Führung haben sich die gewaltsamen Proteste Tripolis, Bengazi und andernorts ausgeweitet. Unterdessen kursierten Meldungen, Gaddafi habe das Land verlassen.

In der Nacht zum Montag (21. Feb.) zündeten Demonstranten Polizeireviere und öffentliche Gebäude in verschiedenen Teilen von Tripolis an. Bei den Protesten gegen Staatschef Muammar al-Gaddafi verwüsteten Protestierende nach Zeugenangaben das Gebäude eines staatlichen Radio- und Fernsehsenders in der Hauptstadt. In der Nähe des Stadtzentrums stand demnach der sogenannte Saal des Volkes in Flammen, ein großes öffentliches Versammlungsgebäude. Während der Nacht seien in der Stadt immer wieder Schüsse zu hören gewesen.

Die in Paris ansässige Internationale Föderation der Menschenrechtsligen (FIDH) teilte mit, »viele Städte« wie Bengasi und Surt seien in der Hand der Demonstranten, weil Soldaten sich den Protesten angeschlossen hätten. Mehrere Tunesier, die aus Libyen geflüchtet waren, erklärten, die libysche Polizei habe die Stadt El Sawia westlich von Tripolis verlassen. Nach FIDH-Angaben wurden seit dem Beginn des Aufstands vor einer Woche 300 bis 400 Libyer getötet. Human Rights Watch sprach von mindestens 233 Toten.

In Malta landeten libysche Jets und Hubschrauber mit hochrangigen libyschen Offizieren an Bord. Laut dem TV-Sender Al Jazeera sagten sie aus, dass sie nach einem Befehl, Protestierende in Bengazi zu bombardieren, geflüchtet seien. Auch aus der Hauptstadt Tripolis hätten Augenzeugen von Angriffen durch Militärflugzeuge berichtet.

Gaddafis Sohn Seif al-Islam warnte vor einem Bürgerkrieg mit Tausenden Toten und kündigte Reformen an. Das libysche Parlament werde schon bald zusammentreten, um neue Strafgesetze sowie Reformen bei Presse- und Bürgerfreiheiten zu verabschieden, sagte er in einer Fernsehansprache. Gleichzeitig betonte er, dass sein Vater nicht abdanken werde. Dagegen hat der britische Außenminister William Hague die Vermutung geäußert, Gaddafi sei bereits auf dem Weg nach Venezuela.

Unterdessen begann der Zusammenhalt innerhalb des Regimes zu bröckeln. Nachdem der ständige Vertreter Libyens bei der Arabischen Liga, Abdel Moneim al-Honi, bereits am Sonntag seinen Posten niedergelegt und sich den Protesten angeschlossen hatte, entschieden sich am Montag weitere libysche Diplomaten im Ausland zu diesem Schritt. Auch Justizminister Mustafa Abdeldschalil reichte den Rücktritt ein.

Die EU-Außenminister diskutierten derweil in Brüssel einen Notfallplan für EU-Bürger in Libyen. Portugal und Österreich schickten erste Flugzeuge, um eigene und EU-Bürger auszufliegen.

Auch in Jemen setzten Regierungsgegner ihre Proteste fort. In Aden schossen Polizisten erneut auf Demonstranten und töteten nach Angaben von Ärzten eine Person. Vor der Universität in der Hauptstadt Sanaa versammelten sich erneut Tausende Studenten und Oppositionsanhänger zum Sitzprotest gegen den Präsidenten. Auch in Saada (Nordjemen) demonstrierten Zehntausende.

In Bahrain erlag ein bei der Niederschlagung der Proteste am Freitag angeschossener Demonstrant seinen Verletzungen, dadurch stieg die Zahl der Toten bei den Demonstrationen auf sieben.

In Marokko gab es nach friedlichen Protesten für Reformen schwere Krawalle. Fünf Menschen starben in einer in Brand gesetzten Bank in der Stadt Al Hoceima.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2011


Volksstaat ohne Volk

Von Roland Etzel **

Nun brennt auch in Gaddafis Volksstaat die Luft und nicht nur diese. Der Revolutionsführer ist ähnlich seinen westlich und östlich von ihm bereits gestürzten Amtskollegen über viele Jahre ignorant und selbstherrlich über Bedürfnisse und Befindlichkeiten seiner Bürger hinweggegangen. Es bedurfte nicht einmal eines inneren Anlasses, die Beispiele der Nachbarn genügten, um lange aufgestauten Frust ausbrechen zu lassen.

Warum? US-amerikanische Schurkentheorien taugen wenig zur Erklärung. Libyens Bevölkerung leidet weder unter Hunger noch anderen sozialen Notlagen. Aber die gesellschaftliche Entwicklung scheint zum Stillstand gekommen; nicht erst dieser Tage, sondern schon vor einigen Jahren. Gaddafis Grüne Fibel, millionenfach verbreitetes Pamphlet der Idee einer alternativen islamischen Gesellschaft, ließ manch konservativer arabischer Regierung in den 70er und 80er Jahren den Schreck in die Glieder fahren. Der USA lebenslange Feindschaft erwarb sich der Libyer, indem er Wheelus schloss, ihren größten Flottenstützpunkt im Mittelmeer. Immer wieder überraschte Gaddafi mit Botschaften über Libyens Vereinigung mit anderen Staaten oder Visionen, immer mindestens ganz Afrika betreffend und vorgetragen in ausgesuchter Exzentrizität.

Letzteres kennzeichnet seinen Stil bis heute. Allerdings ist die Politik auf der Strecke geblieben. Seine Bürger konnte er offenbar nicht noch einmal von sich überzeugen.

** Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2011 (Kommentar)


Zurück zur Libyen-Seite

Zurück zur Homepage