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"US-Perspektive kapiert"

Opposition in Bengasi stellt »Übergangsregierung« für Libyen vor. Erste Forderungen nach Bodentruppen werden laut

Von Karin Leukefeld *

Noch während Libyen von NATO-Staaten bombardiert wird, haben Oppositionelle in Bengasi eine sogenannte Übergangsregierung gebildet, mit der sie sich dem Westen als neue Machthaber des ölreichen Wüstenstaates anbieten. An der Spitze steht als vorläufiger Ministerpräsident Mahmud Jibril, der unter Muammar Al-Ghaddafi Planungsminister und Vorsitzender des Nationalen Wirtschaftsentwicklungsrates war. Er diente dem libyschen Revolutionsführer als wirtschaftsstrategischer Kopf. Schon vor dem Aufstand soll Jibril in ein Projekt »Vision von Libyen« (Libyan Vision) involviert gewesen sein, heißt es bei der britischen BBC, angeblich mit dem Ziel, Libyen zu demokratisieren. Glaubt man der Selbstdarstellung der »Libyan Vision« im Internet, handelt es sich um eine Firma, die basierend auf Recherchen und Analysen Beratungsdienste für den öffentlichen und Privatsektor anbietet und »größeren Geschäftserfolg« verspricht. Die Firma gibt eine Adresse in Tripolis mit Arbeitszeit und Telefon an und weist auf Niederlassungen in Bengasi und Misurata hin, den heutigen Zentren der Oppositionsbewegung.

Für das westliche Kriegsbündnis ist Mahmud Jibril so wichtig, daß Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und US-Außenministerin Hillary Clinton sich mit ihm in Paris ausführlich besprachen, bevor sie mit den Luftschlägen gegen Libyen begannen. Jibril hat in den USA studiert und wurde in Beschreibungen der US-Botschaft 2009 als »reformorientiert« und als »ernstzunehmender Vermittler« beschrieben, der »die US-Perspektive kapiert«. Jibril war für die Außenbeziehungen des Übergangsrates zuständig und fungierte bisher wie ein Stichwortgeber für Angriffe der westlichen Kriegsallianz. Man strebe die Kontrolle über ganz Libyen an, so Jibril, man werde das Land zusammenhalten.

Ob ganz oder gespalten, die westliche Kriegsallianz hat vermutlich nur das Interesse, die Kontrolle über die Ölquellen nicht zu verlieren, die mehr als 70 Prozent des Energiehungers Europas stillen. Was aus dem Land sozial, kulturell und politisch einmal werden soll, scheint keine Rolle zu spielen. Die Flugverbotszone erinnert an das Vorgehen gegen den Irak Anfang der 1990er Jahre. Die damals über den Norden (Kurden) und Süden (Schiiten) Iraks verhängten »no fly zones« forderten Tausende Tote unter der Zivilbevölkerung, spalteten das Land und entmachteten nebenbei die UNO, da die Maßnahme ohne entsprechendes Mandat von den USA und Großbritannien durchgesetzt wurde. Die Selbstverteidigungsanlagen Iraks wurden sukzessive zerstört und der Boden für die Invasion 2003 bereitet, bei der die ausländischen Truppen – wiederum ohne UN-Mandat – unbehelligt im Süden und Norden des Landes über die Grenzen spazieren konnten.

Mehr als 300000 Flüchtlinge haben seit Mitte Februar Libyen nach West, Ost und Süd verlassen. Die ersten waren westliche und asiatische Gastarbeiter, die aus Unsicherheit ihre Sachen packten oder weil sie von ihren Regierungen oder Firmen zurückgerufen wurden. Dann flohen Afrikaner, die von Libyern verfolgt wurden. Schließlich flohen Libyer aus Angst vor der Invasion und einem Bürgerkrieg in die Nachbarstaaten Tunesien und Ägypten, die sich gerade ihrer alten Herrscher entledigten und wahrlich andere Probleme haben.

Anders als in Tunesien und Ägypten, in Bahrain oder Jemen kämpfte die libysche Opposition fast unmittelbar nach Beginn der Proteste bewaffnet gegen die Regierung und war mit einer ebenfalls bewaffneten Reaktion konfrontiert, weil das Militär sich mehrheitlich nicht an ihre Seite stellte. Die ausländische »Hilfe« aus der Luft scheint nicht zu reichen, mittlerweile wird offen darüber nachgedacht, die Oppositionsbewegung zu bewaffnen oder/und mit fremden Truppen einzumarschieren. Die von Ghaddafi geführte Regierung wiederum wird mit einem Waffenembargo belegt, das die NATO im Mittelmeer aktiv umsetzen will. Absehbar ist ein Bürgerkrieg in Libyen, der angesichts der mangelnden Bereitschaft, sich über politische Reformen und eine Umverteilung der Macht an einen Tisch zu setzen, Jahre anhalten könnte. Da die Opposition aber weder aus einem Guß noch straff organisiert ist, werden sich früher oder später Konkurrenzen bilden – vor allem um die Kontrolle der Ölfelder – und neue Fronten entstehen. Die Korruption wird vermutlich auf ein noch höheres Niveau steigen, als es jetzt schon der Fall ist – wie es auch im Irak nach der US-Invasion der Fall war. Die unter Ghaddafi Ausgegrenzten und arm Gehaltenen werden noch ärmer, weitere Flüchtlingsströme sind programmiert.

Schließlich sollte nicht vergessen werden, daß Libyen wie alle Staaten in Nordafrika, dem Mittleren Osten und am Golf nach dem Ende des Osmanischen Reichs und des Ersten Weltkrieges vor fast 100 Jahren mit dem Stift auf der Landkarte entstanden ist. Frankreich und Großbritannien waren neben Italien erst Kolonial-, dann Protektoratsmächte und bestimmten die Geschicke der Staaten. Die Jugend, die heute aufbegehrt, wendet sich nicht nur gegen die neokolonialen Despoten, die ihnen ihre Zukunft vorenthalten haben, sie richten sich auch gegen diejenigen, die die Despoten unterstützten. Für Libyen könnte das bedeuten, daß die Jugendbewegung, die Mitte Februar ihre Geschicke gegen Ghaddafi in die Hand nahm, eines Tages gegen diejenigen aufbegehren wird, die sich heute dem Westen andienen.

* Aus: junge Welt, 25. März 2011


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