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"Das Potential, die Produktion auszuweiten ..."

Zur Auseinandersetzung um die libyschen Ölreserven

Von Jan Köstner *

Der bewaffnete Konflikt in Libyen und die militärische Intervention der NATO haben die Ölproduktion des nordafrikanischen Landes in den Fokus der Interessen gerückt. Eine Betrachtung, die nur auf den mittelfristigen Ausfall der Exporte und die daraus resultierenden Engpässe an den Märkten orientiert, greift jedoch zu kurz.

Mit 46,6 Mrd. Barrel verfügt Libyen über die größten nachgewiesenen Ölreserven Afrikas, liegt aber mit einer Produktion von etwa 1,7 Mio. Barrel Rohöl pro Tag (bpd) nur an dritter Stelle hinter Angola (2,1 Mio. bpd) und Nigeria (1,8 Mio. bpd).[1] Darüber hinaus gilt das Land in Bezug auf Ölressourcen als nicht ausreichend erforscht, weitere Vorkommen werden in den zentralen und südlichen Landesteilen vermutet. Die Tatsache, dass Libyen im Jahre 1970 bereits 3,7 Mio. bpd produzierte, weist auf ungenutzte Kapazitäten für eine Ausweitung der Förderung hin. Das libysche Öl, insbesondere die leichte, schwefelarme Sorte Brega aus dem Sirte-Becken, ist von hoher Qualität und auf dem internationalen Markt nur schwer zu ersetzen.

Die Volkswirtschaft Libyens ist in hohem Maße von Öleinnahmen abhängig, die etwa ein Viertel des Bruttoinlandprodukts, aber 94% der Exporteinnahmen ausmachen. Zwar garantiert der Staat, gestützt auf den Ressourcenreichtum des Landes, seinen Bürgern einen vergleichsweise hohen Lebensstandard, doch gelang es nicht, die hohen Exporterlöse in eine Förderung industrieller Entwicklung umzusetzen, was sich in einer niedrigen inländischen Investitionsrate von 8 Prozent des BIP und einer vergleichsweise hohen (inoffiziellen) Arbeitslosenquote von 30 Prozent ausdrückt.[2] Die mangelnden Erfolge trotz beträchtlicher Einnahmen erklären das Zögern der libyschen Führung, die Produktion durch Gewährung neuer Ölförderlizenzen zu steigern.

Bereits kurz nach Beginn der kommerziellen Produktion durch ausländische Ölkonzerne im Jahre 1961 stieg das damals sehr arme Land zum weltweit fünftgrößten Erzeuger von Rohöl auf. Da das bis Ende der 1960er Jahre existierende System den Ölfirmen Anreize bot, in kurzer Zeit möglichst hohe Mengen an Öl für den Export zu produzieren, entwickelte sich in der libyschen Gesellschaft ein weitverbreitetes Unbehagen gegenüber der Verschleuderung der natürlichen Ressourcen des Landes. Der seit einem Staatsstreich 1969 regierende Revolutionäre Kommandorat unter Muammar Ghaddafi ordnete daher 1970 Produktionseinschränkungen an und zwang die Ölkonzerne zu Verhandlungen über eine Neufestsetzung der Preise. Da eine Nationalisierung der Industrie infolge des Mangels an ausgebildetem Personal nicht möglich war, erfolgte ab 1971 eine Übernahme von 51 Prozent der Anteile der in Libyen operierenden Tochtergesellschaften ausländischer Konzerne durch die libysche National Oil Company (NOC), ab 1973 erfolgte der Abschluß von Production Sharing Agreements (PSA), die dem Staat 81-88 Prozent der Ölproduktion garantierten.

Der nach den Ölkrisen 1973 und 1979 stark gesunkene Ölkonsum in den USA erlaubte es der Reagan-Administration 1982 einen Boykott über libysches Öl zu verhängen und 1986 die US-amerikanischen Ölkonzerne zum Verkauf ihrer libyschen Tochterfirmen zu zwingen. Die Sanktionen durch die zu diesem Zeitpunkt im Ölgeschäft dominierenden USA führten zu einem Rückgang von Exploration und Entwicklung, so dass in den 1980er Jahren nur 20 Prozent der Förderung durch die Erschließung neuer Reserven ersetzt werden konnten. Der Weigerung Libyens die Verdächtigen im Lockerbie-Fall auszuliefern, folgte 1992 die Verhängung von Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat. 1996 schließlich verabschiedete die US-Regierung nach wachsenden Spannungen zwischen den USA auf der einen, Libyen und Iran auf der anderen Seite, den Iran-Libya-Sanctions-Act (ILSA), der festlegte, dass US-Konzerne nicht mehr als 40 Mio. US-Dollar pro Jahr in diesen Staaten investieren durften. International war der ILSA zwar nicht bindend, doch versuchten die USA weltweit Druck auf Konzerne auszuüben, um Investitionen im Iran oder in Libyen zu verhindern.

Der Ansturm internationaler Ölgesellschaften auf Libyen nach der schrittweisen Aufhebung der Sanktionen ab 2000 reflektierte die Verknappung der Anlagemöglichkeiten für Kapital im Ölsektor und den Rückgang profitabel zu fördernder Reserven weltweit. Gleichzeitig galt im Angesicht der Verschärfung der Konflikte zwischen den USA und Irak Libyen als das OPEC-Land mit dem „Potential die Produktion auszuweiten, um jedwede Nachfrage, die an die OPEC-Reserven gestellt würde, zu bewältigen.“[3] Die Konzerne ließen sich dabei von der Auffassung leiten, dass der libysche Ölsektor dringend auf die Erneuerung der Kapitalanlagen angewiesen wäre. Das war jedoch ein Irrtum: Die Anlagen waren zwar antiquiert, aber sie funktionierten, was der libyschen Führung einen großen Handlungsspielraum ermöglichte.[4]

Die NOC verzögerte die Ausschreibungen mit zwei Zielstellungen: Einerseits sollte mittelgroßen US-amerikanischen Ölfirmen (Independents) die Möglichkeit zur Beteiligung gegeben werden, andererseits wurde durch eine Verzögerung der Druck auf die USA erhöht, die Sanktionen restlos aufzuheben. Diese Verschleppung frustrierte vor allem europäische Firmen, die sich von der frühen Aufhebung der Sanktionen durch die EU Vorteile erhofft hatten.

Zwischen 2003 und 2005 kam es schließlich zur Ausschreibung einer Vielzahl von Explorations- und Produktionslizenzen, wobei die NOC kleinere Firmen und Staatskonzerne von Entwicklungsländern gegenüber multinationalen Konzernen aus den USA und der EU bevorzugte.

2007 entschied Libyen vorerst keine neuen Ausschreibungen durchzuführen, sondern stattdessen die bestehenden Verträge nachzuverhandeln. Die NOC war dabei so erfolgreich (teilweise stieg der libysche Anteil in den PSA auf 90 Prozent), dass sie ankündigte ihre Position zu den abgeschlossenen Verträgen grundsätzlich erneuern zu wollen. Diese Wendung führte zu Verunsicherung bei einer Reihe von internationalen Ölfirmen, die daraufhin ankündigten, ihr Engagement in Libyen zu überdenken. Darauf reagierte die NOC mit der Ankündigung, die weitere Exploration ohne „Eintritt neuer Parteien“ durch Finanzierung mittels einheimischer Banken durchführen zu wollen.[5] In der Folge wurde das Ziel der Ausdehnung der Produktion auf 3 Mio. bpd auf 2017 verschoben und eine verstärkte „Libyanisierung“ der Ölindustrie initiiert, deren Ziel es war, durch die Verpflichtung zur Einstellung libyscher Spezialisten den Anteil einheimischer Beschäftigter insbesondere in höheren Positionen (z.B. Ingenieure) zu steigern. 2009 schließlich verhinderte die libysche Führung den Verkauf der Anteile der kanadischen Firma Venetrex an die China National Petroleum Corporation und übernahm sie stattdessen selbst für 2/3 des Preises durch einen Staatsfond.[6] Mit dieser im Westen als „Ressourcennationalismus“ bezeichneten Politik nutzte Libyen die Konkurrenz zwischen den internationalen Ölfirmen zur Erringung möglichst günstiger Konditionen, oft auf dem Weg der Nachverhandlung bereits geschlossener Verträge. Aus Sicht der Konzerne hingegen wurde dadurch die geordnete Verwertung des libyschen Öls verhindert.

Die Diskussion um die Verabschiedung eines Ölgesetzes 2010 war Ausdruck zweier verschiedener Tendenzen im libyschen Staatsapparat: wollte die Gruppierung um den in westlichen Staaten als „Reformer“ bezeichneten NOC-Chef Shukri Ghanem den Ölfirmen bessere und vor allem verlässliche Konditionen bieten, mit dem Ziel mehr Kapital anzuziehen und dadurch die Ölförderung im Interesse höherer Einnahmen anzuheben, orientierte die Gruppierung um den Vorsitzenden des Allgemeinen Volkskomitees (also den Regierungschef) und Vorsitzenden des Obersten Rates für Energieangelegenheiten al-Baghdadi Ali al-Mahmudi auf die Weiterführung der Politik des „Ressourcennationalismus“ und der „Libyanisierung“.[7]

Die Verschlechterung der Rahmenbedingungen ihrer Geschäftstätigkeit führte in der Vergangenheit bereits zu Rückzug einiger Konzerne, wie Chevron im Jahre 2008. Das Auslaufen mehrerer im November 2005 erteilter Explorationslizenzen und die anstehenden Neuverhandlungen setzten die verbleibenden Firmen Ende 2010 zusätzlich unter Druck. Sollte durch die NATO-Intervention in Tripolis eine neue Führung an die Macht gelangen, können sich westliche Konzerne begründete Hoffnungen machen, dass die libyschen Reserven in ihrem Sinne nutzbar gemacht werden.

Fußnoten
  1. www.eia.gov
  2. M. al-Asoomi „Libya needs to make productive use of oil revenues” 18.09.2008 www.gasandoil.com
  3. „Libya must find more oil reserves” 08.07.2004 www.gasandoil.com
  4. P. McCrum „Libya: Economy“ S. 801, in: Europa Regional Surveys of the World – The Middle East and North Africa 2011
  5. „Libya approves $ 9.86 bn plan to boost oil output” 13.09.2009 www.gasandoil.com
  6. H. Saleh „Move to update Libya oil and gas law“ Financial Times 29.03.2010
  7. J. Hamilton „Oil & Gas: Libyan Promise Falters“ 7.2.2011 www.theafricareport.com
* Eine stark gekürzte Version dieses Beitrags erschien in der "jungen Welt" vom 1. April 2011 unter dem Titel "Ölstaat mit Potential"


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