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Brüssel eskaliert

NATO intensiviert Angriffe auf Tripolis. Invasion als Ausweg aus libyschem Patt

Von Rainer Rupp *

Von einer plötzlichen und gravierenden Eskalation der NATO-Luftangriffe auf Libyen sprach am Mittwoch die New York Times. Die Attacken begannen am Dienstag (7. Juni) und dauerten bis in die Morgendämmerung am Mittwoch (8. Juni). Dabei ist die NATO mit 80 Bombenabwürfen zu einer Art Flächenbombardement übergegangen. Mitten in der 2,5 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt Tripolis wurde u.a. ein großes Areal mit angeblich »legitimen militärische Zielen«, nämlich etlichen Regierungsgebäuden und einem VIP-Gästehaus, in Schutt und Asche gelegt. Nach libyschen Angaben sind bei den Angriffen mindestens 31 Menschen getötet worden, darunter eine noch unbekannte Zahl von Zivilisten. Militärisch waren die Angriffe sinnlos, und auch politisch. Denn noch während die NATO-Bomben fielen, versprach Revolutionsführer Muammar Al-Ghaddafi in einer Radioübertragung, die westlichen Angreifer bis zu seinem Tod zu bekämpfen.

Derweil trafen sich ab Mittwoch in Brüssel die Kriegsminister der »größten und erfolgreichsten Friedensorganisation der Welt« – so das NATO-Selbstlob – zu ihrer Frühjahrstagung. Neben dem strittigen US-Raketenabwehrprogramm in Europa und der sich abzeichnenden Niederlage in Afghanistan haben sich die Minister mit dem jüngsten Krieg beschäftigt, den sie in Nordafrika vom Zaun gebrochen haben. Derweil berichten US-amerikanische (z.B. Washington Post) und europäische Medien (z.B. ARD-Tagesschau), wegen des Libyen-Kriegs gebe es zunehmende »Ermüdungserscheinungen im Bündnis«, insbesondere in Großbritannien, Frankreich und Italien, wo sie sich in verstärkten Protesten äußern.

Ursprünglich hatte die NATO geglaubt, mit ein paar Bombardements die unterschiedlichen Kräfte in Libyen hinreichend aufzurütteln, um Ghaddafi zu stürzen. Der aber scheint sich im Westen des Landes, insbesondere in Tripolis, immer noch beachtlicher Unterstützung zu erfreuen. Daran haben auch die bisher 4000 NATO-Angriffe nichts geändert. Bei den Attacken sollen nach Angaben von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen 1800 angeblich »legitime militärische Ziele« zerstört worden sein.

Die nächste Stufe der Eskalation durch die USA ist der Einsatz unbemannter Killer-Drohnen gegen libysche Ziele. Großbritannien und Frankreich werfen Kampfhubschrauber in die Schlacht, die den Rebellen beim Vorrücken gegen die Regierungstruppen bessere Luftunterstützung geben sollen. Aber auch das hat die erhoffte Frontverschiebung in Richtung Tripolis bisher nicht gebracht, denn die Aufständischen lassen lieber die NATO bomben, als daß sie ihr eigenes Leben im Kampf riskieren. Im Bodenkrieg ist somit eine Pattsituation entstanden.

Um eben dieses Patt zu überwinden, hat die NATO die Bombardierungen intensiviert. »Bombenexplosionen ohne Ende«, titelte die Los Angeles Times. Dieser verbrecherische Rundumschlag ist zwar militärisch sinnlos, denn die wichtigen Ziele sind längst zerstört, aber er dient der psychologischen Kriegführung. Das Ziel bleibt, die immer noch ­loyale Bevölkerung von Tripolis derart zu terrorisieren, daß sie Ghaddafi endlich davonjagt. So tötet die NATO inzwischen täglich mehr Zivilisten, als vorher im Kreuzfeuer der verfeindeten Bürgerkriegsparteien gestorben sind. Erfahrungen aus vergangenen Kriegen zeigen jedoch, daß unter dem Bombenhagel fremder Mächte die Bevölkerung sich eher enger um die eigene Führung schart.

Die Optionen der NATO werden geringer. Zwar hat der britische Außenminister am Mittwoch erklärt, die Allianz könnte bis Weihnachten und länger weiterbomben, aber die militärischen Ziele gehen aus. Daher besteht die Gefahr, daß als nächstes die zivile Infrastruktur, also Brücken, Elektrizitäts- und Wasserwerke, etc. zu »legitimen militärischen Zielen« erklärt werden. So wie 1999 in Belgrad und davor im Irak. Für die NATO wäre es jedoch eine politische Katastrophe, wenn sie den Westen Libyens gänzlich zerstören würde, um ihn für die Rebellen zu »befreien«. Große internationale Proteste würden nicht ausbleiben.

Könnten daher die aktuellen Bemühungen Rußlands, zwischen den Aufständischen in Bengasi und der Regierung in Tripolis einen Waffenstillstand herbeizuführen, der NATO aus der Sackgasse helfen? Wohl kaum, denn für die Kriegsherren in Brüssel, die von Anfang an statt auf Verhandlungen auf Gewalt gesetzt haben, wäre ein russischer Erfolg eine riesige Blamage (siehe unten). Als rettender Ausweg für die Allianz bleibt daher nur noch eine Bodeninvasion, weshalb Moskau die NATO immer nachdrücklicher genau davor warnt.

Der Gedanke, mit in Irak und Afghanistan erprobten Soldaten die eher dilettantisch wirkenden Kräfte Ghaddafis schnell zu besiegen und auf diese Weise das Gesicht des Westens zu wahren und vom eigentlichen Versagen der NATO abzulenken, dürfte den Kriegsherren in Brüssel sehr verlockend erscheinen. Andererseits: Auch die Kämpfe in Afghanistan und in Irak sollten ja ganz schnell vorbei sein.

* Aus: junge Welt, 10. Juni 2011


Moskaus Mann sondiert in Libyen

Sondergesandter Margelow nach Begegnung mit Aufständischen bereit zu Treffen mit Gaddafi

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Die libysche Opposition sei bereit zu Verhandlungen mit der Gaddafi-Regierung. Das war die wichtigste Botschaft, die der Sondergesandte von Russlands Präsident Dmitri Medwedjew, Michail Margelow, Chef des außenpolitischen Ausschusses im Föderationsrat, von seiner Reise in den nordafrikanischen Staat mitbrachte.

Die Aufständischen, sagte Michail Margelow in einem Interview für Radio »Echo Moskwy«, seien keine Extremisten und seien sich der Verantwortung für die Zukunft des Landes bewusst. Auch habe sich der Provisorische Nationalrat nicht auf die Machtübernahme kapriziert und lehne die »physische Beseitigung« von Staatschef Muammar al-Gaddafi ab.

Er, so Margelow, sei daher zu einem Treffen mit Gaddafi bereit. Derzeit sei von einem Termin in der zweiten Juni-Dekade die Rede, meldete die Nachrichtenagentur RIA Nowosti unter Berufung auf Delegationskreise. Sogar die Entsendung russischer Friedenstruppen ins Krisengebiet nach Abschluss der Operation westlicher Staaten kann Margelow sich vorstellen. Voraussetzung dafür sei ein entsprechendes UN-Mandat.

Russland, meint auch Viktor Oserow, Vorsitzender des Ausschusses für Verteidigung und Sicherheit im Föderationsrat, der den Einsatz genehmigen müsste, trage als ständiges Sicherheitsratsmitglied Mitverantwortung für die Rückkehr zum Frieden in Libyen. Moskaus Blauhelme würden daher strikte Neutralität gegenüber beiden Seiten wahren. Ein Mandat für Russland sei dennoch problematisch, glaubt der Militärexperte Alexander Goltz. Möglich sei nur die Entsendung von Berufssoldaten. Bisher habe Moskau aber lediglich fünf Luftlandebataillone, die ausschließlich aus Vertragssoldaten bestehen. Diese Einheiten seien für Friedensmissionen nicht geeignet, außerdem würde ihre Verlegung Russlands Möglichkeiten zur Verteidigung des eigenen Landes schwächen.

Moskaus Vermittlung mache Hoffnung auf ein Ende des Blutvergießens in Libyen, glaubt der Leiter des Nordafrika-Zentrums der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexander Tkatschenko. Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der eaußenpolitischen Zeitschrift »Russland in der globalen Politik«, ist weniger optimistisch. Derzeit sei schwer einschätzbar, ob die Bemühungen Margelows – er hat Arabistik studiert und gilt als Kenner Nordafrikas – Erfolg haben werden. Die Konsultationen steckten in der Anfangsphase, auch habe Moskau bisher keinen konkreten Plan. Zusätzlich werde die Vermittlung dadurch erschwert, dass Moskau in Bengasi – der Hochburg der Opposition – keine Vertretung eröffnen kann. Das würde Zweifel an der Legitimität Gaddafis aufkommen lassen und dessen Verhandlungen mit der Opposition erschweren.

Der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow hat Margelows Mission sogar scharf kritisiert. Russland spiele damit der NATO in die Hände, die ihre Luftangriffe fortsetzt. Außenminister Sergej Lawrow äußerte bereits vorige Woche Sorge, die Intensivierung der Bombenangriffe deute auf einen »schleichenden Übergang zur Bodenoperation« hin. Russland, heißt es, verfolge mit seinem Vermittlungsversuch keine eigenen Interessen in Libyen. Auch müssten die Afrikanische Union oder einzelne Mitglieder wie Südafrika beim Konfliktmanagement eine tragende Rolle spielen.

Kritische Beobachter hatten Margelows Sondierungen damit erklärt, dass Russland auf Nummer Sicher gehen und bei einem Machtwechsel in Tripolis seine Besitzstände wahren wolle. Beide Staaten hatten 2008 die gemeinsame Erschließung und Ausbeutung von Öl- und Gasfeldern sowie den Bau einer Bahnlinie vereinbart. Den Großteil seiner Waffen kaufte Gaddafi in der Sowjetunion und später in Russland.

** Aus: Neues Deutschland, 10. Juni 2011


Rückzahlung

Von René Heilig ***

Anders Fogh Rasmussen sprach von einem »sehr erfolgreichen Treffen« der 28 Verteidigungsminister. Nun würde die NATO schlanker und flexibler, um mit künftigen Herausforderungen besser umgehen zu können. Mag sein, denn schlechter und uneiniger als in Afghanistan und Libyen kann man Politik nicht gestalten.

An der Gaddafi-Hatz beteiligt sich nicht einmal die Hälfte der NATO-Staaten. Was die erst 2010 verabschiedete neue Strategie der Allianz zur Tischdekoration macht.

Die Bundesregierung hat nach blutigen Erfahrungen in Afghanistan offenbar begriffen, dass man entwicklungsträchtige politische Veränderungen nicht herbeibomben kann. Doch Möchtegern-Mächte wie Frankreich und Großbritannien wollen nicht zurückstecken. Und die USA sind nicht mehr in der Lage und folglich nicht mehr bereit, sich global in jeden gewünschten Krieg zu stürzen.

Die Bombenwerfer verlangen Bündnissolidarität. Gerade von Deutschland. Und glaubt wirklich jemand, dass man in Washington einen Super-Empfang samt fettem Orden bekommt, nur weil man in der Uckermark mit innerem Protest eine FDJ-Bluse getragen hat? Es war nun an de Maizière, mit der Versicherung, den Einsatz deutscher Soldaten (vorerst) in einem Nach-Gaddafi-Libyen zu prüfen, die erste Rückzahlungstranche zu avisieren. Merkel wie de Maizière sollten wissen, dass dies der falsche Weg ist, um glaubwürdig Demokratie nach Nordafrika zu exportieren. Doch mitgegangen ...

*** Aus: Neues Deutschland, 10. Juni 2011 (Kommentar)


1,3 Milliarden für Rebellen

Libyen-Kontaktgruppe tagte / Gates bemängelt NATO-Einsatz ****

Die Libyen-Kontaktgruppe unterstützt die Rebellen in Libyen mit rund 1,3 Milliarden Dollar. Das erklärte die Organisation nach einem Treffen in der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, Abu Dhabi.

US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte in Abu Dhabi, Washington erkenne den Nationalen Übergangsrat der Aufständischen als Vertretung des libyschen Volkes an. Ähnlich äußerte sich Australien, wie der arabische Sender Al-Arabija berichtete. Die meisten Staaten der Kontaktgruppe sind an dem Militäreinsatz gegen Staatschef Muammar al- Gaddafi unter Führung der NATO beteiligt. Der Gruppe gehören auch mehrere Organisationen an, darunter die Arabische Liga und die EU.

US-Verteidigungsminister Robert Gates hat sich am Freitag (10. Juni) in einer Rede in Brüssel tief ernüchtert über den Zustand der NATO gezeigt. Als Beispiel nannte er den Libyen-Einsatz, an dem sich die Hälfte der NATO-Länder nicht aktiv beteiligt. »Ganz offen gesagt: Viele der Alliierten, die sich nicht beteiligen, tun dies nicht, weil sie nicht wollen. Sondern ganz einfach, weil sie nicht können«, sagte Gates. »Die militärischen Mittel sind dafür einfach nicht vorhanden.« Der Libyen-Einsatz habe »schmerzhaft« klargemacht, dass der Mangel an militärischen Mitteln sowie an Bereitschaft die Fähigkeit der NATO aufs Spiel setzen könnten, Luft- und Seestreitkräfte zeitgleich und effektiv einzusetzen. Norwegen will zum 1. August seinen Libyen-Einsatz beenden.

Mehrere Explosionen haben auch in der Nacht zu Freitag Tripolis erschüttert. Die NATO fliegt zurzeit die schwersten Luftangriffe auf die Hauptstadt seit Beginn des Militäreinsatzes am 19. März.

Derweil sieht der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Luis Moreno- Ocampo, den Verdacht systematischer Vergewaltigungen durch Regierungssoldaten in Libyen bestätigt. Ihm lägen Hinweise auf Massenvergewaltigungen vor, sagte er.

**** Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2011


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