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Weitere Aufrüstung

NATO-Bericht über Lehren aus Libyen-Krieg. Europäer hätten Intervention nicht alleine erfolgreich zu Ende bringen können. Ausbau der Militärkapazitäten geplant

Von Rainer Rupp *

Ein vertraulicher Bericht der NATO zeichnet ein ernüchterndes Bild über den Luftkrieg gegen Libyen. Das berichtete die US-Zeitung New York Times Anfang dieser Woche unter Berufung auf das ihr vorliegende Dokument. Zentrale Frage: Welche Lehren sind aus der Militärintervention im vergangenen Jahr zu ziehen? Laut NATO-Bilanz waren die europäischen Verbündeten ohne die starke militärische Unterstützung durch die Vereinigten Staaten nicht in der Lage, den Krieg gegen das nordafrikanische Land zu führen. Das erschwere auch einen eventuellen Luftkrieg gegen Syrien erheblich, so das Blatt (siehe unten).

An dieser Stelle sollte in Erinnerung gerufen werden, daß es Frankreich und Großbritannien waren, die den Krieg gegen Libyen mit aller Macht wollten, während Washington sich anfangs sehr zurückgehalten hat. Aus Sorge, das US-Militär im Irak und in Afghanistan zu schwächen, lehnte der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates sogar noch im Februar 2011 eine direkte Beteiligung seines Landes an den Kampfhandlungen ab. Erst nach Verabschiedung der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats am 17. März mit zehn Stimmen und fünf Enthaltungen änderte sich die Position Washingtons. Aber in den ersten Tagen des Kriegs beteiligten sich die USA »nur« mit Cruise Missiles, um Libyens strategische Luftabwehr auszuschalten. Damit sollte der Weg für die Franzosen und Briten frei gemacht werden. Washington wollte sich wegen der Gefahr »großer politischer Kosten« (Gates) an dem Waffengang nicht weiter beteiligen.

Der Libyen-Krieg war ursprünglich als europäische Intervention konzipiert. Mitte des vergangenen Jahrzehnts hatten sich NATO und EU auf eine Aufteilung des Nahen Ostens und des afrikanischen Kontinents geeinigt. Gemäß der Darlegungen des NATO-Direktors für Politikplanung, Jamie Shea, im Jahr 2006 vor dem Unterausschuß für Sicherheit und Verteidigung des Europäischen Parlaments in Brüssel sollte Nordafrika dabei in den Zuständigkeitsbereich der Europäer bzw. der entsprechenden ehemaligen Kolonialmächte fallen.

Allerdings brach die libysche Regierung nicht wie erhofft nach der ersten Woche des Bombardements zusammen. Schnell wurde klar, daß Paris und London selbst mit Hilfe der anderen beteiligten NATO-Länder sowohl materiell als auch technologisch überfordert waren, den Krieg allein siegreich zu Ende zu bringen. Erst daraufhin übernahmen die USA permanent die maßgebliche militärische Rolle in diesem Krieg. Politisch jedoch blieb Washington weiterhin im Hintergrund. Insbesondere fürchteten die Vereinigten Staaten um ihr internationales Ansehen, wenn sie schon wieder an der Spitze eines westlichen Angriffs gegen ein islamisches und arabisches Land gesehen würden. Daher war US-Präsident Barack Obama auch nicht zu den Siegesfeierlichkeiten mit den Rebellen in Bengasi gekommen. Statt dessen überließ er das Feld den triumphierenden britischen und französischen Kriegshelden David Cameron und Nicolas Sarkozy.

Der 37 Seiten umfassende NATO-Bericht, samt 300 Seiten detaillierter Anhänge, der diese Woche beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel vorgelegt wurde, bestätigt, daß zwar europäische Kampfflugzeuge den größten Teil der Lufteinsätze gegen Libyen geflogen haben, aber zugleich bekräftigt er laut New York Times, daß die Vereinigten Staaten die für den Erfolg der Mission ausschlaggebende militärische Unterstützung geleistet hatten. So hätten sich die USA als der »herausragende NATO-Spezialist für Präzisionswaffen« profiliert. Und die 7700 sogenannten präzisionsgesteuerten Bomben und Raketen, die auf Libyen abgefeuert wurden, seien fast ausschließlich aus US-Beständen gekommen.

Zugleich haben sich laut Bericht die anderen NATO-Länder in bezug auf die für den Erfolg entscheidenden Aufgaben wie elektronische Aufklärung, Luftüberwachung und Luftaufklärung fast ausschließlich auf die spezialisierten Flugzeuge der US Air Force verlassen. Allerdings merkt das Papier auch an, daß die NATO bereits einige Lektionen aus dem Libyen-Krieg gelernt hat. So seien im Februar 2012 die Mitgliedsländer des Militärpakts übereingekommen, sich ein NATO-eigenes Luft-Boden-Überwachungssystem zuzulegen, das die Fähigkeit hat, gegnerische Ziele am Boden zu erkennen, zu überwachen und zu erfassen. Zugleich will die NATO – auf französische ­Initiative hin – mit in Sizilien zu stationierenden US-Drohnen wie Predator und Global Hawk – ein Luftüberwachungssystem für Nordafrika und den Nahen Osten aufbauen. Das Konzept hierzu orientiert sich an den von der NATO in Afghanistan gemachten Erfahrungen. Zusätzlich soll auch die Flotte der NATO-Tankflugzeuge zur Expansion des Machtbereiches vergrößert werden.

Auf dem NATO-Gipfel in Chicago am 20./21. Mai sollen diese und andere Aufrüstungsbeschlüsse abgesegnet werden. Aber in Zeiten von Finanzkrise und Haushaltssperren ist das Geld besonders knapp. Die Vermutung liegt nahe, daß der »geheime« NATO-Bericht der New York Times gezielt zugespielt wurde, um sich noch rechtzeitig vor dem Gipfel die wohlwollende Unterstützung der Medien für die Aufrüstung zu sichern.

* Aus: junge welt, Freitag, 20. April 2012

Hintergrund: Kriegstote ­totgeschwiegen

Der von der New York Times in dieser Woche kolportierte NATO-Bericht über die aus dem Libyen-Krieg gelernten Lektionen enthält kein Wort über die Tausende an zivilen Opfern der westlichen Militärintervention. Auch darüber, daß die viel gerühmten Präzisionswaffen oft gar nicht so präzise sind, wird geschwiegen. Bisher ist die NATO trotz gegenteiliger Beweislage stur bei ihrer Behauptung geblieben, es habe während des siebenmonatigen Bombardements im vergangenen Jahr keine zivilen Opfer gegeben. Folgerichtig müßten dann z.B. die Enkelkinder von Muammar Al-Ghaddafi, die zusammen mit ihrem Vater bei einem Luftangriff auf ihr klar zu erkennendes Wohnhaus getötet worden waren, nach dem Naziprinzip der Sippenhaftung von der NATO als legitimes militärisches Ziel gesehen worden sein. Selbst die sonst stramm hinter dem Militärpakt stehende New York Times findet es verwunderlich, daß nicht wenigstens »die vielen Dutzenden Zivilisten«, die durch direkte Waffeneinwirkung der NATO getötet wurden, in dem Bericht erwähnt werden. Dabei seien die entsprechenden Fälle »durch Untersuchungen unabhängiger Experten und der Vereinten Nationen gleichermaßen dokumentiert«, schreibt die US-Zeitung.

Außerdem kritisiert das Blatt, daß auch die Vorwürfe verschiedener Menschenrechtsorganisationen und die Klagen von Überlebenden, wonach NATO-Kriegsschiffe nichts getan haben, um in Seenot geratenen Flüchtlingen aus Libyen das Leben zu retten, mit keiner Silbe erwähnt werden. Der Sonderberater von Human Rights Watch, Fred Abrahams, sieht darin den Beweis dafür, daß die NATO nicht gewillt ist, »Fehler einzugestehen und sich mit Vorsatz dafür entschieden hat, die zivilen Opfer auszublenden«. Aber sowohl der NATO-Bericht als auch die New York Times lassen das größte Verbrechen komplett unter den Tisch fallen, daß nämlich erst durch die NATO-Intervention die massenhafte Folterung und Ermordung von Ghaddafi-freundlichen Zivilisten und Soldaten überhaupt erst ermöglicht wurde. Unter dem Schutz der NATO-Bomber war es den Aufständischen aus Bengasi möglich, die Schwarzen Libyens zu verfolgen und zu vertreiben oder zu töten. (rwr)

(jW, 20.04.2012




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