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Libyens Premier wieder frei

Milizen hatten Seidan entführt *

Der libysche Regierungschef Ali Seidan ist am Donnerstag von Milizionären in Tripolis verschleppt und vorübergehend festgehalten worden. Einige Stunden nach seiner Entführung kam er nach Regierungsangaben wieder frei. Regierungssprecher Mohammed Kaabar sagte laut der amtlichen Nachrichtenagentur Lana, der Ministerpräsident sei »befreit und nicht freigelassen« worden. Der Regierungschef sei »bei guter Gesundheit«; er kehrte am Nachmittag an den Kabinettssitz in Tripolis zurück. Mehrere Minister begrüßten ihn, als er vor dem Gebäude unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen aus einem gepanzerten Fahrzeug stieg. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und der britische Verteidigungsminister William Hague hatten zuvor Seidans sofortige Freilassung gefordert. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilte seine Verschleppung.

Die genauen Hintergründe der Entführung blieben zunächst unklar. Doch wirft der Fall ein Schlaglicht auf die politische Instabilität in Libyen. Seidan war im Morgengrauen von bewaffneten Männern aus seinem Hotel in Tripolis verschleppt worden. Die Miliz »Operationszelle der libyschen Revolutionäre« übernahm die Verantwortung und erklärte, sie habe ihn auf Anordnung der Staatsanwaltschaft festgenommen, da dem Regierungschef »Verbrechen gegen den Staat« und dessen Sicherheit vorgeworfen würden. Die Miliz »Brigade für den Kampf gegen die Kriminalität« bekannte sich ebenfalls zur Tat. Beide Gruppen unterliegen formell der Kontrolle durch das Verteidigungs- und das Innenministerium, agieren aber tatsächlich unabhängig. Sie machen Seidan dafür verantwortlich, dass US-Spezialeinheiten am Sonnabend in Tripolis den mutmaßlichen Al-Qaida-Planer Abu Anas al-Libi gefasst und außer Landes gebracht haben. Seit dem Sturz und Tod des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011 kommt Libyen nicht zur Ruhe. Zahlreiche frühere Rebellengruppen und Stammesmilizen weigern sich, ihre Waffen abzugeben, und versuchen mit Gewalt, ihre Forderungen durchzusetzen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 11. Oktober 2013


Staat im Chaos

Libyens Premier entführt und freigelassen. Zusammenhang mit US-Aktion vermutet

Von Knut Mellenthin **


Der libysche Staat ist zwei Jahre nach dem NATO-Krieg kaum noch funktionsfähig. Am frühen Donnerstag morgen gegen vier Uhr Ortszeit wurde Regierungschef Ali Zeidan von Bewaffneten aus seiner Suite in einem Nobelhotel der Hauptstadt Tripoli verschleppt. Etwa acht Stunden später kam er wieder frei. Über die Hintergründe der Ereignisse gab es zunächst kaum offizielle Informationen.

Nach Augenzeugenberichten waren an der nächtlichen Aktion im Hotel 100 bis 150 Männer einer oder mehrerer Milizen beteiligt. Die reguläre Polizei, die dort Wache hielt, zog sich beim Erscheinen der Kämpfer zurück. Die Miliz »Revolutionärer Operationsraum« verbreitete kurz darauf eine Mitteilung, derzufolge Zeidan in Vollstreckung eines staatsanwaltlichen Haftbefehls wegen Korruption und Gefährdung der Staatssicherheit festgenommen worden sei. Diese Maßnahme sei erfolgt, nachdem US-Außenminister John Kerry erklärt habe, daß die Kommandoaktion vom vergangenen Wochenende, bei der ein Libyer aus Tripolis entführt wurde, mit Wissen der libyschen Regierung erfolgt sei. Später gab es jedoch im Namen derselben Miliz, eine Mitteilung, daß Zeidans Festnahme in keinem Zusammenhang mit den US-Aktivitäten gestanden habe, sondern aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten erfolgt sei. Das Justizministerium bestritt, daß es überhaupt einen Haftbefehl gegeben habe.

Von Kerry ist die behauptete Äußerung nicht bekannt. Allerdings hatte die New York Times am Mittwoch unter Berufung auf anonyme »hochrangige Regierungsbeamte« gemeldet, daß die libysche Regierung über die grundsätzliche Absicht der USA, den Mann zu entführen, schon vor Wochen in Kenntnis gesetzt worden sei.

Nach den bisherigen Darstellungen ist nicht auszuschließen, daß ­Zeidans Festnahme durch Milizionäre erfolgte, die für das Innenministerium arbeiten, und daß er anschließend in dessen Abteilung zur Verbrechensbekämpfung gefangengehalten wurde. Seine Freilassung oder Befreiung erfolgte offenbar, als eine andere Miliz dort auftauchte. Ob es dabei eine Schießerei gab, wurde zunächst nicht bekannt. Der Premier kehrte begleitet von Leibwächtern und Soldaten in das Hotel zurück, vor dem inzwischen wieder die reguläre Polizei anstelle der zeitweise dort postierten Milizionäre aufgezogen war.

** Aus: junge Welt, Freitag, 11. Oktober 2013


Stunde der Schurken

Kidnappingwettbewerb in Tripolis

Von Werner Pirker ***


Die Eliminierung von angeblichen Schurkenstaaten durch die Militärmacht der westlichen Wertegemeinschaft hat zumeist die Etablierung von wirklichen Schurkenstaaten zur Folge. Sie leisten dann ihren speziellen Beitrag zur Instabilität in der Welt. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür bietet Libyen, das nach dem von der NATO-Luftwaffe herbeigebombten Regimewechsel zu einer Beute islamistischer Banden und Warlords geworden ist. In den vergangenen Tagen präsentierte sich das »neue Libyen« mehr denn je als rechtsfreier Raum, wobei wieder einmal klar wurde, daß die US-Hegemonialpolitik die Haupttriebkraft des um sich greifenden Rechtsnihilismus darstellt.

Die mitten in Tripolis erfolgte Festnahme und Verschleppung des Al-Qaida-Kommandeurs Nazih Abdul-Hamed Al-Ruqai durch ein US-Spezialkommando erfolgte hinter dem Rücken der libyschen Behörden, was Regierungschef Ali Seidan zu der nicht sehr entschieden vorgetragenen Forderung an die Kidnapper veranlaßte, den Terrorchef in sein Heimatland zurückzubringen. Da Seidan aber als willfähriger Diener seiner amerikanischen Herren gilt, wurde er als Vergeltung für die Gefangennahme des Al-Qaida-Mannes vom formell dem Innenministerium unterstellten »Kommandoraum der Revolutionäre Libyens« entführt. Mit besonderem Nachdruck scheinen die Entführer indessen nicht bei der Sache gewesen zu sein, denn sie ließen Washingtons Mann in Tripolis nach wenigen Stunden wieder frei.

Das jüngste Gangsterstück der Obama-Administration könnte als Hinweis darauf verstanden werden, daß sich die Waffenbrüderschaft zwischen den »Antiterrorkriegern« und den Terror-Dschihadisten, die in Tripolis immerhin einen Regimewechsel zu erzwingen vermochte, ihrem Ende zuneigt. Der islamistische Mohr hat seine Schuldigkeit beim Sturz eines laizistischen Regimes getan, für das Projekt »Nation building«, wie die Schaffung prowestlicher Marionettenregimes genannt wird, erscheint er hingegen als denkbar ungeeignet. Doch der islamistische Mohr will nicht gehen.

Der entführte Nazih Abdul-Hamed Al-Ruqai kann ein Lied über die wechselhaften amerikanisch-islamistischen Beziehungen singen. Im Kampf gegen die sowjetische Truppenpräsenz galt er als »Freiheitskämpfer«, als die Gotteskrieger dem Westen den Kampf ansagten, wurde Al-Ruqai auf die FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher gesetzt. Als sich die Interventionsmächte beim Sturz des Ghaddafi-Regimes des Dschihadismus bedienten, war er wieder zum Freiheitskämpfer geworden. Aus dem Freiheitskämpfer machten die USA einen »feindlichen Kämpfer« und damit Anwärter auf eine Reise nach Guantánamo. Die Entführung Al-Ruqais dürfte auch ein Wink mit dem Zaunpfahl für die islamistischen Rebellen in Syrien gewesen sein. Deren zunehmend dominante Rolle innerhalb der Anti-Assad-Front will Washington offenbar nicht länger hinnehmen. Doch für eine Kurskorrektur dürfte es bereits zu spät sein.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 11. Oktober 2013 (Kommentar)


Libysches Tollhaus

Von Olaf Standke ****

Mehrere Stunden befand sich Ali Seidan in der Gewalt bewaffneter Kämpfer. Das ist für libysche Verhältnisse erst einmal nichts Besonderes. Doch handelt es sich bei Seidan um den Ministerpräsidenten, und so gesehen hat die Unregierbarkeit des Landes dann doch eine neue Dimension erreicht. Die Milizen, die ihn in der Nacht zum Donnerstag aus einem Hotel in Tripolis entführten, sind formell zwar dem Innenminister unterstellt, handeln aber auf eigene Faust. Vor einigen Monaten versuchten sie sogar, das Innenministerium zu stürmen, und blockierten das Außenamt – sie wollten ein Gesetz erzwingen, das Gaddafi-Getreuen Posten in der nach den ersten freien Wahlen im Vorjahr mühsam installierten Übergangsregierung verwehren soll. Kritiker wie der Menschenrechtsanwalt Musmari werden kurzerhand ermordet.

Die Entwaffnung dieser Milizionäre war und ist eine der größten Herausforderungen für die Regierung. Nicht nur hier ist sie allerdings gescheitert. Wegen der schwierigen Sicherheitslage musste selbst das Parlament zwischenzeitlich auf Plenarsitzungen verzichten. Und nun verschärft Washington mit Kommandoaktionen wie der Verschleppung eines mutmaßlichen Al-Qaida-Kommandeurs die Lage noch: Die selbst ernannten islamistischen »Kampfbrigaden« haben Seidans Geiselnahme als Vergeltung für die US-amerikanische Militäroperation auf libyschem Boden gerechtfertigt. Da klingt es schon grotesk, wenn der Regierungschef nach seiner Befreiung erklärt, Libyen sei sicher.

**** Aus: neues deutschland, Freitag, 11. Oktober 2013 (Kommentar)


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