Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Dramatische Fehler" der NATO in Libyen

Italiens Außenminister fordert Aufklärung über Tötung von Zivilisten / Rebellenchef in Peking empfangen *

Während die NATO in Libyen weiter bombardiert, erhöht sich der Druck auf die Allianz. So fordert Italiens Außenminister Frattini Auskunft über die Umstände der Tötung von Zivilisten.

Italiens Außenminister Franco Frattini hat ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen in Libyen gefordert. Diese müssten eingestellt werden, um eine schnelle humanitäre Hilfe für die Bevölkerung zu ermöglichen, sagte Frattini am Mittwoch vor dem Unterhaus des italienischen Parlaments. Zugleich forderte er »detaillierte Informationen« zu den »dramatischen Fehlern« der NATO, nachdem das Militärbündnis zuvor die versehentliche Tötung von Zivilisten eingeräumt hatte.

Bei einem Luftangriff auf Tripolis waren nach libyschen Angaben am Wochenende neun Menschen ums Leben gekommen, darunter zwei Kleinkinder. Bei einem weiteren NATO-Angriff auf ein Militärziel westlich der Hauptstadt wurden demnach ebenfalls Kinder getötet, zudem bombardierte die Allianz am 16. Juni versehentlich eine Fahrzeugkolonne der Rebellen.

Frattini hatte bereits am Montag (20. Juni) in Luxemburg davor gewarnt, dass die versehentliche Tötung von Zivilisten durch NATO-Truppen die Glaubwürdigkeit des Bündnisses beschädigen könne. Italien stellt für den NATO-Einsatz in Libyen Militärstützpunkte sowie Flugzeuge und Kriegsschiffe.

Unterdessen bezeichnete Chinas Außenminister Yang Jiechi den Nationalen Übergangsrat der Rebellen in Libyen als »wichtigen Gesprächspartner«. Seit seiner Gründung habe dessen »repräsentativer Charakter täglich zugenommen«. Der Rat sei inzwischen »eine wichtige politische Kraft« in Libyen, erklärte Yang nach einem Treffen mit Rebellenchef Mahmud Dschibril in Peking. China hatte eine Einmischung in den Libyen-Konflikt bislang stets abgelehnt, in den vergangenen Wochen jedoch mehrere Treffen mit den libyschen Rebellen abgehalten, was als Zeichen für eine Beteiligung an einer Lösung für den Konflikt gewertet wurde. China hat beträchtliche wirtschaftliche Interessen in dem ölreichen nordafrikanischen Land.

NATO-Flugzeuge haben am Mittwoch (22. Juni) erneut Ziele in der libyschen Hauptstadt Tripolis bombardiert. Mindestens zwei Explosionen waren am späten Vormittag zu hören, während Kampfjets des Bündnisses über der Stadt kreisten. Das meldete der Oppositionssender Libya TV. Berichte über Opfer lagen zunächst nicht vor.

Derweil wollen zwei prominente US-Senatoren Präsident Barack Obama mit einer Resolution im Kongress vor der wachsenden Kritik am Militäreinsatz in Libyen in Schutz nehmen. Der Demokrat John Kerry und der Republikaner John McCain brachten ein Papier zur Billigung in den Senat ein, das den Einsatz der US-amerikanischen Streitkräfte im Kampf gegen die Regierung von Muammar al-Gaddafi für ein Jahr genehmigt. Der Einsatz von Bodentruppen in Libyen ist davon jedoch ausgenommen.

Die beiden einstigen Präsidentschaftskandidaten – McCain bei der Wahl 2008, Kerry 2004 – kontern damit den Vorstoß einiger Abgeordneter im Washingtoner Repräsentantenhaus, die Rolle der USA bei der NATO-Operation einzuschränken. Demnach sollen US-amerikanische Soldaten nicht mehr an Kampfeinsätzen teilnehmen. Kritiker aus beiden Parteien sind der Meinung, dass Obama beim Parlament eine Genehmigung für den Waffengang hätte einholen müssen.

Nach dem War Powers Act von 1973 kann ein Präsident das Militär nur mit Genehmigung des Kongresses oder im Fall eines »nationalen Notstands« in Übersee einsetzen. Ohne Zustimmung dürfen die Streitkräfte nicht länger als insgesamt 90 Tage eingesetzt bleiben – die Frist ist nunmehr verstrichen. Allerdings kommt dem Gesetz eher symbolische Bedeutung zu. Präsidenten beider Parteien haben es traditionell ignoriert oder als verfassungswidrig bezeichnet.

In Deutschland ermittelt jetzt die Bundesanwaltschaft gegen Gaddafi. Ein Sprecher der Behörde bestätigte einen entsprechenden Medienbericht. Ziel sei es, Beweise für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu sichern. Der Ankläger des IStGH hatte im März Untersuchungen gegen den Clan des Staatschefs wegen möglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit eröffnet.

Der UNO-Sicherheitsrat hatte den IStGH im Februar zu Ermittlungen gegen den libyschen Staatschef und Mitglieder seiner Regierung ermächtigt.

Bei den Ermittlungen in Deutschland dürfte es nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa unter anderem darum gehen, Aussagen möglicher Zeugen zu sichern, die sich in der Bundesrepublik aufhalten. Da der IStGH vorrangig zuständig sei, werde die Bundesanwaltschaft »derzeit lediglich mit dem Ziel ermittelnd tätig, hier in Deutschland mögliche Beweise für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu sichern«, sagte der Sprecher.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2011


Zurück zur Libyen-Seite

Zur Italien-Seite

Zur NATO-Seite

Zurück zur Homepage