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Massaker unter Gaddafi-Anhängern

Menschenrechtsorganisation vermutet Massenhinrichtungen in Sirte *

In der libyschen Stadt Sirte sollen Milizionäre des Übergangsrates 53 Anhänger von Ex-Machthabers Muammar al-Gaddafi nach deren Festnahme getötet haben. Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fanden einige Leichen, bei denen die Arme mit Plastikbändern hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Die Organisation forderte deshalb am Montag den regierenden Übergangsrat auf, "eine unverzügliche und transparente Untersuchung der offensichtlichen Massenhinrichtung einzuleiten und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen".

Auch Gaddafi ist unter bislang ungeklärten Umständen gestorben. Der 69-Jährige war in seiner Heimatstadt Sirte von Milizionären des Übergangsrates festgenommen worden. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass er und sein Sohn Mutassim später gezielt erschossen wurden.

Mitarbeiter von Human Rights Watch waren am Sonntag nahe eines Hotels in Sirte auf die 53 Leichen gestoßen. Die Blutspuren, die Einschüsse im Grasboden und die Verteilung der Geschosshülsen würden darauf hindeuten, dass die meisten Opfer gemeinsam an jener Stelle erschossen worden waren. Zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Massakers hätten Kämpfer des Übergangsrates das Gebiet mit der Fundstelle kontrolliert.

Sollte sich die Massenerschießung eindeutig den Anti-Gaddafi-Milizen zuschreiben lassen, dann wäre dies das schwerste Kriegsverbrechen, das diese in ihrem acht Monate langen Kampf gegen das Regime begangen haben. Bislang wurden vor allem Übergriffe gegen Gaddafi-Anhänger wie willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen bekannt. Außerdem wurden mancherorts Dorfbewohner vertrieben, weil sie der Sympathien für Gaddafi verdächtigt wurden.

* Aus: neues deutschland, 24. Oktober 2011


Libyen macht NATO »sehr stolz«

Mit dem Tod Gaddafis ist das Land für die neuen Machthaber »vollständig befreit« **

Der Streit um die Leiche des früheren Staatschefs Gaddafi ist offenbar beigelegt worden. Für die neuen Machthaber Libyens ist nun die »vollständige Befreiung« des Landes erreicht.

Die Leiche Muammar al-Gaddafis ist am Sonntag (23. Okt.) entgegen vorheriger Ankündigungen doch obduziert worden. Nach dem Willen der neuen Führung soll sie Gaddafis Familienangehörigen übergeben werden. Ein Sprecher des Militärrates der Stadt Misrata teilte mit, die Autopsie Gaddafis sei am Sonntagmorgen vorgenommen worden. Ursprünglich sei das nicht geplant gewesen, so Fathi Baschaga. »Aber Tripolis hat uns darum gebeten, und wir wollen die Dinge korrekt machen.« Der Obduktionsbericht lag zunächst nicht vor. Die Leiche von Gaddafis Sohn Mutassim wurde ebenfalls obduziert. Er war am Donnerstag wie sein Vater in Sirte, der Heimatstadt der Gaddafis, getötet worden.

Mitglieder des Militärrates von Misrata hatten zunächst mitgeteilt, die Leiche solle an einem geheimen Ort beigesetzt werden, um das Entstehen einer Pilgerstätte an Gaddafis Grab zu verhindern. Vertreter der UNO, der USA und anderer Länder ebenso wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verlangten eine Untersuchung der genauen Todesumstände. Auch die nach Algerien geflohene Witwe Gaddafis, Safia, forderte dies.

Ein enger Mitarbeiter Gaddafis schilderte am Sonntag in Interviews, wie der einstige Staatschef seine letzten Tage verbrachte. Er war diesen Angaben zufolge bis zum Schluss immer bewaffnet gewesen, habe aber nie einen Schuss abgefeuert. Kontakt zur Außenwelt habe er zum Schluss nur über sein Satellitentelefon gehabt, mit dem er TV- oder Radiosender anrief. Immer wieder habe Gaddafi in der verwüsteten Stadt die Quartiere gewechselt. Gemeinsam mit den letzten Getreuen habe er am Donnerstag versucht, die Stadt in einem Konvoi zu verlassen. Gaddafi habe in einem Toyota Land Cruiser gesessen. Nach etwa einer halben Stunde hätten NATO-Kampfflugzeuge den Konvoi ausgemacht und beschossen, schildert der Gaddafi-Vertraute die Ereignisse. Er sei getroffen und verwundet worden. Zusammen mit Gaddafi habe er dann zunächst versucht, eine Farm zu erreichen, dann eine größere Straße und schließlich die Abwasserrohre, in denen Gaddafi später gefunden wurde. Er selbst sei dann erneut getroffen worden und ohnmächtig geworden. Erst im Krankenhaus sei er wieder aufgewacht.

Die russische Regierung forderte die sofortige Aufhebung der Flugverbotszone über Libyen sowie ein Ende aller Sanktionen gegen das Land. Im Sicherheitsrat brachte Russland einen entsprechenden Resolutionsentwurf ein.

Die NATO hatte zuvor das Ende ihres Einsatzes in Libyen zum Monatsende angekündigt. Die Vertreter der 28 NATO-Länder hätten eine vorläufige Vereinbarung getroffen, die Operation zum 31. Oktober einzustellen, sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Brüssel. Er wies Berichte zurück, wonach die NATO Gaddafi gezielt angriff. Der Tod Gaddafis sei niemals Ziel des Bündnisses gewesen.

In den vergangenen sieben Monaten flog der Pakt mehr als 26 000 Lufteinsätze, darunter über 9600 Angriffsflüge. Bei der Mission »Unified Protector« (Vereinigte Schutzmacht) bombardierte die NATO Ziele am Boden und setzte eine Flugverbotszone sowie ein Seeembargo für Waffenlieferungen durch. Deutschland beteiligte sich nicht an dem Militäreinsatz.

Rasmussen sagte, er sei »sehr stolz« auf das, was die NATO in Libyen erreicht habe. Das Bündnis habe »Massaker« an der Zivilbevölkerung verhindert.

Derweil will der letzte noch in Libyen untergetauchte Sohn Gaddafis den Kampf fortsetzen. In einer kurzen Audiobotschaft beschimpfte Saif al-Islam die NATO.

In Bengasi dauerte bei Redaktionsschluss die Zeremonie an, bei der die »vollständige Befreiung« Libyens proklamiert werden sollte. Tausende waren auf dem zentralen Platz in der nordöstlichen Stadt versammelt, wo im Februar die Proteste gegen Gaddafi begonnen hatten. Die Menschen sangen die neue Nationalhymne und schwenkten Fahnen aus der Zeit der Monarchie.

** Aus: neues deutschland, 24. Oktober 2011


Mal wieder nichts gewusst

BND dementiert in Sachen Gaddafi - halbherzig

Von René Heilig ***


Der Bundesnachrichtendienst (BND) hat einen Bericht des Magazins »Der Spiegel« dementiert, nach dem der libysche Ex-Staatschef Muammar al-Gaddafi mit deutscher Geheimdiensthilfe aufgespürt worden sei.

Bisweilen kommt es auf Feinheiten an: Der BND, so sagte sein Sprecher Dieter Arndt, habe nicht gewusst, dass sich Gaddafi am besagten Tag in Sirte aufgehalten habe. Am besagten Tag ... Die Formulierung bietet Interpretationsmöglichkeiten. Auch wenn der deutsche Auslandsgeheimdienst ergänzte, man sei selbst »überrascht gewesen über den Auffindeort« Gaddafis.

»Der Spiegel« hatte am Wochenende gemeldet, dem BND sei schon seit Wochen der genaue Aufenthaltsort Gaddafis in dessen Heimatstadt Sirte bekannt gewesen. Grund: Der BND verfüge traditionell über ein dichtes Quellennetz im Nahen Osten und habe genau gewusst, wo sich Gaddafi vor den Milizen versteckt hielt. Jedoch seien keine Geo-Daten mitgeteilt worden, die zu einem gezielten Angriff auf Gaddafi hätten führen können. Der auch von der NATO nicht beabsichtigt war. Schließlich soll der Umsturz offiziell eine Befreiungsaktion des libyschen Volkes sein. Erst als Gaddafi erneut flüchten wollte, haben französische NATO-Kampfjets seinem Konvoi den Weg abgeschnitten, so dass Gaddafi den einheimischen Jägern in die Hände fallen konnte.

Zumindest zwei Indizien sprechen dafür, dass einiges an der »Spiegel«-Geschichte stimmt. Da ist zunächst das traditionell enge Verhältnis zwischen Magazin und BND, der Libyen-Fehleinschätzungen gesichtswahrend korrigieren muss. Zu Jahresbeginn hatten Ernst Uhrlaus Agenten den möglichen Widerstand gegen Gaddafi grob unterschätzt. Der Grund? Der BND hatte seine langjährigen und erprobten Quellen zumeist in den Reihen der damals noch Mächtigen. Auch in Libyen. Direkt oder über Scheinfirmen wurden verschiedene Operationen zur Stärkung des Gaddafi-Regimes abgewickelt. Ob es dem Dienst nun so rasch gelungen ist, ergiebige Quellen auf Seiten der siegreichen »demokratischen Kräfte« zu erschließen, darf bezweifelt werden. Es sei denn, die Partner haben - trotz Umsturz - nicht gewechselt.

Ein zweites Indiz der Zuträgerschaft für befreundete Geheimdienste ist der Fall Iraks 2003. Offiziell ebenfalls nicht am US-Krieg beteiligt, versorgte der BND die USA mit Informationen aus Bagdad. Ein Schwerpunkt der Arbeit von zwei BND-Agenten war die Suche nach dem damaligen Machthaber Saddam Hussein.

Unterdessen hat die Staatsanwaltschaft in Stuttgart Ermittlungen wegen der illegalen Lieferung von G 36-Sturmgewehren an die Gaddafi-Regierung eröffnet. Nicht gegen den BND, sondern gegen den Hersteller Heckler & Koch. Man wird sehen, wohin sie führen.

*** Aus: neues deutschland, 24. Oktober 2011


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