Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

EU einig über Sanktionen gegen Gaddafi-Regime

Waffenembargo, Vermögensbeschlagnahme und Einreiseverbote geplant / Libyen: Befreiungsfeiern im Osten, Terror im Westen *

Die EU-Mitglieder haben sich als Reaktion auf die Gewalt in Libyen auf ein Paket von Sanktionen gegen das Land verständigt. Staatschef Muammar al-Gaddafi lässt unterdessen weiter auf Regimegegner schießen.

Wie am Freitag (25. Feb.) aus dem Auswärtigen Amt verlautete, sind die politischen Weichen für EU-Sanktionen gestellt. Man setze darauf, dass der formale Beschluss Anfang nächster Woche folgt. Geplant seien ein Waffenembargo und ein Exportverbot für Güter, die zur Repression eingesetzt werden können. Das Vermögen der Herrscherfamilie soll eingefroren, gegen den Clan von Staatschef Gaddafi sollen Einreisesperren verhängt werden. Oppositionelle schätzen das Vermögen der Gaddafis auf 80 bis 150 Milliarden US-Dollar. Außenminister Guido Westerwelle schloss weitere Strafmaßnahmen nicht aus, wies aber Berichte über Pläne für ein militärisches Eingreifen zurück. Die Botschafter der 28 NATO-Länder kamen derweil zu einem Krisentreffen zusammen.

Unterdessen haben mehr als 60 Bürgerrechtsgruppen den sofortigen Ausschluss Libyens aus dem UNO-Menschenrechtsrat gefordert. Der Grund sei eine »immense und systematische Verletzung der Menschenrechte«, erklärte Human Rights Watch in New York. Libyen habe »jeden Anspruch auf einen Sitz in dem Gremium verloren, seit klar ist, dass Muammar al-Gaddafis Versprechen, Libyen Haus für Haus zu säubern, keine leere Drohung war.« Der Menschenrechtsrat empfahl am Freitagabend einstimmig, Libyen auszuschließen. Ein Ausschluss kann nur von der UN-Vollversammlung beschlossen werden. Während westliche Staaten einen solchen Schritt forderten, sprach sich Kuba dagegen aus. China und Russland zeigten sich zurückhaltend. Libyens Vize-Botschafter bei der UNO sprach in New York von Tausenden Toten bei den Protesten in seinem Land.

Im Stadtzentrum der libyschen Hauptstadt Tripolis eröffneten Soldaten am Freitag das Feuer auf eine Gruppe von etwa 500 Demonstranten. Laut BBC gab es mindestens einen Toten. Später erklärte Gadaffi bei einer Kundgebung vor Tausenden Anhängern auf dem Grünen Platz, die Waffenlager würden geöffnet, um das Volk zu bewaffnen und »jeden ausländischen Versuch zu bekämpfen« sowie »jeden Angriff abzuwehren«.

Während die Menschen in Ost-Libyen die Befreiung ihrer Region feierten, schossen Soldaten auch in anderen Städten im Westen des Landes auf Demonstranten. Oppositionelle hatten zuvor Videos von Protesten in den Städten Al-Sawija und Tadschura im Internet veröffentlicht. In Bengasi, wo Gaddafis Truppen nicht mehr präsent sind, versammelten sich Hunderttausende, um gegen das Regime zu demonstrieren. In der Stadt sollen während der letzten Tage etwa 500 Menschen getötet worden sein. Ein angekündigter »Marsch der Millionen« aus Städten im Osten nach Tripolis blieb zunächst aus. Ein Polizeioffizier sagte, einige Bewohner von Bengasi hätten sich auf den Weg nach Tripolis gemacht, um für Gaddafis Sturz zu demonstrieren. Der Sicherheitschef von Bengasi berichtete von einem unterirdischen Gefängnis. Die 90 Häftlinge – darunter Deserteure, die sich geweigert hätten, auf Regimegegner zu schießen – seien in einem früheren, vom Gaddafi-Sohn Chamies befehligten Militärstützpunkt entdeckt worden.

Ein Polizist in der nordostlibyschen Stadt Al-Baidha sagte der Agentur dpa, dass Aufständische dort 200 Söldner getötet hätten. Den ausländischen Soldaten sollen vom Gaddafi-Regime 12 000 Dollar für jeden getöteten Demonstranten versprochen worden sein.

Gaddafi-Sohn Saif al-Islam versprach derweil politische Veränderungen. Für die Forderungen der Demonstranten gebe es Lösungen, sagte er einem CNN-Türk-Reporter. Seine Familie habe nur einen Plan: »Wir werden in Libyen leben und sterben.«

* Aus: Neues Deutschland, 26. Februar 2011


Ölpreis ist im Libyen-Hoch

Starker Anstieg kaum gerechtfertigt / Angst sorgt für Bewegung **

Die starken Ölpreissteigerungen der letzten Tage sind vor allem auf spekulative Börsenbewegungen zurückzuführen. Echte Probleme bei der Versorgung gibt es bislang nicht.

Die blutigen Unruhen in Libyen haben die Ölpreise in die Höhe getrieben. Der Preis für ein Barrel (159 Liter) Nordseeölsorte Brent war am Donnerstag in der Spitze auf 119,79 Dollar gestiegen, so hoch wie seit Ende August 2008 nicht mehr. Er fiel in der Folge auf gut 112 Dollar am Freitag, was im Wochenvergleich immer noch ein Plus von rund 10 Dollar bedeutete. Ein Barrel der US-Referenzsorte WTI kostete 98,30 Dollar; der deutliche Unterschied zur Sorte Brent gilt als ungewöhnlich.

Die EU-Kommission zeigte sich besorgt über die steigenden Ölpreise. »Es gibt keinen Zweifel: Steigende Energiepreise beeinflussen die Inflation negativ«, sagte der Sprecher von EU-Währungskommissar Olli Rehn in Brüssel. »Wir beobachten das sehr genau.« EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU) sieht die Ölversorgung Europas indes nicht gefährdet. Das libysche Öl habe mit zehn Prozent einen eher geringen Anteil an den Ölimporten, sagte er am Freitag in Berlin bei einer Veranstaltung des CDU-Wirtschaftsrats. Er sei sich sicher, dass Russland und die OPEC-Staaten »alles tun werden, um Lieferengpässe zu vermeiden«. Zudem seien die Lager in den EU-Staaten für mehrere Monate gefüllt. Wenn klar werde, dass keine Versorgungsengpässe drohen, würde sich die Lage an den Tankstellen auch wieder entspannen, betonte Oettinger.

Nach Angaben von Händlern liegt die aktuelle Ausfallquote in dem nordafrikanischen Land bei 400 000 Barrel pro Tag, was einem Viertel der libyschen Ölproduktion entspreche. Im schlimmsten Fall könne der Produktionsausfall auf bis zu eine Million Barrel am Tag steigen. Weltweit werden täglich 87 Millionen Barrel gefördert. Ausfälle bei einem Produzenten werden gewöhnlich von anderen Förderländern aufgefangen. Anders als die BASF-Tochter Wintershall fördert der größte spanische Mineralölkonzern Repsol YPF weiterhin in Libyen Erdöl. Die Produktion sei allerdings auf weniger als die Hälfte gesunken.

Nach Einschätzung des Rohstoffexperten Klaus-Jürgen Gern vom Kieler Institut für Weltwirtschaft droht eine Ölkrise vorerst nicht. »Das Ganze ist im Moment noch nicht so dramatisch«, sagte er. Kritisch dürfte es aber werden, wenn Ölpipelines zerstört werden und die Unruhen auf andere wichtige Produzentenländer übergriffen. Im Moment sei das größte Problem die Angst, was noch alles passieren könnte. Analysten der Commerzbank rechnen wegen der für den 11. März in Saudi-Arabien angekündigten Proteste zunächst mit weiter steigenden Ölpreisen.

Der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz warnte vor möglichen negativen Auswirkungen auf die Konjunktur. »Ein steigender Rohölpreis bedeutet einen Kaufkraftentzug und Gewinnreduktionen«, sagte der Chef des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag hätten die Unternehmen kaum Spielräume, ihre gestiegenen Energiekosten an die Konsumenten weiterzugeben.

Libyen ist für die deutsche Exportwirtschaft – Ausfuhren 2009: 1,13 Milliarden Euro – eher unbedeutend. Allerdings war das nordafrikanische Land im vergangenen halben Jahr der drittwichtigste Weizenkunde Deutschlands gewesen, wie die Agrarmarkt Informationsgesellschaft in Bonn mitteilte. Im Moment sei faktisch kein Handel möglich.

Lexikon

Brent ist die für Europa wichtigste Rohölsorte. Wegen ihres niedrigen Schwefelgehalts eignet sie sich besonders für die Benzinherstellung. Gefördert wird das Öl in der Nordsee aus vier Feldern, darunter dem zwischen den Shetlandinseln und Norwegen gelegenen Feld Brent. Über eine Pipeline gelangt es zum Ölterminal auf den Shetlandinseln, von wo aus es per Tankschiffen weitertransportiert wird. Gehandelt wird es in London an der Warenterminbörse ICE Futures. Das Ölfeld Brent hat sein Fördermaximum längst überschritten. ND



** Aus: Neues Deutschland, 26. Februar 2011


Sprung nach Tripolis?

Von Arnold Schölzel und Karin Leukefeld ***

NATO und EU bereiteten am Freitag (25. Feb.) die Öffentlichkeit auf Sanktionen gegen Libyen vor und brachten ein militärisches Eingreifen in den Bürgerkrieg des Landes in die Debatte. Die EU-Staaten einigten sich auf Sanktionen gegen die libysche Führung um Muammar Al-Ghaddafi, darunter Kontosperrungen, Reiseverbote und ein Embargo für Waffen und andere Güter, wie ein EU-Diplomat am Freitag in Brüssel erklärte. Die NATO hatte für Freitag eine Sondersitzung zur Lage in Libyen anberaumt. Der Generalsekretär des Paktes, Anders Fogh Rasmussen, berief die Botschafter zu dem Treffen des NATO-Rates im Hauptquartier in Brüssel ein. Er erklärte zuvor, ein militärisches Eingreifen der Allianz sei nicht geplant, weil es dafür keine Anfrage gebe. Ein etwaiger Einsatz müsse ohnehin von einem Mandat der Vereinten Nationen getragen werden. Auf ähnliche Weise hatte deren Generalsekretär, Ban Ki Moon, das Thema Intervention bereits ins Spiel gebracht, als er am Donnerstag (24. Feb.) die internationale Gemeinschaft zur Einheit aufforderte, um einen »sofortigen und friedlichen Wandel« in Libyen zu ermöglichen. Der UN-Sicherheitsrat wollte noch am Freitag über Sanktionen gegen das libysche Regime beraten. Dabei sollte auch über ein Flugverbot über libyschem Gebiet debattiert werden. Nach Angaben aus Washington wollen sich die USA für eine von den Vereinten Nationen geleitete Untersuchung der »schwerwiegenden und systematischen Verstöße gegen die Menschenrechte durch die libyschen Behörden« einsetzen.

Deutsche Medien bereiteten am Freitag das Gelände für eine mögliche Intervention auf die gleiche Weise wie beim Jugoslawien-Krieg 1999 und dem Irak-Krieg 2003 vor. So titelte Welt online: »Ghaddafi verwandelt Libyen in ein Schlachthaus«. Ähnlich berichteten auch Spiegel online, taz.de und andere mit unterschiedlichen Ziffern über Massaker.

Auf überprüfbare Quellen können sich diese Berichte nicht stützen. Nach übereinstimmenden Meldungen griffen Bodentruppen, die weiterhin loyal zu Ghaddafi stehen, zwei kleinere Städte unweit von Tripolis an. In Az Zawiyah, das etwa 50 Kilometer von Tripolis entfernt liegt, kamen 16 Menschen ums Leben, die sich unweit einer Moschee in der Innenstadt versammelt hatten und den Rücktritt Ghaddafis forderten. Am Freitag hieß es in arabischen Medien, daß der Ort inzwischen vollständig von der Opposition kontrolliert werde. Ghaddafi soll sich demnach mit seinen Getreuen in Bab Al-Azziza befinden, einem Viertel in Tripolis, von wo er auch seine Fernsehansprache gehalten hatte. Geschützt wird er dabei vor allem von der Khamis-Brigade, einer Sondereinheit, die auf die Ghaddafi-Familie eingeschworen ist und über beste Ausrüstung verfügt. Dennoch nähern sich offenbar die Demonstrationen immer weiter diesem Bezirk von Tripolis.

Der ehemalige Justizminister Mustafa Abdel Galil traf sich am Donnerstag in Al-Baida im Osten des Landes mit Stammesführern, die ihm ihre Unterstützung zusagten. Auf dem Treffen wurde über eine Gegenregierung gesprochen, auch darüber, daß Libyen eine neue Verfassung bekommen solle. Weitere Offiziere auch im Westen des Landes kündigten ihre Unterstützung für Ghaddafi auf. Ebenfalls am Donnerstag distanzierte sich einer der engsten Berater Ghaddafis, sein Cousin Ahmed Gadhaf Al-Dam, von ihm. Dieser habe seine Führungsrolle wegen »schwerer Verletzungen von Menschenrechten, von humanitären und internationalen Gesetzen« verspielt.

*** Aus: junge Welt, 26. Februar 2011


Überfällige Schritte

Von Martin Ling ****

Die Krise in Libyen werden sie nicht beilegen. Trotzdem ist es zu begrüßen, dass die häufig uneinige Europäische Union (EU) sich wenigstens auf Sanktionen gegen den Clan von Muammar al-Gaddafi verständigen konnte. Sowenig ein Waffenembargo Gaddafis aktuelle Möglichkeiten der Repression einschränken dürfte, so überfällig war es, dem so lange hofierten Regenten klar zu zeigen, dass die Geschäftsbeziehungen beendet sind. Geschäftsbeziehungen, die gleichermaßen lukrativ für europäische Rüstungsunternehmen wie skandalös in Sachen Menschenrechten waren. Noch 2010 hat die EU Libyen 50 Millionen Euro Hilfe zur Flüchtlingsabwehr zugesagt. Gaddafi war einer der effizientesten Türsteher vor der Festung Europa, alles andere war zweitrangig.

Seit 2008 verhandelte die EU mit dem libyschen Potentaten über ein Abkommen für Aufnahmelager für potenzielle Flüchtlinge, die sich von Libyen aus über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa machen wollen. Erst Mitte dieser Woche fühlte sich die EU bemüßigt, einen Verhandlungsstopp zu verkünden. Peinlich spät. Und ohnehin kein Beleg dafür, dass die EU die Politik der Flüchtlingsabwehr beendet. Die Belastungsprobe steht vor der Tür. Gaddafi hatte schon präventiv angekündigt, im Falle von Sanktionen nicht mehr als Türsteher bereitzustehen. Die EU sollte sich deswegen schleunigst auf ein Hilfsprogramm für die zu erwartenden Flüchtlinge einigen. Die Einigkeit bei Sanktionen ist zu dürftig.

**** Aus: Neues Deutschland, 26. Februar 2011


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