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Libyen als EU-Außenposten

Immer weniger illegale Einwanderer kommen über Nordafrika nach Europa - neue Routen führen jetzt über die Türkei

Von Roderick Agius, Malta *

Das Mittelmeer zwischen Libyen und Italien bildet nicht mehr die Hauptroute für illegale Einwanderer, die aus Afrika nach Europa wollen. Libyen scheint die Tore geschlossen zu haben. Viele Flüchtlinge weichen nun auf die Türkei aus.

In den vergangenen Jahren sind diese Bilder immer wieder aufgetaucht: Flüchtlingsboote im Mittelmeer, überfüllte Flüchtlingslager in Malta, Flüchtlingsrevolten auf Lampedusa. Doch damit scheint es nun vorbei. Im kleinen Malta, das in den vergangenen Jahren bis zu 3000 Flüchtlinge pro Saison aufnehmen musste, ist seit dem Frühjahr kein einziges Flüchtlingsboot gelandet. Bereits in den vergangenen Jahren waren die Zahlen zurückgegangen. Im April entschied die maltesische Regierung deshalb, sich nicht mehr an den Patrouillenfahrten von Frontex, der EU-Grenzbehörde, zu beteiligen.

Auch anderswo im zentralen Mittelmeer sind die Flüchtlingszahlen zurückgegangen. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk beträgt der Rückgang je nach Route zwischen 50 und 95 Prozent, auf der italienischen Insel Lampedusa sind es 94 Prozent. Während dort 2006 insgesamt 22 000 Flüchtlinge landeten, waren es im vergangenen Jahr nur noch 8700. In diesem Jahr sind es bisher lediglich mehrere Hundert gewesen.

Dieser Rückgang geht auf eine verstärkte Zusammenarbeit der EU mit Libyen zurück. Oder anders gesagt: Auf das Wohlwollen von Muammar Al Gaddafi und dessen neue Freundschaft mit dem italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi. Italien hat die Schäden anerkannt, die seine Kolonisierung Libyens im 20. Jahrhundert angerichtet hatte. Es sagte in einem Abkommen Zahlungen in Höhe von fünf Milliarden Euro zu. Libyen verstärkte daraufhin die Grenzkontrollen. Zudem kaufte es für 300 Millionen Euro Sicherheitsausrüstungen, darunter Infrarotgeräte. Am 9. Juni unterzeichnete Tripolis ein Abkommen mit der EU, das unter anderem die illegale Einwanderung nach Europa beschränken soll.

Das Nachsehen haben die Flüchtlinge, die aus den Ländern südlich der Sahara über Libyen nach Europa ziehen wollen. Hilfsorganisationen kritisieren seit langem die Lage der bis zu zwei Millionen illegalen Einwanderer in Libyen. Amnesty International warf der EU vor, deren Situation zu ignorieren, solange Gaddafi den Nachtklubwächter für Europa spiele. Die EU-Staaten zeigten sich blind gegenüber der humanitären Situation in seinem Land, wo Flüchtlinge keine Rechte hätten, misshandelt und missbraucht würden. Tausende würden in überfüllten Flüchtlingslagern vegetieren. Libyen kennt noch immer die Todesstrafe und wendet sie vor allem gegen Flüchtlinge an. Die Organisation hat die EU aufgefordert, endlich zu reagieren. Sie und ihre Mitgliedstaaten sollten die Menschenrechte zum Kern jeder Vereinbarung mit Libyen machen, verlangt AI-Europadirektor Nicolas Beger. Libyen weist solche Vorwürfe allerdings zurück. »Wir sechs Millionen Libyer haben zwei Millionen illegale Einwanderer aufgenommen«, sagte Außenminister Mussa Kussa. »Wir tragen dieses Problem allein. Aber eines Tages werden wir nicht mehr in der Lage sein, das zu tun.«

Insgesamt freilich ist der Flüchtlingsstrom nach Europa nicht unterbrochen, sondern hat sich vielmehr in die Türkei verlagert. Allein im vergangenen Jahr nahmen die türkischen Behörden 70 000 illegale Einwanderer fest. Das dürfte nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge sein, die durch das Land nach Europa ziehen. In Griechenland wurden im gleichen Jahr bereits 150 000 Illegale verhaftet. Die Zahlen in den ersten Monaten dieses Jahres weisen auf einen weiteren Anstieg hin. Die Flüchtlinge scheinen dabei Landrouten der gefährlichen Überfahrt über das Meer vorzuziehen. Die neue Route beunruhigt Menschenrechtler: Griechenland wendet das EU-Asylrecht so schlecht an, dass Gerichte in anderen EU-Ländern inzwischen die Rückschaffung dorthin untersagen. Malta und Italien mögen ein paar Probleme weniger haben. Aber Europa insgesamt hat sein Flüchtlingsproblem noch nicht gelöst.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Juli 2010


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