Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Libyen droht neuer Krieg

Bengasi proklamiert Autonomie. Machthaber in Tripolis drohen mit Gewalt *

Viereinhalb Monate, nachdem der selbsternannte »Nationale Übergangsrat« (NTC) Libyen für »vollständig befreit« erklärt hat, haben die neuen Machthabern ihre Kontrolle über das nordafrikanische Land noch immer nicht festigen können. Am Dienstag (6. März) haben nun Stammesführer und Milizkommandeure den ölreichen Osten Libyens zu einer »halbautonomen« Region ausgerufen. In der Stadt Bengasi, von wo vor gut einem Jahr der Aufstand gegen die Regierung von Muammar Al-Ghaddafi ausgegangen war, nahmen Tausende Menschen an einer Zeremonie teil, bei der ein Rat ernannt wurde, der die Angelegenheiten der Region regeln soll. Als sein Machtgebiet beansprucht dieser die Cyrenaika von der Küstenstadt Sirte bis zur ägyptischen Grenze. Grund für die Ausrufung der Autonomie sei die »jahrzehntelange Diskriminierung des Ostens«, hieß es.

Der NTC in Tripolis warnt vor einem Auseinanderbrechen des Landes. Am Mittwoch drohte der Chef der selbsternannten Übergangsregierung, Mustafa Abdul Dschalil, mit Gewalt. »Wir werden keine Teilung Libyens zulassen«, sagte er bei einer Konferenz in Misrata, die im Fernsehen übertragen wurde. Der Übergangsrat sei bereit, »auch mit Gewalt« gegen die Autonomiebestrebungen einzuschreiten. Bereits am Vortag hatte er von »Aufruhr« gesprochen und »einige arabische Länder« einer »Verschwörung gegen Libyen und die Libyer« bezichtigt, um nicht »von der Revolution angesteckt zu werden«.

An der Spitze des Autonomierates steht Ahmed Al-Zubair Al-Senussi, der bislang auch dem NTC in der Hauptstadt Tripolis angehört und ein Großneffe des früheren libyschen Königs Idris I. ist. Nach einem gescheiterten Militärputsch 1970 gegen Ghaddafi saß Al-Zubair bis 2001 in Haft. Im vergangenen Jahr wurde er vom Europäischen Parlament als Vertreter des »Arabischen Frühlings« gemeinsam mit Aktivisten aus Syrien und Ägypten mit dem »Sacharow-Preis für geistige Freiheit« ausgezeichnet.

Unmittelbarer Anlaß für die halbe Abspaltung der Cyrenaika ist offenbar ein Streit um ein neues Wahlgesetz zu der für Juni geplanten Abstimmung über ein neues libysches Parlament. Diesem zufolge sind 102 der 200 Sitze für den Westen des Landes vorgesehen, 60 für die östliche Region – zu wenig für die Repräsentanten in Bengasi.

Ein halbes Jahr nach dem Sturz Ghaddafis und dem Einzug der Aufständischen in Tripolis erweist sich der NTC immer offensichtlicher als regierungsunfähig; die Zentralgewalt ist zusammengebrochen. Städte, Gemeinden und Regionen, Milizen und Stämme machen, was sie wollen, und schaffen sich ihre eigenen, unabhängigen Machtpositionen. »Was Ghaddafi nach 40 Jahren in Libyen hinterließ, ist ein sehr, sehr schweres Erbe«, räumt NTC-Chef Dschalil, der theoretisch Libyen regiert und praktisch nicht einmal Tripolis im Griff hat, gegenüber der Nachrichtenagentur AP ein.

In Bengasi zeigt Idris Al-Rahel auf eine große Libyen-Karte an der Wand. Eine senkrechte Linie teilt das Land mittendurch. Der Exoffizier ist Chef der »Nationalen Föderalen Union« und will zurück zu dem bis 1963 bestehenden System dreier Regionen, von denen jede eine eigene Hauptstadt, ein eigenes Parlament, eine eigene Polizei und eigene Gerichte haben soll.

AP-Korrespondentin Maggie Michael berichtet, Tripolis werde nach wie vor von Milizen beherrscht, die nicht in den regulären Streitkräften aufgehen wollen. Die Wüstenstadt Kufra im Süden ist das Schlachtfeld zweier rivalisierender Stämme: Bei Kämpfen zwischen den arabischen Zwia und den afrikanischen Tabu gab es im Januar Dutzende Tote. Und Misrata, die drittgrößte Stadt des Landes, regiert sich praktisch selbst. Der selbsternannte Stadtrat aus Zeiten des Aufstands wurde als korrupt und unfähig abgesetzt und im Januar ein neuer gewählt. Unterdessen berichten unabhängige libysche Medien über schwere Zusammenstöße zwischen Befürwortern und Gegnern des »Föderalismus« in Bengasi. In Tripolis sei es zudem zu Gefechten zwischen verschiedenen Milizen um die Kontrolle des internationalen Flughafens der libyschen Hauptstadt gekommen. (dapd/AFP/jW)

* Aus: junge Welt, 8. März 2012


Antinationale

Ostlibyen droht mit Sezession

Von Werner Pirker **


Der von den NATO-Interventen erzwungene und als Beitrag zum »arabischen Frühling« deklarierte Regimewechsel in Libyen zeitigt katastrophale Folgen. Demokratische Verhältnisse sind nicht einmal in Ansätzen zu erkennen, es herrscht die nackte Willkür. Die Staatsmacht ist völlig desorganisiert. Milizen ziehen mordend und brandschatzend durch das Land. Sämtliche sozialen Errungenschaften der Volks-Dschamahirija fallen der neoliberalen Neuausrichtung der Wirtschaft zum Opfer. Die nationalen Reichtümer sind zum Ausverkauf ausgeschrieben. So ist es, wenn die Antinationalen an die Macht kommen.

Selbst um die staatliche Einheit des nordafrikanischen Landes könnte es bald geschehen sein. Stammes- und Milizenführer haben am Dienstag (6. März) die ölreiche Cyrenaika mit der Hauptstadt Bengasi für autonom erklärt und Scheich Ahmed Al-Zubair Al-Senussi, einen Verwandten des verstorbenen Königs Idris I., an die Spitze der Verwaltung gesetzt. Die sezessionistischen Bestrebungen in Ostlibyen haben den Bürgerkrieg ausgelöst, in dessen Ergebnis die Anti-Ghaddafi-Kräfte von der westlichen Kriegsallianz an die Macht getragen wurden. Nach vollzogenem Regimewechsel geht die separatistische Aggression munter weiter.

Das will nun der »Nationale Übergangsrat« – eine Koalition aus CIA-Agenten, Überläufern und Islamisten – doch nicht zulassen. Sein Vorsitzender Mustafa Abdel Dschalil erklärte, daß man entschlossen sei, gegen die Teilungsbestrebungen einzuschreiten, »auch mit Gewalt«, wie er hinzufügte. Fragt sich nur, ob Libyens Übergangsregierung die Autorität und das Durchsetzungsvermögen hat, die Herausforderung der Separatisten anzunehmen. Dschalil sprach von einer »sehr gefährlichen Verschwörung« gegen die nationale Einheit Libyens. Von letzterer kann aber schon lange nicht mehr die Rede sein. Mit den Pro-Ghaddafi-Kräften wurde ein großes, wahrscheinlich sogar das Mehrheitsspektrum gewaltsam ausgeschaltet. Gesiegt haben die Spalter der nationalen Einheit, die sich nun selbst immer weiter aufspalten. Der Konflikt zwischen den Landesteilen ist nur eine unter mehreren Bruchlinien.

Der Chef des Übergangsrates beschuldigte übrigens andere arabische Länder, hinter der »sehr gefährlichen Verschwörung« zu stehen. »Bedauerlicherweise finanzieren und unterstützen arabische Bruderstaaten die Sezession im Osten aus Angst vor einer Ansteckung durch die Revolution.« Das ist interessant. Schien es doch, als wäre die »libysche Revolution« genau nach dem Geschmack dieser Bruderstaaten – gemeint sind wohl Saudi-Arabien und die anderen Länder des Golf-Kooperationsrates – verlaufen. Denn eine Revolution, die sich der Hilfe des Westens und der arabischen Reaktion bedient, kann den Golf-Monarchien ausschließlich des Herrscherhauses in Riad doch nicht gefährlich werden. Das schließt keineswegs aus, daß sich die Ölscheichs mit den Monarchisten in der Cyrenaika tatsächlich gegen die staatliche Einheit Libyens verschworen haben.

** Aus: junge Welt, 8. März 2012 (Kommentar)


Zurück zur Libyen-Seite

Zurück zur Homepage