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Der perfekte Krieg

Jahresrückblick 2011. Heute: Libyen. Der Westen bestreitet zivile Opfer des NATO-Angriffes. Rußland fordert Untersuchung

Von Knut Mellenthin *

In Libyen hat nach der offiziellen Version des westlichen Bündnisses der perfekte Krieg stattgefunden: Nicht ein einziger »Zivilist« kam bei den Bomben- und Raketenangriffen der NATO zu Schaden. Und so erklärte der Generalsekretär der Allianz, Anders Fogh Rasmussen, im November stolz: »Wir haben diese Operation sehr sorgfältig durchgeführt, ohne bestätigte zivile Verluste.« Die Betonung liegt auf dem Wort »bestätigt«: Die NATO betrachtet ausschließlich solche Verluste als »bestätigt«, die sie selbst festgestellt hat. Da die Allianz aber keinerlei Untersuchungen vorgenommen hat oder künftig vorzunehmen gedenkt, kann es per Definition grundsätzlich keine »bestätigten« zivilen Opfer ihrer Angriffe gegeben haben.

Inzwischen, mehrere Wochen nach dem strahlenden Fazit ihres Generalsekretärs, ist der Militärpakt immerhin so weit, daß er angesichts einer Fülle eindeutiger Berichte nicht mehr mit allerletzter Sicherheit ausschließen will, daß es vielleicht doch den einen oder anderen unglücklichen »Kollateralschaden« gegeben haben könnte. Das zu prüfen und festzustellen sei jedoch ausschließlich Sache der »rechtmäßigen« Regierung Libyens, die gerade vom Westen an die Macht gebombt wurde. Die aber zeigt naturgemäß an einer Untersuchung nicht das geringste Interesse: Hat sie doch, und das ist ganz wörtlich zu verstehen, selbst viel zu viele Leichen im Keller. Außerdem: Für etliche zivile Ziele, die von Bomben und Raketen der NATO zerstört wurden, hatten Rebellen Beschreibungen und Koordinaten geliefert.

Untersuchung gefordert

Da kann Rußland sich vergeblich anstrengen. Am Donnerstag vor Weihnachten trug der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, im Sicherheitsrat erneut die Forderung nach einer von der UNO mandatierten Untersuchung des Luftkriegs gegen Libyen vor. Eine solche Untersuchung sei von größter Bedeutung, »weil die Führer der NATO uns anfangs glauben machen wollten, daß es null zivile Verluste ihrer Bombenkampagne gegeben habe«. Tschurkin kritisierte in diesem Zusammenhang auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon für seine Aussage, die NATO habe vollständig ihr vom Sicherheitsrat erteiltes Mandat erfüllt, die libysche Zivilbevölkerung zu schützen.

Wenige Tage zuvor hatte die NATO-Pressesprecherin Oana Lungescu wieder einmal behauptet, die Allianz habe keine Zahlen über zivile Opfer. Sie reagierte damit auf eine umfangreiche Darstellung der New York Times, die am 17. Dezember erschienen war. Reporter und Zuarbeiter der Tageszeitung hatten mehrere Wochen lang an rund 25 Orten in Libyen recherchiert, aus denen Verluste unter der Zivilbevölkerung in Folge von Luftangriffen gemeldet worden waren.

Zusammenfassend kamen die Verfasser des Artikels zur Feststellung, daß »insgesamt mindestens 40 Zivilisten und vielleicht mehr als 70 an diesen Stellen von der NATO getötet wurden«. Darunter seien mindestens 29 Frauen oder Kinder gewesen. Diese Zahlen sind, selbst wenn man nur die von der New York Times geschilderten Einzelfälle addiert, mit ziemlicher Sicherheit zu niedrig. Allein bei einem einzigen Angriff, am 8. August auf Wohnhäuser in Majer, kamen nach einer Namensliste, die von der neuen Regierung geliefert wurde, mindestens 35 Bewohner ums Leben. Die damaligen libyschen Behörden hatten die Zahl der Todesopfer mit 85 angegeben. Insgesamt waren nach einer Veröffentlichung des libyschen Gesundheitsamtes schon bis zum 13. Juli durch die NATO-Luftangriffe 1108 Zivilisten getötet und 4500 verletzt worden.

Die Redaktion der New York Times hat sich offenbar darauf beschränkt, eine sehr gut gesicherte Minimalzahl der zivilen Toten zu produzieren. Das ist unter den gegebenen Umständen – vor allem angesichts der hartnäckigen Ignoranz der NATO und der westlichen Regierungen – methodisch ein durchaus sinnvolles Vorgehen. Die Zeitung schildert außerdem mehrere Fälle, bei denen der Militärpakt besonders infam operierte: Dem ersten Angriff folgte im Abstand von einigen Minuten ein zweiter, der sich nun gegen die Menschen richtete, die zum Helfen herbeigeeilt waren. Die New York Times erwähnt auch Luftattacken auf die Privatwohnungen von Militärs und Politikern, bei denen zahlreiche Familienmitglieder getötet oder verletzt wurden. Offiziell wurden diese Objekte von der NATO als »getarnte Kommandozentralen« deklariert. Die Hinweise kamen in der Regel von Rebellen und Überläufern.

Modellcharakter

Das offen und demonstrativ erklärte absolute Desinteresse der westlichen Militärs an einer Aufklärung der Folgen ihrer Luftangriffe gegen Libyen setzt ein klares Zeichen für die Zukunft. Mit einer ähnlichen Kaltschnäuzigkeit wurde oder wird nicht einmal im Irak und in Afghanistan operiert. Immerhin hat es die NATO dort mit Regierungen und Behörden zu tun, die sich zwar in einem Abhängigkeitsstatus befinden, aber die schon aus Gründen ihres innenpolitischen Ansehens gelegentlich kritische Fragen an ihre »Beschützer« stellen.

Das Leugnen oder Ignorieren der zivilen Opfer in Libyen hat offenbar auch damit zu tun, daß dieser Krieg einen Modellcharakter bekommen, also jederzeit an einem passenden Ort und unter geeigneten Voraussetzungen wiederholbar sein soll. Mit der Propagierung einer weltweiten »Responsibility to Protect«, die praktisch einen Freibrief für Militärinterventionen darstellen soll, sind getötete Kinder und Frauen schlecht zu vereinbaren. Die westlichen Regierungen können es sich andererseits aber auch leisten, über diese Folgen ihres Eingreifens zu schweigen, weil die Bevölkerung ihrer Länder sie kaum mit Fragen konfrontiert. Ethische Gesichtspunkte spielen im politischen Diskurs derzeit keine relevante Rolle. Auch die Linke hat es bisher nicht geschafft – und anscheinend nicht einmal ernsthaft angestrebt –, die Frage von Krieg und Frieden nicht nur als ein Thema neben vielen anderen zu behandeln, sondern ihr einen zentralen Platz einzuräumen.

Als eine wesentliche außenpolitische Folge der Libyen-Intervention ist immerhin zu registrieren, daß die Bereitschaft Rußlands und Chinas, den militärischen Alleingängen der NATO grünes Licht durch Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats zu geben, stark gesunken ist. Beide Staaten widersetzen sich einer Verurteilung Syriens, die von der westlichen Allianz zur Lizenz für die nächste Intervention verfälscht werden könnte, und sie sind auch in Sachen Iran vorsichtiger geworden. Niemand läßt sich gern permanent von der Gegenseite vorführen. Unter diesem Gesichtspunkt wird man in US- und NATO-Kreisen intern wohl doch darüber diskutieren, ob das libysche Abenteuer diese Konsequenzen wirklich wert war.

Andererseits muß sich erst noch erweisen, ob die Verstimmung in Moskau und Peking wirklich Ausdruck eines nachhaltigen Lerneffekts oder nur ein kurzzeitiges diplomatisches Spielchen ist. Schließlich ist es nicht das erste Mal, daß Rußland und China von den USA und deren Verbündeten im UN-Sicherheitsrat ausgenutzt und »hereingelegt« wurden. Das war vor, während und nach dem ersten Irak-Krieg (1991) nicht wesentlich anders, und es wiederholte sich vor dem zweiten Irak-Krieg (2003). Dazu paßt auch, daß die Führer beider Staaten bereits vier Sanktionsresolutionen gegen Iran mitgetragen haben, obwohl sie von Anfang an und zwischendurch immer wieder betonten, daß solche Strafmaßnahmen nach aller Erfahrung nicht nur wirkungslos, sondern geradezu kontraproduktiv seien.

* Aus: junge Welt, 5. Januar 2012


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