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... und wo ist Palästina?

Eine Reise in die palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon

Der Libanon ist in aller Munde, zumindest die internationalen Abhängigkeiten und die schiitische Miliz Hisbollah. Fast in Vergessenheit geraten sind die palästinensischen Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten in der Zedernrepublik leben. Ihre Präsenz beweist, dass der Konflikt mit Israel nicht erst mit der Gefangennahme israelischer Soldaten Anfang Juli begonnen hat. Der schmale Band "... und wo ist Palästina?" dokumentiert die Reise einer Delegation in die Flüchtlingslager. Neben den Eindrücken und Bildern aus den Lagern Sabra und Shatila, die durch das Massaker christlicher Milizen im Jahr 1982 zu tragischer Berühmtheit gelangten, bietet er wertvolle Fakten und die Analyse von ExpertInnen zur dauerhaften Lösung der sogenannten Palästinenserfrage.
Wir bringen im Folgenden eine kurze Leseprobe. Die bibliografischen Angaben zum Buch und ein Bestellformular finden Sie am Ende der Seite.



Leseprobe: Stationen einer Reise

(.....) Zu Mittag besuchen wir das Flüchtlingslager Burj Al-Shemali und den Al-Houla Club. Al-Houla ist der Name eines Sees im Norden Palästinas. Vor zwanzig Jahren war der Al-Houla Club ein Sportverein, der während der israelischen Luftangriffe auf das Flüchtlingslager im Sommer 1982, bei denen Hunderte Flüchtlinge ihr Leben verloren, komplett zerstört wurde. Der Al-Houla Club ist ein Kinder- und Jugendzentrum mit einer eigenen Bibliothek für Kinder- und Jugendliteratur, Bastel- und Werkunterrichtsräumen und einer eigenen Bühne für Kindertheateraufführungen. Somit ist der Al-Houla Club ein Ort des Widerstandes: Wöchentlich treffen hier Kinder und Jugendliche auf alte PalästinenserInnen. In einem Raum, gleich neben dem Eingang, der mit einem roten Teppich und zahlreichen Polstern zum Sitzen am Boden einlädt, finden sie zusammen, und die Alten erzählen den Jungen Details und Anekdoten aus ihrem Leben, berichten vom alten Palästina, von der Nakba. Und damit die Jungen nicht vergessen [1], wird in Spielgruppen und Workshops spielerisch gelernt, Schilderungen, Geschichten und Erzählungen wiederzugeben und nachzuerzählen. „Damit üben sich die Jungen“, erklärt uns Abu Fadi, der Leiter des Al-Houla Clubs, „ihr Gedächtnis zu schärfen und die Erinnerungen ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern zu bewahren. Es gibt zwar in einigen arabischen Ländern palästinensische Institute und Forschungseinrichtungen, die die Geschichte Palästinas und der Palästinenser zusammentragen, erforschen und archivieren, die auch die mündlichen Überlieferungen als oral history sammeln, und dennoch ist die Geschichte jedes einzelnen Flüchtlings besonders und wert in Erinnerung zu bleiben“. Abu Fadi überlebte die Luftangriffe 1982, die seinen fünf Kindern das Leben kosteten. Bei dem Rundgang durch Burj Al-Shemali zeigt er uns das schlichte Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der israelischen Bombardements. Ein kleines, rund gebautes Gewölbe, in dessen Mitte eine Steinwand fünf Tafeln trägt. Auf den Tafeln stehen auf Arabisch die Namen der Familien, die bei den Angriffen ums Leben kamen. Ein Kranz und ein Stück Papier mit Bildern der Getöteten und der Aufschrift „We won‘t Forget Martyrs of Houla Massacre“ zeugt davon, dass Angehörige und Besucher das Mahnmal aufsuchen.

Besuch der unregistrierten Flüchtlings-Siedlung Shabriha

Der letzte Programmpunkt für den heutigen Tag ist der Besuch in der unregistrierten Siedlung Shabriha im Süden des Libanon. Die Siedlung von Shabriha liegt in Tyr, 75 km entfernt von Beirut, und wurde 1952 von palästinensischen Beduinen errichtet. Während der israelischen Invasion 1982 wurde das Lager dem Erdboden gleichgemacht, die hier lebenden Flüchtlinge mussten abermals aus ihren Unterkünften fliehen. Die Bewohner von Shabriha kamen jedoch zurück und bauten ihre Häuser wieder auf. Heute leben in Shabriha 1500 palästinensische Flüchtlinge. Gleich bei unserer Ankunft in Shabriha empfängt uns Abu Al Abed und lädt uns zum Abendessen bei seiner Familie ein. In den Räumlichkeiten seines kleinen Hauses wartet bereits ein herrlich gedeckter Tisch. Bei all unseren Treffen mit palästinensischen Familien sowie den offiziellen Treffen mit politischen Repräsentanten und NGOs sind wir jedes Mal aufs Neue überrascht, mit welcher Gastfreundschaft und Herzlichkeit wir behandelt werden. Wir konnten uns selbst davon überzeugen, wie tief die Kultur der Freigiebigkeit und des Respekts vor dem Anderen in der palästinensischen Gesellschaft verankert ist. Zu essen gab es ein traditionelles palästinensisch-arabisches Gericht namens Maklouba [2]. Nach dem Essen führt uns Abu Al Abed durch die Siedlung von Shabriha; bevor wir jedoch sein Haus verlassen, unterhalten wir uns noch mit seiner Familie, die gerade dabei ist, den frisch gepflückten Thymian, der hier angebaut wird, zu zerstoßen. Bei unserem Spaziergang durch die Siedlung sind wir sehr überrascht über die Vielfalt an Pflanzen, die hier wachsen. Im Gegensatz zu den überbevölkerten Lagern, vor allem in Beirut, haben die Menschen hier in Shabriha mehr Platz und vor allem Sonnenlicht. Dieser Platz wird optimal genutzt, um Pflanzen jeder Art anzubauen. Auf unserem Weg sehen wir riesengroße Orangenbäume, Zitronenbäume, Gummibäume und etliche andere Pfl anzen und Gewürze. Bei unserem Spaziergang statten wir Hassan Abu Al Rayed einen Besuch ab. In seinem Garten nehmen wir unter einem Dattelbaum Platz, um Abu Al Rayeds Erzählung über seine Geschichte in Shabriha zu hören. Hassan Abu Al Rayed hat 15 Kinder, 11 Mädchen und 4 Jungen. Er lebt in Shabriha seit 1952, hat hier geheiratet, und alle seine Kinder sind hier geboren. Heute arbeitet er als Verkäufer in einem kleinen Geschäft. Außerdem verkauft er Orangen und andere Früchte, die er selbst anbaut, und besitzt darüber hinaus 15 Bienenstöcke. In seinem Garten bekommen wir eine kleine Vorstellung davon, wie es im Palästina vor der Nakba ausgesehen haben mag. (....)

Fußnoten:
  1. In Anlehnung an das Zitat der ehemaligen Ministerpräsidentin Golda Meir (bzw. an ein vor ihr schon von Ben Gurion getätigtes Zitat) „Die Alten werden sterben und die Jungen werden vergessen“, womit die Hoffung der Zionisten zum Ausdruck kam, das Flüchtlingsproblem werde sich irgendwann von selbst lösen.
  2. Maklouba - das Willkommensgericht - wird traditionellerweise zu besonderen Anlässen gekocht, vor allem wenn die Familie Besuch empfängt oder Familienmitglieder wieder heimkommen, die verreist waren. Das Wort Maklouba bedeutet auf den Kopf gestellt, denn beim Anrichten wird der Topf, in dem der Reis mit dem Fleisch gekocht wurde, umgedreht, damit das Fleisch und das Gemüse auf dem Reis zum Liegen kommen.
... und wo ist Palästina? Eine Reise in die palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon
Eigenverlag, Wien 2006; 87 Seiten; 12 EUR; ISBN: 3-9502184-0-8


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