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"...dabei sind wir die ursprünglichen Bewohner!"

Die Zahl der Flüchtlinge weltweit – im eigenen wie in fremdem Land – nimmt stetig zu

Von Karin Leukefeld, Nahr al-Bared (Libanon); Dohuk (Irak) *

»Klock-klock, klock-klock«, laut hallt es durch die verlassene Ibrahim-Straße im palästinensischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared. Viel ist von der Straße nicht übrig geblieben, seit das Lager bei Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und der palästinensischen Gruppe Fatah al-Islam in Schutt und Asche gebombt wurde. Drei Jahre später liegen die Häuser noch immer in Trümmern, Geschäfte und Werkstätten sind verwaist. Auch das Klock-klock-Geräusch aus einer Garageneinfahrt stammt nur von einem Tischfußballspiel, mit dem ein paar jugendliche Palästinenser die Zeit totschlagen. 27 000 palästinensische Flüchtlinge waren 2007 infolge der Kämpfe obdachlos geworden, verloren mit ihrem Hab und Gut ihre gesamte Existenz.

Das Lager nördlich der libanesischen Hafenstadt Tripoli war 1949 als Provisorium für die bei der Staatsgründung Israels 1948 vertriebenen Palästinenser entstanden. Damals lebten die Menschen in Zelten und hofften, nach wenigen Monaten wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Das ist nun über 60 Jahre her. Das von UN-Resolutionen und im Völkerrecht verbriefte Recht auf Rückkehr wird ihnen bis heute vorenthalten.

Von den palästinensischen Flüchtlingen leben offiziell 430 000 in Libanon, die meisten in zwölf über das ganze Land verteilten Lagern. Israel schließt die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in sein reguläres Staatsgebiet kategorisch aus. Von den reichen arabischen Brüdern und aus dem Westen kommen Finanzspritzen, um das Leid der Flüchtlinge zu lindern. Als kürzlich ein hoher Beamter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) erklärte, die Palästinenser sollten ihr Recht auf Rückkehr vergessen und zusehen, dass sie sich in den Ländern einrichten, in denen sie leben, erntete er so scharfe Kritik, dass er seine Aussage zurücknehmen musste. Verbessert hat das die Lage der Palästinenser freilich nicht.

Palästinensischer Flüchtling in Libanon zu sein – das bedeutet vor allem, einen ewig gleichen, tristen Alltag zu haben. Auch die Ibrahim-Straße von Nahr al-Bared hat den jungen Palästinensern nichts anderes zu bieten. Wenn er als Tagelöhner Arbeit finde, sei er auf einer Baustelle, sagt der 19-jährige Abdullah Hadj Assad verlegen. Sonst gebe es nichts zu tun.

Abdullahs Freund Samer reagiert zynisch auf die Frage, wie er sich seine Zukunft vorstelle: »Wir haben hier doch alles, sehen Sie sich um«, sagt er und zieht nervös an seiner Zigarette, »Sonne, Meer, Strand, was brauchen wir mehr zum Leben?«

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Ein Flüchtlingsschicksal kann man auch im eigenen Land erleiden – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Krieg, ethnische Diskriminierung, Bürgerkriege, Klimaveränderungen und wirtschaftliche Notlagen gehören zu den Hauptursachen. In Syrien zum Beispiel haben rund 300 000 Familien – bis zu 2,1 Millionen Menschen – die Dürreprovinzen im Nordosten des Landes verlassen. Heute leben sie in Armutsgürteln um die syrischen Großstädte Aleppo, Damaskus und Homs, wo sie auf ein Auskommen als Tagelöhner hoffen. Auch die Flüchtlinge aus den 1967 von Israel besetzten syrischen Golan-Höhen und von den Scheeba-Höfen warten seit mehr als 40 Jahren auf Gerechtigkeit.

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Irak ist nicht erst seit heute, aber noch nie so sehr wie heute ein in mehrfacher Hinsicht gespaltenes Land: ethnisch, politisch, religiös und nicht zuletzt sozial. Nehmen wir den kurdischen Teil Nordiraks. Dort entstehen einerseits in den Provinzhauptstädten gläserne Hochbauten, Einkaufszentren und Luxushotels, während andererseits immer mehr Bauern in Slums um die Metropolen siedeln. Sie haben ihre Dörfer verlassen, weil sie immer weniger ihrer traditionellen Produkte wie Obst und Gemüse verkaufen, weil billigere Angebote aus Iran, Syrien und der Türkei die Märkte überschwemmen.

Die meisten der derzeit in Irak registrierten 2,8 Millionen Inlandsflüchtlinge sind jedoch Menschen, die irgendwo im Land Sicherheit vor der alltäglichen Gewalt suchen.

»Wir hatten Angst, dass man unsere Söhne tötet, ihnen die Köpfe abschlägt, darum sind wir aus Mossul geflohen.« Sarah Mikail sitzt auf der Couch im Wohnzimmer ihrer neuen Bleibe in Romta, einem neu erbauten Dorf bei Dohuk in Irakisch-Kurdistan. Ruhig legt die Christin ihre gefalteten Hände in den Schoß, während sie zögernd über ihr Leben erzählt.

Vor 55 Jahren wurde sie in Akra geboren, unweit der irakisch-iranischen Grenze. Als sie sieben Jahre alt war, zogen ihre Eltern mit den Kindern nach Mossul, wo sie später den zehn Jahre älteren Stefan Georgis kennenlernte und heiratete. Bis 2003 lebten Abu und Umm Daoud, wie beide genannt werden – Vater und Mutter von Daoud, dem ältesten Sohn –, ein einfaches, aber sicheres Leben in Mossul, erinnert sie sich. »Dann gab es Drohungen, Morde, wir Christen lebten in ständiger Angst.« 2006 wurden drei ihrer Neffen aus deren Geschäft entführt. Die Familie musste Lösegeld aufbringen. Danach entschloss sie sich, Mossul zu verlassen.

»Früher hat niemand die Christen getötet oder ihre Häuser angezündet«, sagt Khamis Daniel (43), der Ortsvorsteher von Romta. Auch er stammt aus Akra nahe der iranischen Grenze, das seine Eltern 1980 in Richtung Mossul verließen, als der Krieg zwischen Irak und Iran begann. »Wir sind die ursprünglichen Bewohner Iraks, man hat uns Christen in der Vergangenheit respektiert, weil man weiß, dass wir friedlich sind. Aber Sie sehen ja, wie es uns inzwischen ergeht, niemand beschützt uns.«

Khamis Daniel floh 2006 aus Mossul nach Syrien: »Das Leben dort, in Damaskus, war schwierig, wir durften dort nicht arbeiten.« Also ging er zurück, diesmal nach Dohuk, und half bei der Planung und Gründung von Romta. In den 30 Häusern des abgelegenen Dorfes leben heute 34 Familien, rund 160 Personen, zählt Khamis Daniel auf. Bis auf eine armenische Familie sind alle chaldäische Christen. Alle gaben ihre Ersparnisse in einen Fonds, 70 000 Dollar kamen so zusammen: »Davon haben wir das Land gekauft.« Ein wohlhabender armenischer Geschäftsmann spendete Geld für den Bau der Häuser, am Hang über dem Dorf steht die Kirche.

Auch wenn der heftige Winterregen manchen der Häuser hart zugesetzt hat, wovon schwarze Feuchtigkeitsflecken an den Zimmerwänden zeugen, ist Umm Daoud dankbar, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Man könne die Dorfstraße auf und ab spazieren, zur Kirche gehen oder die Nachbarn besuchen. Abu Daoud hat einen Garten angelegt. Mit Blumen, Gemüse, Kräutern und einem Olivenbaum.

Doch noch immer gibt es Probleme, die den Menschen nachts den Schlaf rauben. »Wir haben keine Arbeit, das umliegende Land gehört uns nicht, wir dürfen es nicht bebauen, und unser Dorf ist weit von Dohuk entfernt«, erklärt Khamis Daniel. Es fehlt eine Schule, es gibt weder Klinik noch Arztpraxis, und nur ein kleines Geschäft. Die Frauen backen das Brot selbst, ein fliegender Händler verkauft alle 14 Tage Gaskartuschen für den Küchenherd.

»Wir sind einfache Leute«, beschreibt Ortsvorsteher Daniel ihr Dilemma. »Wir können keine Klinik bauen, aber wir hoffen, dass uns Hilfsorganisationen unterstützen. Ohne deren Arbeit hätten wir hier nicht einmal Kanalisation, Strom und Wasser.«

Nach den Wahlen vom März ist ihre Lage nicht besser geworden, sagt Daniel, »es gibt zu viele Probleme in Irak.« Er sei kein Politiker, fügt er lachend hinzu. Seiner Ansicht nach sind es vor allem die Nachbarstaaten, die das Land nicht zur Ruhe kommen lassen. »Eine mögliche demokratische Entwicklung in Irak passt weder Iran noch Saudi-Arabien, Syrien oder anderen arabischen Ländern, sie macht ihnen Angst.«

Die Christen seien am besten in Nordirak aufgehoben, fügt er noch hinzu, aus dem Ausland hätten sie keine Hilfe zu erwarten. »Vielleicht haben Christen aus dem Ausland uns unterstützt, aber wann und wo Hilfsgüter eingetroffen sein sollen – ich weiß es nicht«, sagt er vorsichtig.

Bei den christlichen Flüchtlingen in Romta jedenfalls sei »nicht ein Kilogramm Zucker« angekommen. Mitfühlende Worte aus dem Vatikan sind für den Ortsvorsteher deshalb kaum von Bedeutung: »Der Papst ist in Rom, und wir leben hier in Not.«

Die Zahl der Flüchtlinge weltweit ist stark gestiegen. Waren es 2008 noch 34,4 Millionen Menschen, die das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) registrierte, so sind es gegenwärtig mehr als 43 Millionen. 27 Millionen davon sind Flüchtlinge im eigenen Land. Neben der absoluten Zunahme gibt es außerdem einen Trend zu längeren Aufenthalten im Zufluchtsland.

Die meisten geflohenen Menschen kommen laut UNHCR derzeit aus Afghanistan. Vor dem seit Jahren andauernden Krieg flohen rund 2,8 Millionen Personen. Danach folgt Irak mit 1,9 Millionen Menschen auf der Flucht. Die meisten davon leben im Nachbarland Syrien.

Was die Palästinenser betrifft, gibt es keine einheitliche Auffassung, wer als Flüchtling gezählt wird. Reichlich 3,7 Millionen sind es nach Angaben des UNRWA, im ganzen Nahen Osten verstreut, einschließlich Westjordanland und Gaza-Streifen.

Die Palästinenser selbst sprechen von 5,2 Millionen Flüchtlingen, denen das Recht auf Rückkehr zu gewähren sei.


* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2010


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