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"Es geht um die politische Macht"

Der kubanische Journalist Enrique Ubieta über Blogs und die Medienlandschaft auf der Insel

Enrique Ubieta ist Chefredakteur der kubanischen Monatszeitung »La Calle del Medio«. Harald Neuber befragte ihn für das Neu Deutschland (ND) in Havanna darüber, in welchem Maße kubanische Medien für Kritik und Debatte offen stehen und welche Rolle Blogs spielen.



ND: Vor gut zwei Jahren hat Kubas Präsident Raúl Castro zu einer Debatte über die Probleme der kubanischen Gesellschaft aufgerufen. Hunderttausende Meinungen wurden zusammengetragen. Wie spiegelt sich diese Debatte in den Medien wider?

Ubieta: Zunächst einmal: In Kuba entstehen ständig neue Publikationen. Und das trotz der hohen Papierpreise und trotz des Fehlens kommerzieller Anzeigen, die in der übrigen Welt eine Haupteinnahmequelle der Medien darstellen.

Lässt sich das in Zahlen fassen?

Es gibt derzeit landesweit 408 Printmedien und 365 eigenständige Onlinemedien. Darunter befinden sich landesweite Presseorgane und regionale Publikationen. Je nach Ausrichtung der Medien werden darin Themen von sozialem Interesse diskutiert.

Geben Sie uns ein Beispiel?

Die Tageszeitung »Juventud Rebelde«: Darin wurden verschiedene Themen angesprochen, die derzeit in der öffentlichen Diskussion sind. Gerade in den vergangenen Wochen sind mehrere Berichte über Probleme der Lebensmittelversorgung erschienen, ebenso über die negativen Auswirkungen der Weltwirtschaftkrise auf Kuba. In einem Teil der Tageszeitung »Granma« ...

... des Zentralorgans der Kommunistischen Partei ...

... werden wöchentlich Meinungen der Leser abgedruckt. Kürzlich sind etwa mehrere Zuschriften erschienen, die auf eine Öffnung der Gastronomie für nichtstaatliche Akteure drängten. Die »Granma« hat sich zudem zwei problematischen Bereichen der kubanischen Wirtschaft zugewandt: dem Wohnungsbau und der Landwirtschaft.

Welche Rolle spielt Ihre Zeitung »La Calle del Medio«?

Sie wurde vor zwei Jahren gerade als Meinungs- und Debattenmedium mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren gegründet. Alle Ausgaben sind im Internet unter www.cubasi.cu zu lesen. Auch wenn wir uns in erster Linie kultureller Themen annehmen, wurden seit der Gründung in »La Calle del Medio« recht kontroverse Debatten ausgetragen, vor allem zur Lage der Jugend. Wir geben in der Regel ein Thema vor und öffnen die Zeitung für Lesermeinungen, die dann zwei oder mehr Seiten einnehmen. Das alles heißt nicht, dass wir in Kuba eine perfekte Presse haben. Wir sollten daran arbeiten, sie schärfer, kritischer und revolutionärer zu machen.

In Europa ist zu lesen, dass die Medien in Kuba regierungsnah seien. Ihnen stünden »unabhängige Journalisten« entgegen. Stimmen Sie damit überein?

Was bedeutet »unabhängig«? Dieses Wort hat, wenn es um Kuba geht, eine ganz eigene Bedeutung: Die angebliche Unabhängigkeit dieser Akteure bezieht sich nicht auf die finanziellen Bande, wie man es eigentlich vermuten müsste. Diese Verhältnisse werden eher verdeckt. Als »unabhängiger Journalist« in Kuba zählt nur, wer sich gegen die Revolution ausspricht. Wenn ein Journalist mit der Regierung übereinstimmt, kann er noch so kritisch sein, er wird nie als unabhängig gelten. Dabei ist Kuba der einzige Ort weltweit, an dem die »Unabhängigen« mehr Geld verdienen als die »Offiziellen«.

Blogs, also Internettagebücher, aus Kuba gewinnen an Bedeutung. Bekannt wurde der Blog »Generación Y« der Autorin Yoani Sánchez. Wie sehen Sie dieses Projekt?

Hier gilt das Gleiche. Wenn Sie in Kuba einen unpolitischen Blog veröffentlichen, um, sagen wir, über Briefmarken zu schreiben, gelten sie als regierungsnah. Wenn Sie aber, wie Yoani Sánchez, einen Blog gegen die Regierung gründen, der umgehend in 18 Sprachen übersetzt wird – mehr als die Seite des USA-Präsidenten –, dann sind Sie »unabhängig«. Diese Medienakteure benutzen Satellitentelefone und moderne Videokameras, sie zahlen horrende Preise für Internetverbindungen in Luxushotels, tragen Markenkleidung und sind mit Funktionären ausländischer Botschaften befreundet, die – wie es der Zufall will – nicht gerade eine freundliche Haltung zu Kuba einnehmen.

Im Internet kann man mehr als tausend Blogs zu kubanischen Themen finden. International bekannt sind aber allenfalls drei oder vier.

Weshalb drucken Sie die Texte von Yoani Sánchez nicht einfach selbst? Sie würden vielen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen.

Weil ihre Texte belanglos sind. Die Beiträge sind nicht mehr als ein Vorwand, um ihre Bekanntheit zu steigern. Weshalb sind von über tausend Blogs nur drei, vier bekannt? Weil sie gezielt gefördert werden. Es geht bei der Seite von Yoani Sánchez darum, eine politische Person aufzubauen, die international Sympathien bekommt. Dieser Versuch des Westens ist seit der Kubanischen Revolution stets gescheitert: der Aufbau eines Sympathieträgers, der im Ausland und in Kuba Anklang findet. Sobald ein geeigneter Kandidat auf der Bildfläche erscheint, werden die Finanzkanäle weit geöffnet. Dieser Kampf wird nicht um die Wahrheit geführt, sondern um die politische Macht.

* Aus: Neues Deutschland, 18. März 2010


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