Streitfrage: Wie sinnvoll ist ein militärischer Einsatz in Kongo?
Es debattieren: Gernot Erler, SPD, Staatsminister im Auswärtigen Amt, und Norman Paech, außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke
Das "Neue Deutschland" veröffentlichte am 28. April 2006 zwei kontroverse Positionen zum bevorstehenden Bundeswehreinsatz im Kongo. Die Kontrahenten waren:-
Gernot Erler; er wurde 1944 in Meißen geboren. Er hat in Berlin und Freiburg Geschichte, Slawische Sprachen und Politik studiert und danach als Assistent, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Verlagsredakteur und später als Verlagsleiter gearbeitet. 1970 wurde er Mitglied der SPD. Von 1995 bis 2001 war er Vorsitzender des Förderkreises »Darmstädter Signal« (kritische Soldaten und Offiziere der Bundeswehr). Seit 1987 ist er für die SPD Mitglied des Bundestages. Seit 2005 ist er Staatsminister im Auswärtigen Amt.
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Norman Paech; er wurde 1938 in Bremerhaven geboren. Er hat Geschichte und Recht in Tübingen, München und Paris und Jura in Hamburg studiert. Von 1968 bis 1972 arbeitete er im Bundesministerium für Wirtschaftliche Entwicklung. 1969 trat er in die SPD ein. Seit 1975 arbeitet er als Professor. 2001 ist er aus der SPD ausgetreten. 2005 wurde er in den Bundestag gewählt und ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke.
Wir dokumentieren im Folgenden beide Stellungnahmen im Wortlaut.
Hoffnung, die man nicht enttäuschen darf
Von Gernot Erler
»Wir brauchen die EU als Garantie dafür, dass der Wahlprozess ohne Störungen verläuft, und
Deutschland sollte dabei die Führung übernehmen, weil wir dann der Neutralität der Mission
vertrauen!« Bei meinem jüngsten Besuch in Kinshasa habe ich diesen Satz sinngemäß von fast
jedem meiner zahlreichen Gesprächspartner gehört: vom Vizepräsidenten über die verschiedenen
Minister bis hin zu Oppositionskandidaten ohne große Wahlchancen. Die Menschen in der
Demokratischen Republik Kongo haben in den vergangenen Jahrzehnten viel durchgemacht.
Befreiungskriege, Bürgerkriege, Invasionen der Nachbarn, Plünderungen, massive
Menschenrechtsverletzungen und eine weitgehende Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Die Bilanz
von vier Millionen Toten und ebenso vielen Vertriebenen rechtfertigt das Wort vom »Afrikanischen
Weltkrieg«.
Erst vor dreieinhalb Jahren verständigten sich die ehemaligen Kriegsherren in einem
Friedensvertrag auf eine vorläufige Teilung der Macht und auf einen Übergangsprozess mit der
Erarbeitung einer neuen Verfassung, der Schaffung eines Wahlgesetzes und Präsidentschafts-,
Parlaments- und Provinzialwahlen als Abschluss und zugleich Neuanfang für eine friedliche Zukunft.
Ohne Hilfe von außen hatte dieser Weg heraus aus dem Albtraum der Gewalt keine Chance. Schon
seit 1999 ist eine Friedensmission der Vereinten Nationen im Lande, die mehrfach erweitert werden
musste. Ihr Name lautet MONUC. Heute ist MONUC die größte und kostspieligste Friedensmission
der UNO, mit 17 800 Soldaten vor Ort, vor allem aus Indien, Pakistan und Bangladesh, für die die
Weltgemeinschaft fast 1,2 Milliarden Dollar im Jahr ausgibt. Die Einheiten von MONUC sind
überwiegend im Osten des Landes stationiert, wo sie illegale Milizen und Banden entwaffnen und
die Bevölkerung vor deren Übergriffen schützen.
Während die UN-Soldaten langsam den Krieg und die Gewalt aus diesen unsichersten Teilen des
Landes vertreiben, hilft die Europäische Union dabei, eine neue einheitliche und verlässliche Polizei aufzubauen und das Land dabei zu unterstützen, die bewaffneten Gruppierungen entweder zu
demobilisieren oder in einer neuen regulären kongolesischen Armee zu integrieren. Diese beiden
europäischen zivilen Missionen heißen EUPOL und EUSEC. Viel Hoffnung knüpft sich vor Ort an die
Arbeit dieser Missionen. Denn bis zu 80 Prozent aller Übergriffe und Verbrechen an der
Zivilbevölkerung werden von Uniformierten begangen. Das Hauptsicherheitsproblem des Landes
sind bis heute diese Bewaffneten, die entweder gar keinen Sold erhalten oder weniger Geld, als sie
für sich und ihre Familien brauchen, und die sich dann an der wehrlosen Bevölkerung schadlos
halten. Kein Wunder, dass deshalb im Zentrum der Reform des Sicherheitssektors eine verlässliche
Bezahlung der Soldaten steht.
In Kinshasa kann man bereits die neue, in Schnellkursen ausgebildete Polizei bei der Arbeit
beobachten. In der Hauptstadt stehen, so erfährt man, bereits 4500 Polizisten bereit, um Störungen
bei den bevorstehenden Wahlen zu verhindern und eventuelle Massenaufläufe zu kontrollieren. Bei
einer Bevölkerung von sechs bis acht Millionen Menschen schafft das noch keine
Sicherheitsgarantien. Und noch immer gibt es genug ehemalige Warlords, die heute
Regierungsmitglieder oder Präsidentschaftskandidaten sind, deren Milizen noch nicht den
Reintegrationsprozess durchlaufen haben und die jederzeit mobilisierbar sind. Diese dunkle Wolke
hängt über den bevorstehenden Wahlen, von denen sich in Kongo so viele Menschen eine bessere
Zukunft erhoffen.
Diese Wahlen sind ein Mammutunternehmen, eine politische und logistische Herausforderung erster
Güte. Abbé Malu Malu, der Leiter der Unabhängigen Wahlkommission kann viel erzählen. Davon,
dass die Nationalversammlung unbedingt »offene Listen« schaffen wollte, damit jeder, der will, auch kandidieren kann – dabei aber ein kompliziertes Wahlsystem auf den Weg brachte, bei dem jetzt
mehr als 9000 Kandidaten um 500 Mandate ringen. Die Folge: mehrere Seiten lange, komplizierte
Kandidatenlisten, deren Druck zum Glück Südafrika übernommen hat.
Der Abbé kann ohne MONUC, wo es Flugzeuge und Hubschrauber gibt, diese Wahlunterlagen gar
nicht in die 53 000 Wahllokale bringen, in einem Land, das kaum über Straßen oder Eisenbahnlinien
verfügt, aber so groß ist wie ganz Westeuropa. Zusammen bereiten 1900 Mitarbeiter im Zentrum
und vor Ort diesen Wahlprozess vor, auf dessen Beginn, der mehrfach hinausgeschoben wurde, die
Bevölkerung immer ungeduldiger wartet.
Die Weltgemeinschaft muss mehr als 400 Millionen Dollar für die Wahlvorbereitungen aufbringen.
Sie tut es, weil von einem erfolgreichen Abschluss des Übergangsprozesses nicht nur die Zukunft
der Demokratischen Republik Kongo abhängt, sondern auch die Zukunftschancen der neun
Nachbarländer und der Region der Großen Seen, in der seit 12 Jahren so viele blutige Verbrechen
und Tragödien stattgefunden haben.
Die Vereinten Nationen, die schon viele Erfahrungen im Kampf um den Frieden in Kongo gesammelt
haben, sehen ein Restrisiko für die Wahlen. Es lässt sich nicht leugnen. Die Wahlen werden auch
Verlierer schaffen. Werden die Betroffenen den Verlust von Macht, Privilegien und Pfründen
akzeptieren oder, wenn ein anderer gewinnt, plötzlich »Betrug« rufen und ihre Anhänger auf die
Straße schicken oder gar ihre Milizen in Marsch setzen? Die Idee lautet, von solchen Reaktionen
abzuschrecken: durch die sichtbare Präsenz von gut ausgebildeten bewaffneten Kräften der EU, aus
Ländern, die in Kongo Respekt genießen. Die einfach da sind, während gewählt wird, und wieder
gehen, wenn die neue Regierung ihre Arbeit aufnimmt. Viele Kongolesen würden eine solche
sichtbare Anwesenheit europäischer Streitkräfte in Kinshasa, wo die MONUC nicht in Erscheinung
tritt, als eine Art Garantie begreifen: dafür, dass niemand die Wahlen mehr aufhalten oder
nachträglich in Frage stellen kann. Dafür, dass dieser Abschied von der blutigen Vergangenheit
gelingt und nicht quasi in letzter Minute torpediert wird.
Man muss umgekehrt fragen, um der Sinnfrage dieser EU-Mission, die »EUFOR Kinshasa« heißen
wird, auf die Spur zu kommen. Was wäre, wenn die Europäer auf die Bitte der UNO und die
Erwartungen der Kongolesen mit einer Absage reagieren – und dann würde irgend ein Verlierer der
Wahl mit ein paar Hundert Bewaffneten die Friedensbemühungen der letzten acht Jahre einfach
annullieren?
Es gibt keine Garantie, dass mit diesen zusätzlichen 1500 EU-Soldaten alles gut gehen wird (auch
wenn die Kongolesen das eisern glauben). Aber von einem Nein, das man für einen katastrophalen
Rückschlag in Kongo verantwortlich machen könnte, würde sich das europäische Selbstverständnis
auf lange Zeit nicht erholen.
Große Skepsis und viele offene Fragen
Von Norman Paech
Eine Forsa-Umfrage der Zeitschrift »Internationale Politik« fand heraus, dass 63 Prozent der
Befragten gegen einen Einsatz der Bundswehr in Kongo sind. In den ostdeutschen Ländern mit 77
Prozent mehr als im Westen mit 60 Prozent. Unter den Anhängern von SPD (71 Prozent) und
Linkspartei (73 Prozent) mehr als bei den Anhängern von FDP (52 Prozent) und Grünen (47
Prozent). Dieses Ergebnis wird durch eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der
Bundeswehr unterstrichen, nach der 62 Prozent den Krieg zur Herbeiführung von Gerechtigkeit
ablehnen und 68 Prozent der Meinung sind, dass sich Konflikte in einem Staat oder zwischen
Staaten mit friedlichen Mitteln lösen lassen. Ja, 81 Prozent der Befragten hielten wirtschaftliche
Macht zur Beeinflussung des Weltgeschehens für wichtiger als militärische Macht. Fazit der FAZ:
»Die Deutschen fühlen sich militärisch nicht bedroht, stehen einem Engagement im Ausland
skeptisch gegenüber und halten generell wenig davon, Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen.«
Woher, fragt man sich, kommt diese Skepsis? Sind das immer noch die späten Nachwirkungen des
zweiten Weltkrieges? Mag sein. Aber es gibt auch eine Rationalität der Entscheidung gegen das
Militär als Mittel der Politik, die nicht mit den allgemeinen Begriffen des Pazifismus und des
Antimilitarismus einholbar ist, sondern aus der Widersprüchlichkeit der Situation selbst folgt. Kongo ist dafür ein Beispiel.
Man sollte meinen: Wer für die Gerechtigkeit keinen Krieg riskieren will, könnte doch die
Absicherung demokratischer Wahlen durch Kampftruppen akzeptieren. Denn hier soll das Militär den
Frieden sichern und jeder militärischen Aktion zuvorkommen.
Aber damit beginnen die Zweifel, die nicht auf Spekulationen beruhen, sondern aus den
Widersprüchen der immer wieder wechselnden Begründungen für den Einsatz der EU-Truppen
kommen.
Gibt es überhaupt eine solche Kriegsgefahr, nachdem das landesweite Referendum zur Verfassung
Ende vergangenen Jahres ohne Zwischenfälle verlaufen ist? Ist das Misstrauen gegenüber den
Milizen einiger Präsidentschaftsbewerber im Falle ihrer vorhersehbaren Wahlniederlage begründet?
Warum zusätzliches Militär, wenn bereits 17 000 UN-Soldaten der MONUC um Stabilität im Lande
bemüht sind? Was können 1500 EU-Soldaten angesichts der Größe des Landes bewirken, wenn ihr
Einsatz auf die Hauptstadt Kinshasa und einen Zeitraum von vier Monaten beschränkt sein soll?
Rechnet man insgeheim mit einer Verlängerung des Mandats?
Warum schlägt man das Angebot der südafrikanischen Regierung aus, 1000 in Burundi stationierte
Soldaten nach Kinshasa zu verlegen? Warum sollen die EU-Truppen mit einem Kampfauftrag nach
Kapitel VII UNO-Charta ausgerüstet werden, der nach Art. 39 nur im Falle »eines Angriffskrieges
oder bei Gefahr für den (internationalen) Frieden« erteilt wird? Versprechen Wahlen im Schutze von
Panzern und Hubschraubern eine demokratische Perspektive? Ist das Land zu gefährlich für zivile
Wahlhelfer und -beobachter?
Auf alle diese Fragen hat die EU Antworten, die letztlich den Militäreinsatz mit »unserer
Verantwortung für Afrika« begründen. Einverstanden – wenn wir an die kolonialen Raubzüge,
Verwüstungen und den Sklaven-Genozid gerade im Kongo denken. Seinerzeit teilten Handel,
Mission und Militär sich das Geschäft – aber ist für die »Verantwortung« heute das Militär ebenso
unverzichtbar?
Sollte es wirklich zu bürgerkriegsartigen Aufständen kommen, die von den Truppen der MONUC
nicht verhindert werden können, stände auch das Kontingent der EU auf verlorenem Posten.
Kongo ist eines der an Rohstoffen reichsten Länder der Welt, seine Stabilität daher von vitalem
Interesse für die rohstoffarmen Industrieländer. Wer diese Stabilität garantierte, war bislang ziemlich gleichgültig, wie die jahrzehntelange Kumpanei mit einem der korruptesten Herrscher, Mobuto Sese Seko, beweist.
Nun soll es die Demokratie sein, die mit zusätzlichem europäischem Militär eingeführt werden muss,
was die Opposition im Lande nicht ohne Grund als Rückendeckung für den amtierenden
Präsidenten Kabila ansieht. Offensichtlich haben die drastischen Fehlschläge bei der
Parlamentarisierung Afghanistans und Iraks unter den Fittichen des Militärs noch kein Umdenken bei
den verantwortlichen Regierungen der EU erzeugt. Wo die Demokratie keine Stabilität garantieren
kann, muss es eben das Militär besorgen.
Zentral- und Westafrika stehen derzeit im Fokus der »Neuen Weltordnung«, bei der die Sicherung
der Energie- und Rohstoffversorgung ganz oben rangiert. Wo China und die USA im Zugriff auf die
Ölquellen wie im Sudan bereits aufeinander treffen, muss auch Europa seine Interessen sichern.
Dies ist eine der zentralen Aufgaben der »Europäischen Sicherheitsstrategie« vom Dezember 2003:
»Stabilitätsexport zum Schutz von Handelsrouten und dem Fluss von Rohstoffen«, wie es in dem
European Defence Paper vom Mai 2004 heißt. Dabei sind nicht die ökonomischen Interessen zu
kritisieren, sondern ihre militärische Absicherung, die die Länder weiter destabilisieren und die
zivilen Projekte behindern wird.
Wo sich die »Verantwortung für Afrika« im Einsatz der Battlegroups erfüllt, etablieren sich
zwangsläufig wieder koloniale Verhältnisse – unauffälliger agierend im humanitären Gewand der EU.
Die neuen zivilisatorischen Schutztruppen sichern Wahlen und Flüchtlingslager, begleiten
Friedensabkommen und Nahrungsmitteltransporte.
Aber sie militarisieren dabei nicht nur das Denken und gewöhnen an die Politik der Einmischung, sie züchten zugleich die militärischen Strukturen des Widerstandes und der Rivalitäten in den neuen Protektoraten.
Je stärker die ausländische militärische Präsenz, desto schwieriger der Weg, aus diesem Zirkel, zu
dem ebenso Waffenschmuggel wie Menschenrechtsverletzungen und Korruption gehören,
herauszukommen. Denn alle Erfahrungen haben den Glauben, sich aus den lokalen
Machtstrukturen heraushalten zu können, als Illusion erwiesen.
Das sollte die Regierung mit der gleichen Skepsis erfüllen wie die Mehrheit der deutschen
Bevölkerung, die den militärischen Einsatz der Bundeswehr in Kongo ablehnt.
Quelle: Neues Deutschland, 28. April 2006
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