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"In Kolumbien wollen dich alle Seiten töten"

Das kleine Dorf La Unión in der Friedensgemeinde San José de Apartadó versucht sich mit einem strikten Waffenverbot und internationalen Beobachtern zu schützen, so gut es geht

Von Jürgen Vogt *

Die Schilder am Eingang des Dorfes sprechen für sich: »Waffen verboten.« Der kleine Weiler La Unión in den Bergen der nordkolumbianischen Provinz Antioquia widersetzt sich dem Krieg und der Vertreibung. Im Kampf zwischen Regierung, Paramilitärs und Guerilla gehören Waffengewalt und Tod zum Alltag. Um dem zu entkommen, sind nach UN-Schätzungen drei bis vier Millionen Kolumbianer auf der Flucht im eigenen Land - fast jeder Zehnte der 42 Millionen Einwohner.

Die Sonne durchbricht die Regenwolken und trocknet die Dächer der Hütten entlang der kleinen Dorfstraße. Der kurze Schauer verwandelt sich in Schwüle. Kinder, Hühner und Schweine kommen heraus, lärmen durch den kleinen Weiler. Die Erwachsenen gehen auf ihre Felder. Mais und Bohnen werden dort angebaut, aber auch Bananen, Kakaobohnen, Zuckerrohr.

48 Familien leben in dem kleinen Weiler La Unión, das sind rund 180 Menschen. Nur ein Pfad führt aus der Ebene in den hochgelegenen Ort. Die 24 Kinder gehen in die Schule, die von offizieller staatlicher Seite betrieben wird. Das ist ihr Recht, bedeutet aber nicht, dass La Unión offiziell als Ort anerkannt ist. Denn der Staat ist traditionell abwesend. Außer in Form von bewaffneten Soldaten. Militärs, Paramilitärs und Guerilla - alle bewaffneten Gruppen sind in der Region vertreten. Dazu kommt die normale Gewaltkriminalität organisierter Banden.

Staat liefert Zivilisten keinen Schutz

Doña Brigida kam mit 15 Jahren in die Region. Damals gab es noch keine Paramilitärs. Aber die Bananenmultis hatten schon mit der Plantagenproduktion begonnen. »Also habe ich dort angefangen zu arbeiten.« Die Arbeitszeit war damals von 3 Uhr nachts bis 23 Uhr abends. »Aber sie bezahlten uns nur von 7 bis 17 Uhr. Wir wussten, dass wir ausgebeutet wurden.«

Mit anderen Frauen gründete sie eine Gewerkschaft und wurde rausgeworfen. Arbeitslos geworden, engagierte sie sich für die Frauen und in linken Organisationen.

In den 80er und 90er Jahren verschärften sich die Repressionen gegen die linken Bewegungen. Die Grenze zwischen den dafür verantwortlichen staatlichen Institutionen und den Bananenmultis verwischte sich. Die paramilitärischen Gruppen entstanden. Einschüchterungen, Drohungen und Morde nahmen zu. Doña Brigida kümmerte sich um die Waisenkinder. 87 Kinder betreute sie, als sie selbst vor den Paramilitärs fliehen musste.

Mitte der 90er begannen die Vertreibungen. Auch die Bewohner von La Unión wurden als Rebellen oder Kollaborateure der Guerilla denunziert und mussten vor den gewaltsamen Übergriffen fliehen. Im März 1997 gründeten sie die Friedensgemeinde San José de Apartadó. Ein Jahr später begannen sie mit der Rückkehr in ihre kleinen Weiler. »Das Leben im Konfliktgebiet ist schwierig, weil alle Seiten dich töten wollen. Aber wenn wir hier nicht für unser Land kämpfen, warum sollten wir woanders kämpfen, wo wir nichts haben?«, erzählt Marta Riva vom Rat der Comunidad. In den ersten vier Jahren flohen sie bei akuten Bedrohungen in die umliegenden Berge, mussten ihre Hütten alleine lassen. Wenn die Paras weg waren, gingen sie zurück.

Auch Doña Brigida nahm 1997 an der Gründung der Comunidad teil. »Wir hatten große Hoffnungen auf eine Veränderung.« Doch die Macht der Paramilitärs wurde immer größer, ihre Unterstützung durch die Bananenmultis immer offener. 2003 bestätigte ein Gericht in den USA, dass der Bananenmulti Chiquita die Paramilitärs jahrelang mit Waffen versorgte. Chiquita hat sich aus der Region zurückgezogen, andere Multis haben die Bananenplantagen übernommen, darunter Del Monte.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats sind drei bis vier Millionen Kolumbianer Opfer von gewaltsamer Vertreibung und damit Flüchtlinge im eigenen Land. Ganze Dörfer und Familien werden aus dem ländlichen Raum in die Elendsviertel am Rand der großen Städte vertrieben. Seit einigen Jahren nimmt selbst in den städtischen Zentren die gewaltsame Vertreibung durch Bandenkriminalität und Polizeigewalt zu.

Multis und Paras Hand in Hand

Für Jorge Rojas, Direktor der kolumbianischen Menschenrechtsorganisation CODHES, ist ein signifikanter Rückgang der Vertreibungen nicht in Sicht. Die Hauptgründe sieht Rojas im anhaltenden bewaffneten Konflikt zwischen der Guerilla der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und der Armee im Rahmen der Offensive, die die Regierung unter Präsident Álvaro Uribe vor allem im Süden des Landes angeordnet hat. Zudem hat sich eine neue Generation paramilitärischer Gruppen gebildet, die in mindestens 16 Provinzen des Landes operieren. Diese Gruppen haben kein Interesse mehr an politischem Einfluss und konzentrieren sich auf die Sicherung der Beute an Ländereien aus den früheren Gewalt- und Vertreibungsaktionen.

Die Grundregel der Comunidad de Paz ist absolute Neutralität und die Verweigerung jeglicher Zusammenarbeit, egal mit welcher Seite des Konflikts. Keine Waffen auf ihrem Land. Seit einem internen Streit mit tödlichem Ausgang ist auch Alkohol verboten. »Die Neutralität ist unsere größte Waffe«, sagt José Valdano. Bewaffnete Soldaten werden umgehend aufgefordert, das Gemeinschaftsgebiet zu verlassen. Mit dieser Form widersetzten sich Gewaltvertriebene erstmals der Vertreibung.

In Kolumbien gibt es heute rund 50 solcher Friedensgemeinschaften, jene in San José gilt als Modell. 2007 wurde die Gemeinschaft mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.

In Kolumbien selbst haben sie allerdings keine Unterstützung. Schon früh haben sie deshalb den Wert und den Schutz durch die internationale Öffentlichkeit erkannt. Seit 1998 wird die Gemeinschaft von den Peace Brigades International begleitet. Die Organisation ist seit 15 Jahren in Kolumbien präsent, derzeit mit rund 60 europäischen sowie nord- und südamerikanischen Freiwilligen. Die freiwilligen Mitglieder schützen gefährdete Menschen und Gemeinschaften durch ihre bloße Anwesenheit und garantieren, dass auch der kleinste Vorfall international bekannt wird. »Ohne die Begleitung der internationalen Beobachter wären wir in noch viel größerer Gefahr«, ist José Valdano überzeugt.

Vor zehn Jahren hatte die Gemeinschaft den Kontakt mit Banafair aufgenommen. Die kleine deutsche Importfirma unterstützt den fairen Handel und bringt Bananen aus ökologischem Anbau auf den deutschen Markt. »Die Verhandlungen mit den Deutschen waren nicht einfach«, erinnert sich Marco Pérez. Viel Papierkram und strenge Auflagen mussten sie erfüllen. Einige Jahre hatte es gedauert, bis die erste Lieferung nach Deutschland verschifft wurde. Doch die Beharrlichkeit hat sich gelohnt. »Nicht nur finanziell hilft uns der Verkauf nach Deutschland, auch diese internationale Verbindung schützt uns«, sagt Pérez.

Ein Leben in Sicherheit bleibt ein Traum

Absoluten Schutz garantiert das jedoch nicht. Am 8. Juli 2000 kamen die Paramilitärs und ließen die Dorfbevölkerung antreten. Der Rat der Comunidad hatte gerade seine Sitzung beendet. Die Paras wählten sechs Personen aus und erschossen sie vor aller Augen. 2005 gab es ein weiteres Massaker, bei dem acht Menschen ermordet wurden. Im Dezember 2005, einen Tag nach ihrem 15. Geburtstag, wurde die Tochter von Doña Brigida getötet.

Bis heute sind die Mörder nicht bekannt, niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. In den 13 Jahren ihres zivilen Widerstands wurden über 100 Menschen in der Region von Paramilitärs und den regulären Streitkräften umgebracht.

In den kommenden Jahren will die Regierung eine Landstraße bauen. Die Planungen dafür sind schon fast abgeschlossen. Sie würde direkt am Weiler vorbeiführen und San José de Apartadó mit Giralta in der Provinz Córdoba verbinden. Nach Angaben der Regierung bewegen sich die 5. und die 18. Fronteinheit der FARC in dieser Gegend. Deshalb ist das Argument der Regierung, mit dieser Landstraße einen militärischen Fuß in der Region zu haben und alle Wege kontrollieren zu können. »Das wird harte Auseinandersetzungen geben«, ist José Valdano sicher. »Und wir laufen dabei erhebliche Gefahr, wieder vertrieben zu werden.«

* Aus: Neues Deutschland, 7. Januar 2010


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