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Politisches Experiment: Kirgistan am Scheideweg

Mit einer neuen Verfassung will Kirgistan den Übergang zur parlamentarischen Republik meistern

Von Alexander Knjasew *

Bereits nach dem Sturz des letzten legitimen Präsidenten Askar Akajew im Jahr 2005 war jedoch offensichtlich gewesen: Obwohl die damalige neue Führung (Präsident Kurmanbek Bakijew) zum präsidialen Staatsmodell tendierte, würde keine wirklich starke präsidiale Regierung entstehen und würde es keine evolutionäre politische Entwicklung geben.

Die Ereignisse vom 7. April haben das bestätigt. Der Verzicht der Anti-Bakijew-Opposition auf die Ernennung einer Schlüsselfigur mit Präsidentenvollmachten, selbst wenn sie den Präsidentenposten nur provisorisch bekleiden würde, zeugt davon, dass es in Kirgistan demnächst keine personifizierte Macht geben wird. Innerhalb der Elite soll Wettbewerb zu etwa gleichen Bedingungen herrschen. Diese Konkurrenz ist sehr hart, weil der alleinige Machtanspruch ein Merkmal der Entscheidungsträger und Herrschenden in dem zentralasiatischen Land ist.

Dennoch muss man feststellen: die Parlamentsrepublik ist für Kirgistan nicht so gefährlich, wie die meisten Prognosen andeuteten. Die apokalyptischen Vorhersagen, das parlamentarische Staatsmodell würde den kirgisischen Staat endgültig ruinieren, könnten sich als verfrüht erweisen. Das deutsche parlamentarische Staatsmodell, das keinen großen Erfolg in der Ukraine hatte, könnte mitten in Zentralasien funktionieren, auch wenn das auf den ersten Blick unwahrscheinlich ist.

Gleich nach dem Referendum vom 27. Juni hat in Kirgistan ein sehr interessanter Prozess begonnen. Das Spiel nach prinzipiell neuen Regeln, obwohl es unklar ist, um welchen Machtposten es sich eigentlich handelt, stellte vor den wichtigsten Personalien in der kirgisischen Politik die schwere Aufgabe der Selbstbestimmung.

Die Politiker, die wenigstens eine Vorstellung von der künftigen Verantwortung haben, suchen dieser Tage nach Möglichkeiten zur Bildung von Wahlkoalitionen, um im künftigen Parlament in einer starken Fraktion vertreten zu sein. Oder nehmen sie an der neu aufgestellten Regierung aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation teil, was hoffen lässt, dass die „technische Regierung" mehr oder weniger stark sein könnte, ohne dass ihre Mitglieder ihre Posten nur für ihre „Revolutionsverdienste" bekommen.

In diesem Sinne lässt sich beispielsweise der angekündigte Rücktritt des Vizepremiers der Interimsregierung, Omurbek Tekebajew (Chef der Partei Atameken), der an der künftigen Wahl teilnehmen will, positiv hervorheben. Oder die Ernennung des einstigen sowjetischen KGB-Mannes Kubatbek Baibolow zum Innenminister, der in der Lage ist, für Ordnung zu sorgen, was wegen der ständigen Instabilität eine wichtige Rolle spielt. Auch die Partei Ar-Namys des früheren Premiers Felix Kulow bereitet sich zivilisiert auf die Wahl vor.

Es bleiben aber nach wie vor viele politische Figuren, die so oder so mit der gestürzten Regierung Kurmanbek Bakijews verbunden sind. Ihnen schmecken das Referendum über die Legitimität der neuen Regierung und die bevorstehenden Wahlen überhaupt nicht. Ausgerechnet diese Kräfte greifen zu destabilisierenden Maßnahmen, verbreiten negative Informationen und provozieren soziale Spannungen.

In diesem Milieu entstehen bereits jetzt Faktoren für künftige Konflikte. Die Leiter kleiner, aber ehrgeiziger Parteien machen kein Geheimnis aus ihrer Bereitschaft, direkt nach der Wahl am 10. Oktober Tausende ihrer Anhänger auf die Straßen zu bringen und gegen das neue Parlament zu protestieren. Allerdings geht heutzutage niemand zu solchen Aktionen, ohne Geld zuvor bekommen zu haben. Für die von der Politik müden Kirgisen, die nur wegen der absoluten Hoffnungslosigkeit zum Volksentscheid gekommen waren, sind Kundgebungen längst ein Weg geworden, um schnell an Geld zu kommen.

Es gibt noch andere Gegner der friedlichen Politik. Die Ereignisse von Mitte Mai und vor allem der Konflikt in Osch und Dschalalabad von Mitte Juni zeigten ganz deutlich, dass die revanchistischen Stimmungen im Familienkreis des nach Minsk geflüchteten Ex-Präsidenten Bakijew stark sind und nach wie vor ein sehr großes Potenzial haben.

Obwohl die Massenunruhen im Süden des Landes auch objektive Ursachen hatten, gibt es keinen Grund, die Informationen des kirgisischen Sicherheitsdienstes anzuzweifeln, dass die blutigen Ereignisse vom Bruder des ehemaligen Präsidenten Schanisch Bakijew und seinem Sohn Maxim Bakijew organisiert wurden. Letzteres ist eine Frage nicht nur für die neue kirgisische Regierung.

Wie jede Krise haben die Ereignisse am 7. April und die dadurch verursachte Instabilität in Kirgistan, vor allem der Juni-Konflikt in Osch und Dschalalabad, die absolute Untauglichkeit der regionalen Bündnisse offenbart. Es ist nicht zu übersehen, dass im Vordergrund derzeit neben den zuvor entdeckten Herausforderungen, gegen die die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) kämpft, eine neue Gefahr steht, die mit der sozialen Sicherheit in der Region unmittelbar verbunden ist, wenn eine am innenpolitischen Prozess beteiligte Seite zur Hilfe von internationalen terroristischen und kriminellen Gruppierungen greift. Die Suche nach angemessenen Antworten auf die sich spontan verändernde Situation steht für die SOZ-Mitglieder jetzt ganz oben auf der Agenda.

Ähnliche Schlüsse lassen sich aus der Reaktion der regionalen Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS) auf die Situation in Kirgistan ziehen. Trotz der zunehmenden Aktivitäten befasst sie sich derzeit hauptsächlich mit dem Kampf gegen den Terrorismus und den Drogenhandel, was mehrere führende Vertreter der Organisation häufig betont und dabei auf ihre ziemlich enge Orientierung verwiesen.

Aus formeller Sicht hatten die OVKS-Leiter, die sich für eine Nichteinmischung in Kirgistan aussprachen, Recht: die Bürger, die ihren Präsidenten stürzen, sind keine Terroristen oder Aggressoren. Dennoch zeigt das Beispiel Kirgistans, dass seine innenpolitische Instabilität nicht nur eine innere Angelegenheit ist. Die zentralasiatische Republik befindet sich in einem Zustand, bei dem sie Hilfe aus dem Ausland braucht, um ihre Sicherheit und Wirtschaft zu stabilisieren.

Die Länder, die der aus Kirgistan stammenden Gefahr am meisten ausgesetzt sind, sind vor allem Russland, Kasachstan und seine Nachbarländer. Die Umwandlung Kirgistans in einen Instabilitätsherd im Zuständigkeitsbereich der SOZ und der OVKS könnte sehr negative Folgen für die Entwicklung der ganzen Region haben.

Vertreter der Bündnismitglieder in Moskau, Astana, Taschkent oder Peking werden aus der politischen Krise in Kirgistan lernen müssen. Es ist offensichtlich, dass sie die Prinzipien für politische Beschlüsse ändern, den Begriff „Sicherheit" zugunsten des sozialen Aspekts erweitern und den Punkt bestimmen müssen, wenn sich innere Probleme von Mitgliedsländern in grenzübergreifende Risiken verwandeln.

Kirgistan steht derzeit am Scheideweg. Das Land wird sich positiv entwickeln, wenn die Interimsregierung das ganze Territorium unter Kontrolle bekommt, wenn die Gestaltung der neuen politischen Struktur abgeschlossen werden kann und wenn mit wirklichen Partnern aus dem Ausland (vor allem mit Russland, Kasachstan, Usbekistan und China) Vereinbarungen über deren Beteiligung an der Entwicklung der kirgisischen Wirtschaft, vor allem des Realsektors, getroffen werden.

* Zum Verfasser: Alexander Knjasew ist Berater des Instituts für politische Entscheidungen (Alma-Ata), Senior Experte des Instituts für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 13. Juli 2010; http://de.rian.ru



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