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Al-Shabaab-Massaker schockt Kenia

Somalische Miliz rächt sich für Militärintervention im eigenen Land mit Sturm auf Einkaufszentrum

Von Marc Engelhardt *

Mit einem blutigen Angriff auf ein Einkaufszentrum in Nairobi hat die islamistische Al-Shabaab-Miliz Rache für Kenias Truppenentsendung in das Nachbarland Somalia genommen. Sie töteten mindestens 59 Menschen.

Nahashon Mwangi war bei der Arbeit, als sein Sohn ihn am Samstagmittag vom Handy aus anrief. »Papa, sie haben mir in die Schulter und in die Hand geschossen, ich blute – komm bitte, hol mich hier raus.« Als Mwangi den Sohn zurückruft, flüstert der ins Telefon: »Ruf nicht an – wenn die mich reden hören, bringen sie mich um.«

Während Mwangi quer durch die Stadt zum Einkaufszentrum Westgate eilt, entfaltet sich hinter den Mauern des edelsten Einkaufszentrums in Kenias Hauptstadt Nairobi der schlimmste Terroranschlag im Land seit 15 Jahren. 1998 hatten Al-Qaida-Mitglieder die US-Botschaft in Nairobis Innenstadt in die Luft gejagt.

Diesmal sind es gut ein Dutzend Terroristen, deren Autos am Samstagmittag mit quietschenden Reifen vor dem Hauptportal halten. Die Maskierten springen heraus und teilen sich in zwei Gruppen auf. Augenzeugen sagen später, alles habe perfekt geplant ausgesehen. Vom Erdgeschoss und der dritten Etage aus eröffnen die Angreifer das Feuer, schießen willkürlich auf Besucher und werfen Granaten in die panisch fliehende Menge. Der Zeitpunkt ist bewusst gewählt: Samstagmittags ist die Mall zum Bersten gefüllt. Kinder vergnügen sich auf einer Hüpfburg und Jugendliche drängen sich an den Kinokassen, während Eltern im riesigen Nakumatt-Megamarkt den Wochenendeinkauf erledigen und sich später bei einem Latte macchiato entspannen. Sie alle trifft die Attacke vollkommen unvorbereitet.

Vierundzwanzig Stunden später zieht der für innere Sicherheit zuständige Minister Joseph Ole Lenku eine erste Bilanz: mindestens 59 Tote und mehr als 175 Verletzte gibt es demnach – unter ihnen auch Mwangis Sohn, der nach fünf Stunden aus der Mall entkommen kann und jetzt medizinisch behandelt wird. Armee und Polizei haben das Einkaufszentrum weiträumig abgeriegelt. Mehr als 1000 Menschen sollen inzwischen aus der Mall in Sicherheit gebracht worden sein. Doch noch immer befinden sich die Terroristen im Einkaufszentrum. Sie haben Geiseln: knapp fünfzig Menschen werden von ihren Angehörigen noch vermisst, befinden sich vermutlich noch in der Mall, die Polizei und Militär nur teilweise gesichert haben. »Ihre Befreiung ist eine sehr delikate Angelegenheit«, warnt Ole Lenku. Angeblich hat Kenias Militär israelische Spezialeinheiten hinzugezogen, um die Geiseln zu befreien.

Am Samstagabend bekennt sich die islamistische Al-Shabaab-Miliz aus dem Nachbarland Somalia zu dem Anschlag. Von Rache für Kenias Militäroperationen in Somalia spricht Al-Shabaab-Sprecher Ali Mohamoud Rage: »Kenia wird keinen Frieden haben, bevor das kenianische Militär aus Somalia abgezogen ist.« Verhandlungen mit den Geiselnehmern schließe die Al-Shabaab-Führung aus.

Kenianische Soldaten kämpfen seit Ende 2011 in Somalia gegen die Al-Shabaab. Gemeinsam mit der Raskamboni-Miliz des somalischen Warlords Achmed Madobe haben sie die Islamisten aus Kismayo vertrieben, Somalias zweitgrößter Stadt. Über den Hafen Kismayos finanzierte die Al-Shabaab zudem ihre Operationen; alleine mit dem Verkauf von Holzkohle soll sie Millionen gemacht haben, die ihnen jetzt im bewaffneten Kampf gegen die Regierung von Präsident Hassan Sheikh Mohamud fehlen. So hat die Befreiung Kismayos der Al-Shabaab womöglich mehr geschadet als die Vertreibung aus der Hauptstadt Mogadischu, die von mehr als 18 000 Soldaten unter Mandat der Afrikanischen Union gesichert wird. Auch deshalb ist der Hass auf Kenia groß, will man die kenianischen Truppen aus dem Land haben.

Al-Shabaab-Anführer Ahmed Abdi Godane, genannt Abu Zubeir, steht zudem intern unter Druck. Die Al-Shabaab ist gespalten, einer ihrer bisherigen Anführer – Sheikh Hassan Dahir Aweys – hat sich bereits von der Bewegung losgesagt. Der erfolgreiche Anschlag in Nairobi ist zweifellos ein Zeichen der Stärke, das Abu Zubeir zu seinem Vorteil nutzen will.

Mindestens vier geplante Anschläge auf prominente Ziele in Nairobi sollen in den vergangenen Monaten verhindert worden sein, heißt es aus Regierungskreisen. Gelungen waren der Al-Shabaab bislang zwar Anschläge auf Kirchen im Osten Kenias, Moscheen und Armenviertel in Nairobi sowie Militäranlagen im kenianisch-somalischen Grenzgebiet; dabei wurden nur wenige verletzt. Ein großes Attentat aber wie das auf Zuschauer des WM-Finals 2010 in Ugandas Hauptstadt Kampala gelang der Al-Shabaab in Kenia nicht. Das Westgate-Einkaufszentrum galt – auch wegen seiner israelischen Eigentümer – als mögliches Terrorziel und war vergleichsweise gut gesichert. Dass die Terroristen es dennoch schafften, hier derart massiv vorzugehen, gilt auch als Beweis ihrer oft unterschätzten Fähigkeiten.

* Aus: neues deutschland, Montag, 23. September 2013


Die Spur des Terrors

Angriff auf Einkaufszentrum in Kenia

Von Knut Mellenthin **


Der Angriff auf ein Einkaufszentrum in der kenianischen Hauptstadt Nairobi am Wochenende ist ein Indiz für die nach wie vor instabile Lage im nördöstlichen Nachbarland Somalia. Die bewaffnete Gruppe, die die Shopping-Meile am Sonnabend überfiel und sich dort am Sonntag immer noch mit einer unbekannten Zahl von Geiseln verschanzt hielt, bestand offenbar aus Anhängern der islamistischen somalischen Organisation Al-Schabab, die sich für die Aktion verantwortlich erklärte.

Kenia ist im somalischen Bürgerkrieg, der nun schon seit 22 Jahren andauert, selbst Partei, seit es im Oktober 2011 Tausende seiner Soldaten in den Süden des Nachbarlands einmarschieren ließ. Mittlerweile haben die kenianischen Streitkräfte dort in Zusammenarbeit mit einer regionalen Miliz einen international nicht anerkannten Pufferstaat, das sogenannte Jubaland, mit dem wirtschaftlich und strategisch wichtigen Hafen Kismajo als Hauptstadt, errichtet.

Die somalische Zentralregierung in Mogadischu hat mehrfach schwere Vorwürfe gegen die kenianischen Besatzungstruppen in Kismajo erhoben, die durch viele Berichte von Einwohnern gestützt werden. Nach deren Aussagen schikanieren die Kenianer die Bevölkerung mit Vergewaltigungen, anderen Formen von Mißhandlungen, und Plünderungen. Potentielles Opfer von Gewalttaten und willkürlichen Festnahmen sei, so heißt es, jede und jeder, die oder der nicht zum selben Clan wie die von Kenia unterstützten Ras-Kamboni-Miliz gehört. Die UNO wirft den kenianischen Truppen außerdem Beteiligung am lukrativen Handel mit Holzkohle vor, den die Weltorganisation im Februar 2012 verboten hat. Abnehmer sind vor allem die Staaten der arabischen Halbinsel.

Die somalischen Fundamentalisten, die früher kaum Terroranschläge verübten und nur im eigenen Land agierten, haben sich radikalisiert, seit sie mit Hilfe der AMISOM, einer internationalen »Friedenstruppe« aus mehreren afrikanischen Staaten, immer weiter zurückgedrängt worden sind. Seit Juni hat Al-Schabab eine neue Führung, die gezielt gegen traditionelle Kader der fundamentalistischen Bewegung Somalias vorgeht. Viele von ihnen wurden ermordet; anderen gelang die Flucht, oder sie stellten sich den Sicherheitskräften der Zentralregierung. Einer ihrer bekanntesten Führer, Hassan Dahir Aweys, wird seit Juli in Mogadischu gefangengehalten. Wie mit ihm und anderen Exkadern von Al-Schabab umgegangen werden soll, ist in den führenden Kreisen Somalias, unter denen viele eine ähnliche Lebensgeschichte wie Aweys haben oder zeitweise sogar seine Kampfgefährten waren, heiß umstritten.

Die EU und einzelne ihrer Mitgliedstaaten haben in der vergangenen Woche »Hilfsgelder« für Somalia im Gesamtwert von 1,8 Milliarden Euro versprochen. In den Kommentaren der Politiker wurde das so dargestellt, als befinde sich Somalia auf dem Wege der Stabilisierung und Normalisierung. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein.

* Aus: junge Welt, Montag, 23. September 2013


Nairobi droht Gewaltspirale

Von Martin Ling ***

In Kenia werden traumatische Erinnerungen wach. 15 Jahre nach einem Al-Qaida-Anschlag auf die US-amerikanische Botschaft, dem über 200 Menschen und in der Mehrzahl Kenianer zum Opfer fielen, ist der radikalislamische Terror in einer ungeahnten Dimension zurück: Das Massaker der somalischen Al-Shabaab-Miliz in einer Shopping Mall in der Hauptstadt Nairobi forderte mehrere Dutzend Tote.

Kenias Regierung hatte lange Zeit dem Staatszerfall in Somalia zugesehen. Aus Angst, neben Flüchtlingen auch noch Terror aus dem nördlichen Nachbarland abzukriegen, hielt sich Kenia aus dem seit 2007 tobenden Kampf zwischen radikalen Muslimen rund um die Union Islamischer Gerichtshöfe sowie der Al-Shabaab Miliz und den regulären Regierungstruppen der somalischen Regierung aus Mogadischu zurück. Erst der Siegeszug der Al-Shabaab-Miliz bewegte Kenia 2011 dazu, sich der Eingreiftruppe der Afrikanischen Union für Somalia (Amisom) anzuschließen. Das geschah an herausragender Stelle. Es waren Truppen Kenias, die die Al-Shabaab im November 2012 aus der strategisch immens wichtigen Hafenstadt Kismayo vertrieben. Schon damals kündigte Al-Shabaab den Rückgriff auf Guerillataktik und Anschläge an. Dass sie mitten in Nairobi ein solch großes Terrorrad zu drehen imstande sind, ist für die kenianischen Geheimdienste und ihre Verbündeten kein Ruhmesblatt. In Nairobi, das eine zahlenmäßig große somalische Exilgemeinde aufweist, ist mit einer weiteren Gewalteskalation zu rechnen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 23. September 2013


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