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Was zieht Dick Cheney in den Kaukasus?

Von Ilgar Welisade *

Bekanntlich hat sich US-Vizepräsident Dick Cheney am 2. September für eine Woche auf Auslandsreise begeben - nach Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine und Italien.

Für einige "helle Köpfchen" ist dieser Flug Anlass, die fixe Idee der US-Außenpolitik -"Groß-Nahost" - wieder einmal hervorzukramen.

Groß-Nahost ist womöglich eine der bemerkenswertesten Erfindungen der amerikanischen Außenpolitik des letzten Jahrzehnts. Als Plan einer demokratischen Modernisierung der Länder des Ostens konzipiert, sah sie eine Erweiterung des politisch-geographischen Begriffs Nahost von den Maghreb-Ländern bis Pakistan und von den östlichen Randgebieten Europas bis Sudan vor. Der Öffentlichkeit wurde die Idee von der Bush-Regierung erstmals zu Beginn des neuen Jahrtausends vorgestellt.

Seitdem taucht sie von Fall zu Fall auf der politischen Tagesordnung auf und erinnert alle an die merklich erweiterte Interessenszone der Vereinigten Staaten.

Derzeit ist dieses Projekt aufgrund der Zuspitzung im Kaukasus besonders aktuell. Der Südkaukasus ist nämlich ein Bestandteil, vielleicht sogar, im Lichte der jüngsten Ereignisse, der bedeutendste Bestandteil des Groß-Nahost-Plans.

Nicht von ungefähr bereist Vizepräsident Cheney gerade diese Region, genauer, zwei ihrer Länder: Georgien und Aserbaidschan. Nach einem Besuch in Baku und Tiflis wird er auch Kiew und Rom beehren. Hiervon ausgehend, errät man mühelos, dass er sich nicht über das Wetter unterhalten wird.

Schon zwei Wochen vor dem Kiew-Besuch brachte die einflussreiche amerikanische Wochenschrift "U.S. News & World Report" auf einer der ersten Seiten einen Artikel mit dem Titel "Wird die ukrainische Krim das nächste Ziel Russlands?".

Der Artikel fiel zeitlich unmittelbar mit Cheneys Kiew-Besuch zusammen. Der Autor geht davon aus, dass die Ukraine die Position von Tiflis im südossetischen (russisch-georgischen) Konflikt eindeutig unterstützt, und argumentiert, dass die ukrainische Halbinsel Krim das nächste Ziel der russischen Aggression sein könnte.

Eigentlich hätten die zahlreichen Dementis seitens führender russischer Politiker diese leidenschaftlich geführte Diskussion abkühlen müssen. Aber die These des "nächsten Schlags" ist einfach zu attraktiv.

Russland beabsichtigt nicht, Aserbaidschan zu überfallen. Selbst die übermütigsten Analysten im Westen geben das zu. Das hinderte den Moby Dick der amerikanischen Politik, wie Cheney bisweilen genannt wird, nicht daran, gerade Baku als erstes anzusteuern. Am ehesten schon alleine deswegen, weil die Vereinigten Staaten Aserbaidschan schon immer als ihren natürlichen Verbündeten in der Region betrachteten.

Zusammen mit Georgien spielt es die Rolle einer Brücke, eines Sprungbretts und eines Puffers zugleich. Ohne Aserbaidschan lässt sich die Kaukasus-Partie nicht richtig ausspielen. Die Frage ist, wozu Cheney Präsident Ilcham Alijew überreden wird.

Gerätselt wird viel. Örtliche Analysten vermuten, dass Cheney wieder die regionale Sicherheit, diesmal durch das Prisma der jüngsten Ereignisse gesehen, erörtern möchte. Vielleicht kommt auch wieder einmal die Errichtung amerikanischer Stützpunkte zur Sprache. Auch die Zusammenarbeit mit der Nato in einem neuen, engeren Format könnte angeschnitten werden. Aber am aussichtsreichsten werden wohl Gespräche über die Energietransportpolitik, den Berg-Karabach-Konflikt und die im Herbst anstehenden Präsidentschaftswahlen in Aserbaidschan sein. Das letzte Thema passt bestens in die Strategie der USA, Groß-Nahost politisch zu modernisieren.

Gerade das Thema des Energietransportkorridors Zentralasien - Europa ist besonders vielversprechend. Die immer wieder im Raum stehende Einschränkung der Energie-Kooperation zwischen Russland und Europa führt zu einer Forcierung des Nabucco-Pipeline-Projektes.

Wie andere amerikanische Politiker befürwortet Cheney dieses Projekt energisch - und zwar besonders, dass die Pipeline über das Territorium von Aserbaidschan und Georgien verlaufen soll. Deshalb wird erwartet, dass der Besuch dahingehend zu einem Schub führen wird.

Nicht zu vergessen ist auch, dass der jetzige US-Vizepräsident vor 2000 die amerikanische Ölgesellschaft Halliburton leitete, die auf dem aserbaidschanischen Markt seit recht langer Zeit aktiv ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Cheney nach seinem Rücktritt in das Unternehmen zurückkehrt. In diesem Zusammenhang kann sein Besuch auch als eine Art Vorarbeit für seine persönliche Zukunft betrachtet werden.

Was die Demokratie in der Region angeht, so ist das bei weitem komplizierter. Bekanntlich sind Georgien und die Ukraine die klassenbesten Schüler der Amerikaner. Für Aserbaidschan gilt das nicht.

Während Kiew und Tiflis sozusagen vor einer Qualifikationsprüfung zwecks Erreichung einer neuen Unterrichtsstufe stehen, wird in Baku immer noch über die Vorzüge des amerikanischen Demokratiemodells diskutiert. Doch im Vergleich mit dem absolut hinterherhinkenden Jerewan scheint Baku, mehr Hoffnung zu machen. Selbst vom Kapitol aus sieht man deutlich, dass es zu Ilcham Alijew keine Alternativen gibt.

Es liegt auf der Hand: Bei jeder Konstellation ist in Baku kein starkes Ausschlagen nach der einen oder der anderen Seite zu erwarten. Aserbaidschan wird keine Verschärfung der Beziehungen zu Russland riskieren, auch wenn es die territoriale Integrität Georgiens befürwortet.

Daher könnte die Zukunft der GUAM (gemeinsame Sicherheitsallianz von Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien) ein weiteres, sehr wichtiges Thema des Besuchs sein. Die Organisation scheint vor dem Aus zu stehen. Von der anfänglichen Einigkeit ihrer Mitglieder ist nicht viel übrig geblieben.

Zwar haben die jüngsten Ereignisse im Kaukasus ihre Reihen noch nicht gespalten, aber auf jeden Fall eindeutige Unterschiede in der Einschätzung der Geschehnisse demonstriert. Die Ukraine hat Georgien praktisch vorbehaltlos unterstützt, Aserbaidschan sich maximal zu distanzieren versucht, Moldawien dagegen in Sotschi angedeutet, von der gemeinsamen Linie abzuweichen.

Die überseeischen Polit-Sponsoren des Projekts haben diese Nuance sicherlich bemerkt. Allerdings ist nicht klar, warum Dick Cheney in diesem Fall nicht Chisinau zur letzten Etappe wählte, was logischer gewesen wäre, sondern die recht weit davon entfernte italienische Hauptstadt.

Wie es heißt, habe sich eine passende Gelegenheit geboten. Der Italien-Besuch des US-Vizepräsidenten schließt die Teilnahme am Ambrosetti Forum am Comer See in Norditalien ein. Erst danach wird er sich in die Ewige Stadt begeben. Führen wirklich alle Wege nach Rom?

* Ilgar Welisade ist aserbaidschanischer Politologe

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 4. September 2008;
http://de.rian.ru



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