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Washington erklärt Jemen zum Zentrum des Bösen

Noch mehr Drohnenangriffe gegen den Al-Qaida-Ableger auf der Arabischen Halbinsel

Von Olaf Standke *

Einen seltsamen Ort hatte sich Barack Obama ausgesucht, um am späten Dienstagabend (Ortszeit) über sehr ernsthafte Dinge zu reden. In der »Tonight Show« des Komikers Jay Leno erklärte sich der US-Präsident zum Überwachungsprogramm der NSA, erläuterte erstmals öffentlich, warum die Regierung zuletzt so massiv vor neuen Terroranschlägen gewarnt hat – und versuchte zugleich, mögliche Panik bei seinen Bürgern angesichts der weltweiten Reisewarnung zu ersticken: Natürlich könne man noch in Urlaub fahren, schließlich sei die Wahrscheinlichkeit, bei einem Terrorangriff zu sterben, wesentlich kleiner als bei einem Unfall. Doch »umsichtig« sollte man sich schon verhalten. Dass seine Administration dies tut, daran ließ er keinen Zweifel.

In Sanaa scheint man da nicht so sicher zu sein. Glaubt man den Erkenntnissen der US-Geheimdienste, ist Jemen inzwischen der gefährlichste Hort des internationalen Terrorismus. Deshalb haben nach anderen westlichen Staaten nun auch die Niederlande nicht nur die Botschaft geschlossen, sondern ihre Bürger auch aufgerufen, das südarabische Land zu verlassen. Frankreich hat die für Donnerstag geplante Wiedereröffnung der diplomatischen Vertretung gestern verschoben.

Ein abgehörtes Gespräch von Bin-Laden-Nachfolger Aiman al- Sawahiri mit dem Al-Qaida-Chef in Jemen, Nasser al-Wahischi, soll das Land ins Zentrum der aktuellen Aufmerksamkeit gerückt haben. Bilder des Nachrichtensenders Al-Dschasira zeigen eine Hauptstadt Sanaa wie im Belagerungszustand. In muslimischen Staaten, in denen Aufstände und Bürgerkriege die öffentliche Ordnung zerstörten, haben sich in den vergangenen Jahren etwa in Irak, Jemen, Somalia, Nordafrika und zuletzt auch in Syrien immer neue Gruppen sunnitischer Dschihadisten (Glaubenskrieger) selbst zum örtlichen Al-Qaida-Arm erklärt, um so vor allem ihren Einfluss im Kampf um die Macht im Inneren zu vergrößern. Allein der Ableger auf der Arabischen Halbinsel (AQAP), 2009 aus dem Zusammenschluss des jemenitischen und des saudi-arabischen Zweigs hervorgegangen, denkt nach Einschätzung von Experten globaler. Al-Wahischi, einst Bin Ladens persönlicher Sekretär im Afghanistankrieg und später aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Sanaa geflohen, halte weiter am Terror gegen die USA fest. Laut CNN sollen drei AQAP-Mitglieder an der Attacke auf das USKonsulat in Bengasi beteiligt gewesen sein. Und die »New York Times« zitierte US-Sicherheitsbeamte, wonach Al-Wahischi zum neuen globalen Terror-Planer des Netzwerkes aufgestiegen sei. Wie ernst und konkret die angeblichen aktuellen Bedrohungen aber sind, darüber erfährt man aus Washington allerdings nichts.

Vor dem Hintergrund der Terrorwarnungen haben Jemens Behörden jetzt eine Liste mit 25 gesuchten Verdächtigen veröffentlicht und eine Belohnung von 23 000 Dollar (rund 17 300 Euro) für Hinweise aus ausgelobt, die zu ihrer Ergreifung führen. AQAP hatte die Proteste gegen den jemenitischen Langzeit-Präsidenten Ali Abdullah Saleh im Frühjahr 2011 genutzt, um im Landessüden große Gebiete unter seine Kontrolle zu bringen. Erst nach einer zweimonatigen Militäroffensive im Vorjahr wurden die Terroristen wieder aus den größeren Städten vertrieben und zum Rückzug in die Wüste der Hadramaut-Provinz gezwungen.

Laut UNO brauchen sieben Millionen Jemeniten, fast ein Drittel der Bevölkerung, dringend Hilfe. Es mangele an Nahrung, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Jemen hat zwar viele Bodenschätze – Öl, Gas, Gold und andere. Aber dieser Reichtum des Landes kommt nur bei wenigen an; es gibt ein massives Korruptionsproblem. Die meisten leben in einem zudem politisch nach wie vor fragilen Armenhaus, was weiter einen günstigen Nährboden für Extremisten bietet. Auch wenn im März 2013 der lange erhoffte Dialog von Revolutionsgruppen und Parteien begann, der die größten Probleme des Landes lösen soll.

Die Regierung in Sanaa befürchtet nun, dass die jüngsten Entscheidungen westlicher Regierungen die »Kooperation zwischen Jemen und der internationalen Gemeinschaft« im Kampf gegen den Terrorismus untergraben und so den »Interessen der Extremisten« in Jemen dienen könnten. Diese Gefahr sehen internationale Beobachter auch bei den erneut ausgeweiteten Drohnenangriffen der USA, die immer wieder zivile Opfer fordern. Das Bureau of Investigative Journalism spricht von über 150 Attacken in den vergangenen Jahren, bei denen in Jemen bis zu 800 Menschen ums Leben kamen.

In der östlichen Provinz Schabwah feuerte jetzt eine bewaffnete US-Drohne mindestens zwei Raketen auf zwei Fahrzeuge ab, in denen mutmaßliche Extremisten unterwegs gewesen sein sollen. Sechs Männer wurden dabei getötet, wie der arabische Nachrichtensender Al Dschasira am Mittwoch unter Berufung auf jemenitische Sicherheitskreise berichtete. Insgesamt war es die fünfte Drohnenattacke in knapp zwei Wochen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. August 2013


Totgesagte leben länger

Telefongespräch zwischen Al-Qaida-Führern löst beispiellosen Großalarm der US-Regierung aus

Von Knut Mellenthin **

Al-Qaida darf nicht sterben. Das schon mehrmals für fast tot erklärte »Terrornetzwerk« scheint derzeit die verschreckten Regierungen des Westens vor sich her zu treiben. Auf dem Flughafen der jemenitischen Hauptstadt Sanaa herrscht Hochbetrieb, weil nicht nur die US-Regierung, sondern auch Großbritannien dabei ist, »wegen Terroraktivitäten und inneren Unruhen« Botschaftspersonal und eigene Staatsbürger in größter Eile ausfliegen zu lassen. Die Regierungen beider Länder haben ihre diplomatischen Vertretungen im Jemen geschlossen. Deutschland und Frankreich sind ihnen gefolgt. Andere Länder haben »Vorsichtsmaßnahmen ergriffen«. Belgien, Italien und die Niederlande riefen ihre Staatsangehörigen auf, schnellstens den Jemen zu verlassen. Der Alarm betrifft anscheinend die gesamte Region: 19 Botschaften und Konsulate der Vereinigten Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten sind seit Sonntag geschlossen. Das soll voraussichtlich noch bis zum Wochenende so bleiben.

Mißtrauische argwöhnen, die US-Regierung habe das Theater hauptsächlich inszeniert, um die Legitimität und Notwendigkeit der milliardenfachen Überwachung von Telefongesprächen und Internetkommunikationen zu rechtfertigen. Dagegen spricht jedoch, daß Präsident Barack Obama sich nun von den Republikanern vorhalten lassen muß, daß seine prahlerischen Siegesmeldungen über Al-Qaida unrealistisch, voreilig und leichtfertig gewesen seien. Das wäre für das Erzielen eines bloßen Propagandaeffekts ein allzu hoher politischer Preis. Man kann also davon ausgehen, daß die US-Administration tatsächlich Anschläge befürchtet oder zumindest nicht ausschließen kann. Der Sturm von bis heute nicht identifizierten libyschen Milizionären auf das amerikanische Konsulat in ­Benghasi am 18. Juni 2012 ist in abschreckender Erinnerung. Der Vorgang, bei dessen Erklärung die US-Regierung eine ganz schlechte Figur machte, wird von den Republikanern bis heute hemmungslos ausgenutzt.

Dabei ist die Ursache, die den jetzigen Großalarm ausgelöst haben soll, keineswegs eindrucksvoll oder gar überzeugend: Irgendwelche US-Dienststellen hatten angeblich ein Telefongespräch zwischen Al-Qaida-Chef Ayman Al-Zawahiri und dem Führer seiner jemenitischen Zweigstelle, Nasser Al-Wuhayshi, abgehört. Al- Zawahiri habe dabei »noch vor dem Ende des Ramadan« – am Sonntag war der 27. Tag des Fastenmonats – einen Anschlag bestellt. Über dessen Art und Ort wurde bisher nichts bekannt. Erst kürzlich war gemeldet worden, daß der 36jährige Al-Wuhayshi zum »Generalmanager« des internationalen Netzwerks befördert worden sei, was die Verantwortung für die Organisation von Terrorakten einschließe.

Und was wäre, wenn sich die beiden vielleicht nur einen Spaß mit ihren amerikanischen Überwachern gemacht haben? Es gebe außer diesem Gespräch auch noch weitere, anscheinend schwerwiegende Indizien, daß wirklich etwas geplant sei, ließ das Weiße Haus durchsickern, ohne konkrete Angaben zu machen. Das jemenitische Regime assistiert mit der Behauptung, daß in den letzten Tagen »Dutzende« Al-Qaida-Mitglieder aus aller Welt ins Land gekommen seien, um Pipelines zu sprengen und Häfen unter ihre Kontrolle zu bringen. In Sanaa marschierten am Dienstag Truppen mit mehreren hundert Panzerfahrzeugen auf und riegelten alle wichtigen Gebäude ab.

Am Mittwoch wurden in einer entlegenen Gegend des Südjemens acht Männer von Raketen einer US-Drohne getötet. Sie sollen mit zwei Fahrzeugen unterwegs gewesen sein. Es war der fünfte derartige Angriff seit dem 28. Juli. Insgesamt wurden dabei mindestens 20 Menschen getötet. Von der US-Regierung gab es dazu wie üblich keine Kommentare. Lokalen Medien zufolge sollen einige der Opfer Mitglieder von Ansar Al-Scharia sein, die mit der jemenitischen Al-Qaida-Filiale »verbunden« sei. Der Jemen ist gegenwärtig, noch vor Pakistan, das Hauptziel amerikanischer Drohnenangriffe. Die USA haben deren Zahl von 18 im Jahr 2011 auf 53 im vorigen Jahr verdreifacht.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 8. August 2013


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