Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Wir widersetzen uns den kommenden Kriegen"

Gespräch mit Ikuma Saito. Über studentische Kämpfe an japanischen Hochschulen, den militaristischen Kurs der Regierung Abe und Spaltungen der Linken

Von Michael Streitberg, Tokio *

Ikuma Saito ist Vorsitzender des Studierendenverbands Zengakuren. Dieser arbeitet mit der Organisation »Revolutionäre Kommunistischen Liga Japans – Nationalkomittee« zusammen, die auch als »Fraktion des Mittleren Kerns« (japanisch: Chukaku-ha) bekannt ist. Diverse kleinere Gruppen beanspruchen ebenfalls den Namen des bereits in den 1960er Jahren in mehrere Organisationen gespaltenen und ursprünglich der Kommmunistischen Partei Japans nahestehenden Studierendenverbands für sich. Sie treten jedoch kaum noch in Aktion.

Die »Neue Linke« in Japan, zu der der Zengakuren zählt, hatte in den 1960er und 70er Jahren noch viele zehntausend Anhänger. Staatliche Repression und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen trugen jedoch zu einer deutlichen Schwächung bei. Der eskalierende Kampf zwischen der Chukaku-ha und einer Splittergruppe namens »Revolutionär-marxistische Fraktion« (japanisch: Kakumaru-ha), deren Studierendenorganisation sich ebenfalls Zengakuren nennt, forderte Dutzende Todesopfer.

Diese Zeiten sind seit zirka 1990 vorbei. Heute bemühen sich sowohl der Zengakuren als auch die Chukaku-ha um eine breitere Verankerung und arbeiten derzeit vor allem innerhalb der Gewerkschafts- und der Antiatombewegung. Dem Zengakuren gelang es in den letzten Jahren, neue Gruppen an verschiedenen japanischen Universitäten aufzubauen. In den letzten Monaten gab es politische Proteste und Demos an verschiedenen japanischen Unis. Dabei ist es auch zu Polizeieinsätzen gegen Studierende gekommen. Wogegen richtet sich der Widerstand?

Große Teile der Gesellschaft sind voller Wut über die von der Abe-Regierung verabschiedeten neuen Sicherheitsgesetze, die Auslandseinsätze der japanischen Armee erlauben. Die Regierung plant außerdem eine weiter gehende Verfassungsrevision. Damit soll Japan, dass laut dem schon lange ausgehöhlten Artikel 9 der Verfassung zum Frieden verpflichtet ist, wieder umfasssend zum Führen von Krieg berechtigt werden. An den Unis ist es den Studierenden derweil verboten, sich politisch zu äußern und etwa Flugblätter zu verteilen. Aber mehr und mehr sind nicht bereit, sich mundtot machen zu lassen.

Gibt es denn keine gesetzlich vorgeschriebenen studentischen Mitbestimmungsorgane, die gegen dieses undemokratische Vorgehen Einspruch erheben könnten?

Nein, eine fest verankerte Selbstverwaltung existiert in Japan schon lange nicht mehr. Um das Wiederaufleben einer starken Studierendenbewegung wie in den 60er und 70er Jahren zu verhindern, wurden die existierenden Gremien fast überall abgeschafft. Unser Verband kämpft dafür, dass es sie wieder an sämtlichen Unis gibt.

In Tokio toben bereits jahrelang erbitterte Auseinandersetzungen an der privaten Hosei-Uni. Geht es dabei um ähnliche Fragen?

An den Kämpfen an der Hosei-Uni beteiligen wir uns schon seit 2006. In diesem Jahr begann die Auseinandersetzung zwischen politisch aktiven Studierenden und einer repressiven Univerwaltung. Zahlreiche Studierende, darunter etliche Mitglieder unserer Gruppe, wurden seitdem verhaftet und saßen viele Monate lang in Untersuchungshaft. Diese Angriffe richteten sich gegen Leute, die Kundgebungen organisiert, Flugblätter für die Proteste gegen den G-8-Gipfel im Sommer 2008 auf Hokkaido verteilt oder eine Demo auf dem Campusgelände veranstaltet hatten. All das hat die Uni strengstens verboten. Es gibt keine Mitbestimmung und keine Möglichkeit, Kritik zu äußern. Die private Hochschule wird autoritär geführt wie ein Unternehmen, und politischer Protest schadet dem Geschäft.

Die neu immatrikulierten Kommilitonen werden auf Veranstaltungen von der Unileitung ermahnt, sich nicht mit dem Zengakuren oder der mit uns befreundeten Gruppe Bunka Renmei (Vereinigung der Kulturclubs, jW) abzugeben. Und während die Unipräsidentin Yuko Tanaka gegen ihre Studierenden vorgeht, tingelt sie durch die Fernsehtalkshows und inszeniert sich als Kritikerin Shinzo Abes und der Verfassungsrevision. Ein Gerichtsprozess endete kürzlich mit Freisprüchen für die verurteilten studentischen Aktivisten. Trotzdem ist dieser Kampf noch lange nicht vorbei.

Auch in Kioto und anderen Städten kam es in der letzten Zeit zu Zusammenstößen auf dem Campus. Breitet sich die Protestbewegung langsam aus?

Nun, bereits die Auseinandersetzungen an der Hosei-Uni fanden ja nicht isoliert statt. Von Anfang an haben Studierende aus dem ganzen Land diesen Kampf auf verschiedene Weise unterstützt. 2006 wurden auch 29 Kommilitonen von anderen Unis verhaftet, weil sie gegen die Zustände an der Hosei demonstrierten.

Welche Rolle spielt der Zengakuren in diesen Auseinandersetzungen? Was sind Ihre Ziele?

Die erwähnten Regierungsbeschlüsse über das sogenannte Recht auf kollektive Selbstverteidigung gehen einher mit der Wiederaufnahme militärischer Forschungen an den Universitäten. Eines unserer aktuell wichtigsten Ziele ist es, die Studierenden zum Streik dagegen zu mobilisieren.

Es geht uns darum, studentische Gegenmacht zu etablieren, um den Angriffen der Regierung und des Kapitals wirkungsvoll Paroli bieten zu können. Wir widersetzen uns dem Versuch, Studierende für die kommenden Kriege zu mobilisieren.

Die Universitäten unterstützen mit ihrer Forschung also die Kriegspolitik der Regierung und die Aufrüstung der japanischen Armee?

So ist es. Vor zwei Jahren erließ die Abe-Regierung einen Kabinettsbeschluss, der eine institutionalisierte Kooperation von Regierung, Industrie und dem akademischen Bereich vorsieht. Schon zu Beginn hatte das Verteidigungsministerium zwei Milliarden Yen für derartige Projekte vorgesehen. Diese Summe wurde schnell auf sechs Milliarden erhöht.

Nach der Amtsübernahme der zweiten Regierung unter Shinzo Abe wurde aus schon vorher existierenden vereinzelten Projekten eine öffentlich propagierte Strategie der militärisch-akademischen Kooperation. Zudem gibt es nun auch eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen japanischen Unis und dem US-Militär.

Mit welchen anderen Gruppen arbeitet der Zengakuren zusammen, um diesen Entwicklungen Widerstand entgegenzusetzen?

Wir kämpfen an der Seite der Gewerkschaftsbewegung, vor allem mit den Eisenbahnergewerkschaften Doro-Chiba und Doro-Mito. Auch mit dem Antiatomkraftbündnis Nazen arbeiten wir gut zusammen. Auf Okinawa unterstützen wir außerdem die Bewegung gegen die Präsenz des US-Militärs und den Ausbau seiner Militärbasen. Dort ist es uns auch gelungen, erstmals organisierte politische Strukturen an der Uni aufzubauen. Mit etlichen unabhängigen Bürgerinitiativen pflegen wir ebenfalls gute Kontakte.

Zielt die enge Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbewegung darauf ab, die Kämpfe von Arbeitenden und Studierenden zusammenzuführen? In der BRD ist es an den Unis ja so, dass viele linke Organisationen hauptsächlich um sich selbst kreisen und mit der Pflege ihrer subkulturellen Nischen beschäftigt sind...

Wir glauben, dass ein enger Kontakt, eine enge Beziehung zwischen Arbeitern und Studierenden unverzichtbar ist. Nicht alle Uniabsolventen werden einmal selbst zu Arbeitern, aber eine große Anzahl von ihnen ist nach dem Abschluss lohnabhängig beschäftigt. Grundsätzlich sind wir davon überzeugt, dass nur der gemeinsame Kampf, nur die gemeinsame politische Aktion von Arbeitenden und Studierenden die bestehenden Verhältnisse verändern kann.

Die Politik der Abe-Regierung hat nicht nur unter Studierenden großen Widerstand hervorgerufen. Unter anderem protestiert auch die Kommunistische Partei Japans, JCP, gegen die neuen Sicherheitsgesetze. Wie beurteilen Sie deren Rolle in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen? Arbeiten der Zengakuren und die JCP zusammen?

Uns geht es in erster Linie darum, die Selbstermächtigung der Arbeitenden zu unterstützen. Arbeiter sollen ihre eigene Macht erkennen und selbst organisiert für ihre Befreiung kämpfen. Auch innerhalb der Studierendenbewegung wollen wir dazu beitragen, dass sich unsere Kommilitonen eigenständig gegen politische und sonstige Unterdrückung erheben. Wenn andere Organisationen diese grundsätzliche Einschätzung teilen, arbeiten wir gern mit ihnen zusammen.

Und die JCP zählen Sie nicht zu diesen Organisationen? Immerhin handelt es sich bei ihr um die einzige Kraft im Parlament, die der Abe-Regierung etwas entgegensetzen kann.

Nein. Tatsächlich haben wir bzw. unsere Vorläuferorganisation bereits in den 1950ern einen Bruch mit der JCP vollzogen. Der Einmarsch der UdSSR in Ungarn im Jahr 1956 war für uns ein entscheidender Wendepunkt. Was in Ungarn stattfand, war unserer Auffassung nach ein Aufstand von Arbeitern gegen ein System, dass wir als Stalinismus bezeichnen. In den sogenannten sozialistischen Staaten gab es keine Herrschaft der Arbeiterklasse, sondern eine Herrschaft der Bürokratie.

Zu dieser Zeit, als die meisten Mitglieder der japanischen Studierendenbewegung noch Anhänger der JCP waren, kam es zu mehreren organisatorischen Spaltungen. Dies hatte auch innenpolitische Ursachen: Die KP verabschiedete sich zu dieser Zeit von ihren revolutionären Zielen. Sie schlug einen reformistischen Kurs ein und orientierte auf einen parlamentarischen Weg zum Sozialismus. Zudem spielte sie auch eine negative, das heißt die Kämpfe der Arbeiter hemmende Rolle innerhalb der damals stattfindenden Massenstreiks. Wir betrachten die JCP seitdem als eine Partei, die sich von der Arbeiterklasse abgewandt und mit dem Prinzip der internationalen Solidarität gebrochen hat.

Abseits dieser historischen Brüche und der unterschiedlichen Einschätzung der sozialistischen Staaten: Worin bestehen heute die konkreten politischen Differenzen zwischen der JCP und dem Zengakuren?

Auch heute geht es um ganz konkrete Dinge: Es geht um die Frage, wie wir kämpfen, wie wir uns organisieren müssen. Die KP läuft zwar überall mit und hat immer ihre Fahnen dabei. Im Betrieb und an der Uni, in den alltäglichen Kämpfen der Menschen taucht sie allerdings nicht auf.

Die kämpferische Gewerkschaft Doro-Chiba, mit der wir zusammenarbeiten, sucht die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen auf und diskutiert mit ihnen, verteilt Flugblätter, ruft zu Streiks und Protesten auf. Die KP tut so etwas nie. Ihre Abgeordneten schwingen große Reden im Parlament, aber in die betrieblichen Kämpfe greift die Partei nicht ein. Ein Wille, zu kämpfen und die bestehenden Verhältnisse wirklich zu verändern, ist nicht vorhanden.

In den 60er Jahren, während des Widerstands gegen den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag – bekannt unter dem Kürzel AMPO – und in den frühen 70er Jahren hatten Zengakuren und andere Gruppen der \"Neuen Linken\" noch mehrere zehntausend Anhänger. Demos von Gruppen links der JCP brachten Hunderttausende auf die Straße. Heute allerdings ist die \"Neue Linke\" in Japan weit von einer solchen Massenverankerung entfernt. Wie erklären Sie sich das?

Eine wichtige Rolle hat dabei eine konterrevolutionäre Gruppe namens Kakumaru-ha (Revolutionär-marxistische Fraktion, jW) gespielt, die ebenfalls den Namen Zengakuren für sich beansprucht. Diese Leute waren erschrocken über das explosionsartige Wachstum der Studierendenbewegung, sie sahen sich dabei selbst im Abseits und ihre Felle davonschwimmen. Ab 1970 reagierten sie mit Gewalt gegen uns und andere Gruppen.

Sie machen das Wirken dieser einzelnen Gruppe maßgeblich für den Niedergang der Studierendenbewegung und der Neuen Linken insgesamt verantwortlich?

Die schlimmste Gewalt kam natürlich von seiten des Staates. Hunderttausende von Studierenden waren damals in den universitären Selbstverwaltungsorganen Mitglied und Teil der politischen Kämpfe. Der Staat fühlte sich herausgefordert und ging schließlich zur Gegenoffensive über. Es kam zu massiven Angriffen auf die Organisationen der Studierenden, und auch die kämpferische Gewerkschaftsbewegung war mit einer großen Repressionswelle konfrontiert. Viele Führungspersonen wurden verhaftet und eingesperrt. Auch die weltweite, neoliberale Offensive gegen die Arbeiterbewegung in den 1980er Jahren ist in Japan nicht ohne Folgen geblieben: Im Zuge umfassender Deregulierung und Privatisierungen wurden die Organisationen der Arbeiter empfindlich geschwächt. Die Kakumaru-ha sah all das als eine günstige Gelegenheit, und ging dann ihrerseits mit Gewalt und Terror und Gewalt gegen politische Aktivisten vor. Die Mitglieder dieser konterrevolutionären Gruppe vollzogen den Wechsel auf die Seite des Staates.

In Japan wird der Krieg zwischen Ihrer Organisation und der Kakumaru-ha häufig unter dem Begriff »Uchi-geba«, innerfraktionelle Gewalt, verwendet. Es ist von Außenstehenden kaum zu begreifen, wie sich zwei aus derselben Strömung hervorgegangene Gruppen einen Jahrzehnte dauernden Krieg liefern konnten, der dutzende Mitglieder beider Organisationen das Leben gekostet hat.

Es geht völlig an der Sache vorbei, diesen Konflikt als innerlinke Auseinandersetzung zu beschreiben. Als die Kakumaru-ha Anfang 70er Jahre begann, die Teilnehmer unserer Demos und Versammlungen mit Holzlatten zu attackieren, hat die Polizei einfach zugesehen. Es war nicht mehr möglich, eine Kundgebung zu organisieren, ohne befürchten zu müssen, dass es zu Auseinandersetzungen mit den Kakumaru-Leuten kommt. Der Staat ließ sie gewähren und war froh, dass sie ihm die Arbeit abnahmen. In ihrer Zeitung schrieb die Gruppe damals selbst, dass nun, da wir durch die Repression bereits geschwächt seien, die richtige Zeit zum Angriff gekommen sei. Ich finde, man kann die Rolle, die die Kakumaru-ha spielte, durchaus mit dem Terror gegen die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik vergleichen: Faschisten gingen mit Mord und Totschlag gegen linke Aktivisten vor, und der Staat ließ sie in der Regel gewähren.

Im Rahmen eines Gerichtsprozesses wurde 2012 außerdem festgestellt, welche Rolle die Kakumaru-ha beim Kampf gegen die Privatisierung der japanischen Eisenbahn in den 80er Jahren gespielt hat. Es kam heraus, dass deren Mitglieder Namen von Gewerkschaftsaktivisten gesammelt und diese dann bei den Eisenbahngesellschaften denunziert hatten. Das zeigt deutlich, auf welcher Seite diese Leute standen und heute noch stehen. Tatsächlich gab es in Japan auch Streit zwischen anderen linken Gruppen, oder auch mal eine Schlägerei. Die Gewalt der Kakumaru-Angehörigen war jedoch einzigartig. Wir waren übrigens nicht die einzige Gruppe, die von ihnen attackiert wurde.

Viele politisch interessierte Menschen in Deutschland erfahren nichts davon, dass es noch immer eine kämpferische linke Bewegung in Japan gibt. Was können Studierende und Arbeitende hierzulande tun, um den Widerstand an den Unis und in den Betrieben zu unterstützen?

Wir rufen die Arbeitenden und Studierenden in der BRD dazu auf, sich zu verbünden, gemeinsam zu streiken und gemeinsam gegen Kapitalismus und Imperialismus zu kämpfen. Die beste Form der Unterstützung ist die internationale Solidarität!

* Aus: junge Welt, Samstag, 8. August 2015


Zurück zur Japan-Seite

Zur Japan-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage