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Zeitbombe Fukushima

Drei Jahre nach Super-GAU droht noch immer neue Katastrophe. Radioaktivität in Reaktorruine entspricht 10000 Hiroshima-Bomben. 1,6 Millionen Menschen in Todeszone

Von Jana Frielinghaus *

Ein wenig kann man das Verhalten der Zuständigen im dicht besiedelten Osten Japans verstehen: Augen und Ohren zu und sich selbst und den anderen einreden, es sei alles gar nicht so schlimm. Tatsächlich ist die Lage drei Jahre nach dem Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala am 11. März 2011 und der davon ausgelösten Katastrophe im Atomkraftwerk Fuku­shima Daiichi alles andere als »unter Kontrolle«, wie Premierminister Shinzo Abe es im September vergangenen Jahres nach der erfolgreichen Olympia-Bewerbung für Tokio behauptete.

Seit dem Ende der »heißen Phase« des Super-GAU werden nahezu im Wochentakt kleine Agenturmeldungen über Unmengen ins Meer laufenden verseuchten Wassers oder ausgefallene Kühlsysteme auf dem direkt an der Pazifikküste gelegenen AKW-Gelände gesendet. Noch beängstigender sind aktuelle Berichte über den Zustand des schwer beschädigten Reaktors 4 des AKW. Denn dort lagerten bis November 2013 noch 1500 Brennelemente im offenen Abklingbecken. Ihre Radioaktivität würde bei schneller Freisetzung dem 10000fachen der 1945 über Hiroshima abgeworfenen Atombombe entsprechen.

Im November wurde mit der Bergung der Brennstäbe begonnen. Wegen der vielen Trümmerteile im Abklingbecken sind sie offenbar schwer zu finden. Das – wie die Blöcke 1 bis 3, in denen es in den Wochen nach der Naturkatastrophe zur Kernschmelze kam – durch Erdbeben, Tsunami und Explosionen schwer beschädigte Gebäude ist eine tickende Zeitbombe. Denn bei einem erneuten schweren Beben könnte es einstürzen. Arbeiten auf dem Gelände wären wegen der dann freigesetzten extremen Strahlung nicht mehr möglich, womit auch das provisorische Kühlsystem für die Reaktoren 1 bis 3 nicht mehr aufrechterhalten werden könnte. »Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, würde extrem hohe Radioaktivität in die Atmosphäre freigesetzt«, heißt es in einem ZDF-Report vom 26. Februar. Nach ZDF-Angaben kann der Prozeß der Bergung der Brennstäbe »noch Jahre dauern«. Wo die geschmolzenen Brennstäbe in den zerstörten Reaktoren 1 bis 3 sind, weiß derzeit keiner. Denn die Radioaktivität ist dort nach wie vor so hoch, daß die Ruinen nicht betreten werden können.

Zu diesen Extremrisiken kommt das Problem der verseuchten Wassermassen – das, hätte man die Kosten für effektive Schutzmaßnahmen nicht gescheut, in der heutigen Dimension nicht entstanden wäre. Hunderte Tonnen Wasser fließen aus den Bergen der Umgebung täglich auf das AKW-Areal und werden dort kontaminiert. 400000 Tonnen verseuchten Wassers stehen dort mittlerweile in etwa 1000 Tanks. Immer wieder leckt Wasser aus den Behältern und fließt in den Pazifik, zuletzt waren es Mitte Februar rund 100 Tonnen, bei denen eine Radioaktivität von 230 Millionen Becquerel gemessen wurde – als gesundheitlich unbedenklich gelten 100 Becquerel.

Bereits drei Monate nach dem Super-GAU gab es den Plan, rund um das AKW einen unterirdischen Schutzwall aus Ton zu bauen, damit kein Grundwasser in die Reaktorruinen strömen kann. Doch das war dem Kraftwerksbetreiber TEPCO offenbar zu teuer. Erst im Herbst 2013 wurde beschlossen, einen Schutzwall aus Eis zu bauen. Das zuständige Wirtschaftsministerium mußte einräumen, daß nicht klar ist, ob die Technologie funktioniert. Japans früherer Transportminister Sumio Mabuchi von der 2012 als Regierungspartei abgewählten Demokratischen Partei erklärte die Entscheidung für das Verfahren gegenüber dem ZDF damit, daß die Regierung für aufwendige neue Technologien Zuschüsse gewähren dürfe, für bereits erprobte jedoch nicht. Folglich geht es auch hier darum, dem Atomkonzern TEPCO Unterstützung zukommen zu lassen. Zur gleichen Zeit werden der Bevölkerung in den verstrahlten Gebieten – und der Mehrheit der todgeweihten Kraftwerksarbeiter – jeglicher Schutz und umfassende medizinische Versorgung vorenthalten.

Legte man in der Region um Fuku­shima die gleichen Maßstäbe an, wie sie 1986 nach dem schweren Atomunfall im ukrainischen Tschernobyl angewandt wurden, müßten 1,6 Millionen Menschen, darunter 360000 Kinder, evakuiert werden. In der damaligen Sowjetunion wären Gebiete mit einer so hohen Strahlenbelastung, wie sie in Fukushima herrscht, für unbewohnbar erklärt worden. Dieser Überzeugung ist der deutsche Umweltjournalist Alexander Neureuter, der sich im vergangenen Jahr drei Wochen in der Präfektur Fukushima aufhielt. Fazit seiner Recherchen: »In Fukushima läuft seit März 2011 der größte jemals unternommene Versuch zur Auswirkung radioaktiver Strahlung auf Menschen.« Nur, daß die gesundheitlichen Folgen für diese Menschen eben nicht dokumentiert und analysiert, sondern vertuscht werden.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 11. März 2014


Lügen, verharmlosen, Kritiker einschüchtern

Japans Stromkonzerne und die Regierung in Tokio leugnen die Gefahren für Bürger. Wiederanfahren von Atomanlagen steht bevor

Von Jana Frielinghaus **


Im Dezember berichteten die Deutschen Wirtschafts-Nachrichten online (DWN) über 51 Krebsfälle bei Crewmitglieder eines US-Flugzeugträgers. Sie leiden unter Schilddrüsen- und Hodenkrebs, Leukämie, Hirntumoren und anderen Karzinomen. Viele von ihnen sind erst um die 25 Jahre alt. Die »USS Ronald Reagan« kreuzte ab dem 13. März 2011 vor der japanischen Ostküste, wenige Kilometer vom AKW Fukushima entfernt. Teile der Besatzung sollten nach der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe bei der Bergung von Opfern aus den Küstengewässern helfen. An Bord waren damals einem Focus-Bericht zufolge 5000 Matrosen, die sich zweieinhalb Monate in der Region aufhielten. Laut Focus leiden 20 weitere Besatzungsmitglieder von damals inzwischen an Schilddrüsenerkrankungen, Gebärmutterblutungen und anderen Symptomen. Der Focus schrieb unter Berufung auf die New York Post, auf dem Flugzeugträger sei das verseuchte Meerwasser bedenkenlos in das Versorgungssystem aufgenommen worden. Er verfügt über eine Meerwasserentsalzungsanlage, das kontaminierte Wasser wurde nicht nur zum Duschen benutzt, sondern auch zum Kochen und Trinken.

Mehrere Mitglieder der Mannschaft klagten schon unmittelbar nach dem Rettungseinsatz über Symptome von Verstrahlung wie starke Übelkeit, Kopfschmerzen und Nasenbluten. Die Erkrankten wollen gegen den Kraftwerksbetreiber TEPCO klagen. Sie beschuldigen das Unternehmen, sie nicht rechtzeitig vor der Kontaminierung des Meerwassers gewarnt zu haben. Derweil bestreitet das US-Militär einen Zusammenhang mit der Katastrophe von Fukushima und behauptet, Militärangehörige litten ohnehin häufiger an Krebs.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie ein internationales Vertuschungs- und Verharmlosungskartell Zusammenhänge zwischen Krebserkrankungen und der japanischen Reaktorkatastrophe in geradezu grotesker Weise leugnet. Die Tokioter Regierung und die japanische Atomindustrie können sich dabei nicht nur auf die Internationale Atomenergiebehörde IAEA verlassen, sondern auch auf die Weltgesundheitsorganisation WHO und den UN-Ausschuß zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung, UNSCEAR. Letzterer behauptete in einem Bericht zu den Folgen der Katastrophe von Fukushima im Oktober, es sei »kein erkennbarer Anstieg von Krebserkrankungen in der betroffenen Bevölkerung zu erwarten«, der »mit der Strahlungsexposition in Verbindung gebracht werden kann« (siehe jW vom 26.10.2013). Dies schrieben Wissenschaftler, denen bekannt ist, daß im Fall der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 erst fünf Jahre später ein erster statistisch signifikanter und sieben Jahre später ein außergewöhnlicher Anstieg solcher Leiden verzeichnet wurde.

Der Grund für diese Manöver: Die international mächtige Atomlobby will so schnell wie möglich erreichen, daß die globale Öffentlichkeit nichts mehr wahrnimmt vom Leid der Betroffenen in Japan. Und so nutzen IAEO, ­UNSCEAR und WHO bei ihren Auswertungen zu Fukushima ausschließlich von TEPCO bereitgestellte Daten. Folgerichtig weiß die Welt nichts über die Zahl erkrankter und verstorbener Kraftwerksarbeiter. Nach TEPCO-Angaben waren seit dem Reaktorunfall insgesamt 25000 Menschen auf dem AKW-Gelände beschäftigt – laut der Ärzteorganisation IPPNW waren aber nur 15 Prozent von ihnen direkt beim Konzern beschäftigt. Wie die japanische Journalistin Mako Oshidori vergangene Woche in Berlin und auf einer IPPNW-Tagung im hessischen Arnoldshain berichtete, werden von TEPCO nur diejenigen direkt angestellten Arbeiter als Sterbefälle gezählt, die im Dienst ums Leben kommen. Veröffentlicht werden aber auch diese Statistiken nicht. Sie wisse von einigen Fällen, in denen die Familien Verstorbener ein »Schweigegeld« erhalten hätten. Sie schilderte auch, wie journalistische Arbeit durch Einschüchterung potentieller Interviewpartner torpediert wird (siehe dazu jW vom 4. März).

Derzeit sind noch alle 48 Atomreaktoren in Japan außer Betrieb. Die Regierung in Tokio, Industrie und Stromkonzerne drängen auf Wiederinbetriebnahme.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 11. März 2014


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