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Stunde der Potentaten

Berlusconi und Sarkozy fordern Reform des Schengen-Abkommens

Von Anna Maldini, Rom *

Italien und Frankreich werden gemeinsam eine Änderung des Schengen-Vertrages über die Reisefreiheit innerhalb der EU verlangen. Das verkündeten Ministerpräsident Berlusconi und Staatspräsident Sarkozy bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Rom. Damit erklärten sie die heftigen Streitigkeiten der letzten Wochen über die tunesischen Migranten für beendet.

Italien und Frankreich haben sich lieb, und zwischen den beiden Ländern, die einander als Brüder betrachten – so Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy – gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Weder zu den Migranten noch zu Libyen und auch zu sonst keinem Punkt; man ist sich in allem einig.

Was das Problem der etwa 25 000 Tunesier angeht, die von Italien eine Visum auf Zeit erhalten hatten, mit dem sie – so zumindest die Regierung in Rom – auch ohne Probleme nach Frankreich reisen konnten, hielt man den Ball möglichst flach. Die beiden Politiker verloren kein Wort darüber, dass Frankreich entgegen dem Schengen-Abkommen für kurze Zeit sogar die Grenze zu Italien geschlossen hatte, um die Einreise dieser Migranten zu verhindern.

Es wurde auch nichts darüber gesagt, ob die Personen, die Frankreich bereits erreicht haben, sich dort nun legal aufhalten oder jederzeit nach Italien zurück geschickt werden können. Man beschloss jetzt, das Problem auf eine höhere Instanz, also auf Europa zu übertragen und kündigte einen gemeinsamen Brief an die EU-Spitze an. Darin fordert man auf der einen Seite mehr Solidarität mit den südeuropäischen Ländern, die den größten Flüchtlingsstrom aus Nordafrika zu bewältigen haben; und auf der anderen Seite eine »Revision« der absoluten Reisefreiheit innerhalb der EU, wobei die einzelnen Ländern künftig einen größeren Handlungsspielraum haben sollten, sowohl in Bezug auf die Migrationspolitik als auch auf eine kurzfristige Schließung der Grenzen. Gemeinsam will man diese Forderung auf dem kommenden EU-Gipfel unterbreiten.

Auch der zweite Streitpunkt zwischen Frankreich und Italien – nämlich die Intervention in Libyen – wurde geklärt. Italien hat in den letzten Stunden beschlossen, sich direkt an den Luftangriffen der NATO auf das nordafrikanische Land zu beteiligen, so wie es Frankreich gefordert hatte. Für Rom war dies sicherlich eine beachtliche Kehrtwendung in der eigenen Libyen-Politik, hatte man doch noch vor wenigen Tagten betont, dass die Kolonialgeschichte Italiens in Libyen sowie die verschiedenen Freundschaftsabkommen, die Ministerpräsident Silvio Berlusconi und Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi unterzeichnet haben, ein besonders umsichtiges Vorgehen erforderten und Luftangriffe ausschlössen. Tatsächlich ist auch heute ein Teil der italienischen Regierung mit der Entscheidung nicht einverstanden, auch wenn Berlusconi mehrmals betont hat, dass die Angriffe einzig auf militärische Ziele gerichtet sein werden und man sich innerhalb der Resolution des UN-Sicherheitsrates bewege. Zivile Opfer könne man dabei ausschließen.

Sarkozy aber zeigte sich über die Entscheidung der Italiener hoch erfreut und erklärte, dass man sich gemeinsam auch mit der derzeitigen Lage in Syrien befasst habe; sein Land werde jetzt möglicherweise eine UNO-Resolution zur Lage dort vorbereiten. Auf dieser Grundlage könne man dann über die nächsten Schritte nachdenken.

Verschiedene Beobachter sehen in der »neuen Einigkeit« zwischen Berlusconi und Sarkozy einen klaren Sieg für Frankreich. Paris habe sich in praktisch allen strittigen Punkten durchgesetzt. Ein kleines Trostpflaster mag sein, dass Sarkozy erklärte, er werde die Kandidatur des Italieners Mario Draghi für den Vorsitz der Europäischen Zentralbank unterstützen.

* Aus: Neues Deutschland, 27. April 2011


Koloniale Träume in Rom

Von Arnold Schölzel **

Militärische Erfolge hat die NATO bei ihrem Luftkrieg gegen Libyen nicht vorzuweisen; der Wille, die Intervention ohne Befristung fortzuführen und zu eskalieren, wird aber täglich neu unter Beweis gestellt: Am Montag abend (25. April) teilte Italien, das von 1911 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Kolonialmacht in Libyen war, mit, daß es zu »gezielten« Luftangriffen bereit sei. In einer in Rom veröffentlichten Erklärung verkündete Ministerpräsident Silvio Berlusconi, die italienische Luftwaffe werde sich an Angriffen gegen auf libyschem Territorium aufgeklärte »spezielle militärische Ziele« beteiligen. Die Propagandaphrase »zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung« fehlt nicht. Der Erklärung war den Angaben zufolge ein Telefonat Berlusconis mit US-Präsident Barack Obama vorausgegangen. Er habe Obama darüber informiert, daß Italien auf den Appell von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen beim NATO-Außenministertreffen am 14.April in Berlin »positiv antwortet«. Rasmussen hatte seinerzeit gesagt, die NATO sei »fest entschlossen«, bis zur Einstellung aller Angriffe gegen libysche Zivilisten weiterzukämpfen – also ohne Begrenzung.

Die koloniale Attitüde beherrscht auch den Umgang mit den nordafrikanischen Migranten. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy kam am Dienstag (26. April) nach Rom zu einem Krisengipfel, um die Abschottung neu zu regeln. Bei einem Treffen mit Berlusconi sollte es um das Schengen-Abkommen zur Reisefreiheit gehen. Der Streit zwischen den beiden Nachbarländern hatte sich an der Entscheidung der Regierung in Rom entfacht, Flüchtlinge aus Tunesien mit Visa auszustatten, die ihnen grundsätzlich eine Weiterreise in die anderen Schengen-Länder erlauben. Viele der französischsprachigen Tunesier hatten sich daraufhin auf den Weg nach Frankreich gemacht. Dessen Behörden schlossen daraufhin einen Grenzübergang an der Grenze zu Italien, was wiederum die Regierung in Rom verärgerte. Bisher kamen rund 26000 Flüchtlinge auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa an, die meisten von ihnen Tunesier. Offiziell ist von »großem Andrang« die Rede. Italien hat etwa 60 Millionen Einwohner, Frankreich etwa 65 Millionen.

Während aus Rom offiziell zunächst nichts über den Krieg verlautete, sprach London am Dienstag Klartext. Der britische Außenminister William Hague erklärte vor dem Kabinett, Großbritannien und seine Verbündeten sollten sich auf eine »Langstrecke« einstellen. Der britische Verteidigungsminister Liam Fox traf unterdessen in Washington zu Gesprächen über Libyen mit seinem amerikanischen Kollegen Robert Gates und mit US-Generalstabschef Mike Mullen zusammen. Fox hat an den libyschen Oberst Muammar Al-Ghaddafi gerichtet erklärt, der Staatschef und weitere Personen könnten mittlerweile als legitime Ziele von Luftangriffen gelten.

Die Aufständischen erhalten inzwischen weiter militärische und finanzielle Unterstützung aus dem Westen und den Feudalstaaten des Mittleren Ostens. Kuwait erklärte, daß es dem Nationalen Übergangsrat umgerechnet 123 Millionen Euro zur Verfügung stelle.

Die NATO kommentierte ihren Angriff auf die Residenz Ghaddafis vom Montag tags darauf in Brüssel damit, die Attacke habe sich nicht gegen diesen gerichtet. Die libysche Regierung sprach von einem »Akt des Terrorismus«.

** Aus: junge Welt, 27. April 2011 (Kommentar)


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