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Politik der Angst

Das Atomabkommen mit dem Iran ist für den israelischen Premier Netanjahu eine Niederlage. Die Warnung vor den Gefahren einer Nuklearisierung des Mullah-Regimes bildet die Matrix seiner Politik. Die permanente Panikmache verfängt bei der Bevölkerung

Von Moshe Zuckermann *

Wie hat Israel auf das Atomabkommen reagiert, das die fünf UN-Vetomächte und Deutschland mit dem Iran am 14. Juli ausgehandelt haben? Keine leicht zu beantwortende Frage. Es kommt ganz darauf an, was man als Reaktion gelten lassen möchte. Es gibt die offizielle Regierungserklärung. Es gibt auch Reaktionen aus der parlamentarischen Opposition; die sind schon relativ heterogen. Es gibt Presse- und Medienstimmen; die sind sowieso heterogen, weil es darauf ankommt, wie regierungsnah bzw. regierungskritisch das jeweilige Medium sich geriert. Und es gibt die Vox populi, die sich heutzutage vor allem im vielstimmigen Chaos der digitalen sozialen Netzwerke äußert. Zwischen all diesen Sphären bestehen Differenzen, aber auch Überschneidungen, die sich daraus erklären, dass zwischen ihnen Wechselwirkungen vorliegen, etwa zwischen den Medien und der hohen Politik. Ein komplexes Unterfangen also, über Israels Reaktion auf das Abkommen zu berichten.

Und doch kann man von Haupttendenzen und meinungsführenden Ausrichtungen sprechen. Um diese zu erörtern, müssen aber einige bestimmende Voraussetzungen anvisiert werden, die nicht unbedingt etwas mit dem aktuellen Ereignis des Abkommens zu tun haben, vielmehr mit einer langen Vorgeschichte. Denn die Beschäftigung Israels mit der möglichen Nuklearisierung Irans und die damit einhergehende Bedrohung für Israel begann bereits in den 1990er Jahren, zu einer Zeit also, als von einer unmittelbaren atomaren Gefährdung noch nicht die Rede sein konnte. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich die Beziehungen zwischen Israel und dem Iran bis zur Islamischen Revolution von 1979 ausgesprochen freundschaftlich gestalteten. Iran gehörte zu den ersten Staaten, die Israel international anerkannt hatten. Unter dem Regime von Reza Schah Pahlavi entfalteten beide Staaten nicht nur weit verzweigte ökonomische, sondern nicht minder intensive militärische Beziehungen, die u.a. das Großprojekt einer gemeinsamen Raketenentwicklung zeitigten. Israel wird auch nachgesagt, an Ausbildung und Training der berüchtigten iranischen Geheimpolizei SAVAK maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Nicht von ungefähr brach daher das Mullah-Regime nach dem Machtwechsel von 1979 die Beziehungen zu Israel ab, erklärte dezidiert den zionistischen Staat (wohl auch aus geopolitischen Erwägungen) zum Feind und sprach im Laufe der Jahre, vor allem unter Mahmud Ahmadinedschad, Drohungen gegenüber Israel aus, die oft genug in überspannte exterminatorische Visionen übergingen. Von einer direkten militärischen Konfrontation mit dem verhassten Judenstaat war zwar nicht die Rede, dafür aber belieferte der Iran der Mullahs die Hisbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen regelmäßig mit Waffen, was für Israel zwar kein existenzbedrohendes Problem, aber doch eine fortwährende Sicherheitsherausforderung in kleinerem Maßstab darstellte.

Das ist der historisch reale Wahrheitskern des von Israel staatsoffiziell artikulierten Bedrohungsgefühls. Strategisch betrachtet gab es durchaus einen Grund zur Sorge, aber es handelte sich um die Art von Sorge, die eben Strategen spezifisch zu eigen ist: Spekulationen über potentielle Drohszenarien, bei denen mitgedacht wird, was historisch noch keine reale Grundlage aufweist, aber in Erwägung gezogen werden muss, weil es sich zur realen Möglichkeit entwickeln könnte. In gewisser Hinsicht generiert das spekulierende Ernstnehmen dessen, was noch nicht ist, aber werden könnte, das, was sehr bald zur »Realität ohne Grundlage« avancieren könnte, wenn es andere, nämlich ideologische Früchte einzutragen vermag. Die Sorge ums Mögliche ist gewiss ein Mittel der Zukunftsbewältigung, zugleich aber auch ein bestimmender Faktor bei ihrer spezifischen Herausbildung. Verfestigt sich die Sorge indes zur Ideologie, kann sie sehr bald ihre reale Grundlage verlieren – sie schlägt dann in Hysterie um, die Analyse von Möglichkeiten in apokalyptische Visionen, rationale Handlungsmodi in zwanghafte Beschwörungen eines Ausnahmezustands.

Narzisstische Gekränktheit

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat bereits vor Jahrzehnten die Warnung vor der internationalen Verbreitung des Terrors und dessen Bekämpfung sowie – vor allem in seinen letzten beiden Amtsperioden – die Verhinderung der Nuklearisierung Irans zur Matrix seiner Politik werden lassen. Man darf davon ausgehen, dass die Sorge um Israels Sicherheit ihn ernsthaft umtreibt. Man darf gleichwohl mit ebenso großer Gewissheit davon ausgehen, dass er die zu erlangende Sicherheit mitnichten an die Friedensoption als deren Garant gebunden sieht. Der Frieden mit den Palästinensern etwa, welcher die Bedrohung durch Hamas und Hisbollah zu entkernen vermöchte, käme ihm nicht in den Sinn, schon gar nicht, wenn ein solcher Frieden mit Problemen wie der Räumung von besetzten Territorien bzw. der Lösung der Jerusalem- und der palästinensischen Flüchtlingsfrage unweigerlich einhergehen muss. Netanjahus Friedensbeteuerungen waren stets nur Lippenbekenntnis und seine Proklamation, die Zwei-Staaten-Lösung anzustreben, war letztlich eine politische Lüge. Da Israel sich aber in einer selbst geschaffenen historischen Sackgasse befindet, bei der die Verhinderung der Zwei-Staaten-Lösung zwangsläufig zu einer objektiven binationalen Struktur in allen von Israel beherrschten und (völkerrechtswidrig) besiedelten Gebieten führen muss, kann der diese Politik der Ausweglosigkeit perpetuierende Netanjahu nichts anderes tun, als die Stagnation beizubehalten und die Aufmerksamkeit von deren Folgen und Auswirkungen auf etwas anderes zu lenken. Das Postulat der Nuklearbedrohung Israels durch den Iran hat er meisterlich als Zentralachse seines außen- wie innenpolitischen Diskurses aufgebaut und derart aufgebauscht, dass er es tatsächlich geschafft hat, eine Politik der permanenten Angstmache und systematischen Hysterisierung der Bevölkerung als unangefochten hingenommene Selbstverständlichkeit zu etablieren.

Dass sich große Teile der jüdisch-israelischen Bevölkerung als empfänglich für eine Panikpolitik erweisen, konnte man kürzlich an der Wirkung sehen, die Netanjahus demagogisch-manipulative Warnung am letzten Tag der letzten Wahlen zeitigte, als er verkündete, »Massen von Arabern« würden zu den Urnen schwärmen und den Wahlausgang bestimmen. Netanjahu bediente sich mit diesem Spruch einer längst etablierten politischen Kultur, bei der die jüdische Selbstviktimisierung zum Wesen des Eigenverständnisses geronnen ist. Es ist bemerkenswert, mit welch unglaublicher Larmoyanz man in Israel das eigene Leid beklagt, je mehr, brutaler und gewalttätiger man anderen (den Palästinensern) Leid zufügt; mit welch eklatantem Selbstmitleid die »antisemitische Delegitimierung des jüdischen Staates« bejammert wird, je tiefer sich Israel in völkerrechtswidrige Praktiken verstrickt, die eine Kritik seiner Politik weltweit zwangsläufig bewirkt; mit welch narzisstischer Gekränktheit man auf die Distanzierung von Israel in der Welt reagiert, je intensiver es eine Politik der Distanzierung von der Welt betreibt – je emphatischer die Selbstghettoisierung, desto lauter der Aufschrei über die vermeintlich grundlose Exklusion Israels auf der Weltbühne. Antisemitismus war schon immer Lebenselixier des Zionismus, aber noch nie wurde diese schiefe Dialektik so unverfrorenen mit propagandistischen Mitteln betrieben.

Große Teile der israelischen Bevölkerung sind schon seit Jahren allzu willig, sich dem wie ein Werbespot dauerwiederholten Postulat der großen Gefahr einer militärischen Nuklearisierung Irans zu unterwerfen. Eine von Netanjahu wohlorchestriert in Gang gesetzte Kampagne, in der vor nichts zurückgescheut wurde, auch nicht vor Shoah-Visionen und anderen endzeitlichen Vorstellungen, indoktrinierte seine Anhängerschaft, aber eben nicht nur sie, in einer Art und Weise, dass der Kampf gegen die iranische Atombombe nachgerade zum politischen Fetisch Israels gerann. Erstaunlich war und ist dabei, wie sich die Bevölkerung eines Landes, das nach Angaben »fremder Quellen« über ein Arsenal von rund 200 Nuklearsprengkörpern verfügt, in diese ideologische Obsession hat hineinziehen lassen. Denn nicht nur ist der Iran gegenwärtig noch längst nicht im Besitz einer nuklearen Bombe, klar dürfte jedem sein, der bereit ist, die letzten Reste der in diesem Diskurs verbliebenen Vernunft in Anspruch zu nehmen, dass kein Land – und eben auch nicht Iran – sich einfallen lassen könnte, Israel (nuklear) in seiner Existenz real zu bedrohen, ohne damit seinen eigenen Untergang festgeschrieben zu haben. Im schlimmsten Fall hätte man also von einem noch aus Zeiten des Kalten Krieges im Westen wie im Osten bekannten Gleichgewicht des Schreckens auszugehen. Das will wohlverstanden sein: Vorzuziehen wäre zweifellos, dass es zu keinem nuklearen Rüstungswettlauf in der Nahostregion käme, welcher durch die militärische Nuklearisierung Irans zweifellos angetrieben würde. Aber sollte es, wie von Netanjahu befürchtet, dazu kommen, hätte man sich mit dieser Situation eben auf der Basis gegenseitiger Bedrohung zu arrangieren. Tatsache ist: Seit Hiroschima und Nagasaki sind Nuklearwaffen nie wieder in Kriegen eingesetzt worden. Man könne dies nicht vergleichen, heißt in Israel zumeist das Gegenargument, der Mullah-Staat sei nicht so rational wie der Westen, führten doch in ihm irrationale Fanatiker das Wort. Über das Grundproblem von Rationalität, Zweckrationalität und Irrationalität mag hier geschwiegen werden. Aber ein solches Argument seitens einer Regierung, die mit ihrer Politik die Raison d’être des eigenen Staates seit Jahrzehnten objektiv unterminiert, geschweige denn seitens einer Bevölkerung, die sich derlei Regierungen immer wieder wählt und ihnen das Schicksal ihres Landes anvertraut, ist nicht allzu leicht verdaubar. Den offenkundigen Rassismus, der dieser Argumentation zugrunde liegt, darf man hier auch getrost unerörtert lassen.

Vergrätzte Schutzmacht

Aber der rational sich wähnende Netanjahu wählte sich nicht nur den Mullah-Staat als Gegner im Kampf gegen die militärische Nuklearisierung Irans, sondern sehr bald auch das Lager der Mächte, die unter der Führung der USA das Problem kraft eines Abkommens mit dem Iran zu lösen trachteten. Der diplomatische Weg erschien dem israelischen Politiker widersinnig – er war bis zuletzt in höchstem Maß scharf darauf, die Infrastruktur der iranischen Nuklearanlagen (in Kooperation mit den USA) zu attackieren. Spätestens seit Barack Obamas Regierungszeit konnte davon zwar die Rede sein, aber eben nur theoretisch und erst nach gründlicher Ausschöpfung der diplomatischen Möglichkeiten. Und je mehr sich herausstellte, dass es Obama ernst war mit dem die militärische Aktion aussparenden, dafür rigide ökonomische Sanktionen einsetzenden, dabei aber eben die Verhandlungsbasis aufrechterhaltenden Zugang, desto mehr versteifte sich Netanjahu auf den Kampf gegen die Verhandlungen – und die Darstellung des US-Präsidenten als naiv und unzulänglich. Ab einem bestimmten Zeitpunkt erkor er sich Obama gar zum Feind, mischte sich in präzedenzloser Weise in den amerikanischen Wahlkampf zu dessen Ungunsten ein und scheute auch nicht davor zurück, eine den amtierenden US-Präsidenten brüskierende Rede vor dem Kongress zu halten. Man muss sich das vor Augen führen: Das von den USA seit Jahrzehnten in jeglicher Hinsicht abhängige Israel nimmt es sich staatsoffiziell heraus, das gewählte Oberhaupt des Landes, von dem es abhängig ist, skrupel- und schamlos zu attackieren, dies Oberhaupt gar zu Fall bringen zu wollen, und meint dabei, rational zu sein, weil es ja um seine eigene Existenz gehe.

Zu fragen bleibt dann aber: Wenn Israels Existenz in der Tat auf dem Spiel steht, wieso hat sich Netanjahu der erforderlichen Aktion gegen die existentielle Bedrohung seines Staates enthalten? Warum hat er nicht attackiert? Die Vorbereitungen waren schon längst getroffen. Die Antwort ist denkbar einfach: Weil Israel die Operation ohne die USA nicht durchführen kann. Vor allem aber, weil eine solche Attacke einen Krieg mit dem Iran zur Folge gehabt hätte, dessen katastrophale Folgen für Israel nur imaginiert werden können. Objektiv hat Obamas Zugang Israel vor einem großen Unglück bewahrt, in welches Netanjahu bereit war, sein Land zu führen – oder aber auch nicht. Im letzteren Fall bliebe dann von seinem rhetorischen Rumgetöne nichts übrig als eine schändliche Großmäuligkeit, die allein schon darin erweist, wie unverantwortlich der gegenwärtige israelische Regierungschef ist, der sich gern mit Churchill vergleicht, dabei aber eine ruchlose Außenpolitik betreibt, die die Existenz des zionistischen Staates weit mehr bedroht und gefährdet als alle von ihm rhetorisch stets heraufbeschworenen Gefährdungen. Aber er wird immer wieder gewählt, niemand im heutigen Israel kann ihm sein Amt streitig machen. Das ist das eigentlich Bedrohliche.

Banalisierte Erinnerung

Und nun ist also Netanjahus Strategie zusammengebrochen. Was sich für »die Welt« als historische Errungenschaft des Verhandlungsparadigmas ausnimmt, gilt Netanjahu als »ein Schritt, der die Sicherheit von Israel und der gesamten Welt« bedrohe, als ein »Fehler in historischem Maßstab«. Der parlamentarische Berichterstatter und Publizist der israelischen Tageszeitung Haaretz, Yossi Verter, brachte Netanjahus Krise und das sich für ihn daraus ergebende Dilemma trefflich auf den Punkt: »Die Zwickmühle, in die [Netanjahu] geraten ist, lässt sich schwer ertragen: Je mehr er das Atomabkommen attackiert, je mehr er dessen Gefahren und die Bedrohungen für Israels Sicherheit in die Höhe treibt, vergrößert er auch die Dimensionen seiner eigenen Niederlage. Er ist sich dieses Widerspruchs wohl bewusst, kann sich aber nicht zurückhalten: Der Drang ist zu groß«. Seine Minister habe er angewiesen, öffentlich zu verbreiten, »das Wiener Abkommen wetteifere in seiner Kurzsichtigkeit, in seiner katastrophalen Versöhnlichkeit und den Gefahren für die Welt, die es in sich birgt, mit dem unglückseligen Münchner Abkommen, welches am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zwischen dem britischen Premierminister Neville Chamberlain und Adolf Hitler unterzeichnet wurde«. Verters Bericht zufolge soll daraufhin ein ranghoher deutscher Parlamentarier einem Kollegen in Israel gesagt haben: »Wir sind eure Freunde, wir identifizieren uns mit euch und teilen eure Befürchtungen. Wir sind auch besorgt, wohin das nach Iran fließende Geld gehen wird. Aber um Gottes willen, seid ihr denn verrückt geworden?! Von uns behaupten, wir unterzeichneten ein zweites Münchner Abkommen?! Habt ihr denn alle Sensibilität verloren?« Die Frage des deutschen Parlamentariers darf durchaus als naiv gelten, wenn sie ernst gemeint sein sollte. Andernfalls müsste er längst wissen, dass es genau diese Idiosynkrasien der Deutschen sind, die Israels Diplomatie immer schon zu instrumentalisieren trachtete. Nirgends wird die Holocaust-Erinnerung so banalisiert wie in Israels etablierter Politkultur – was ist da schon der polemische Vergleich mit dem 1938er Münchner Abkommen? Man hat schon schrecklicheres aus dem Munde israelischer Parlamentarier, Publizisten und sonstiger Protagonisten der israelischen Öffentlichkeit gehört.

»Die Welt kapituliert vor Iran«, titelte Israels populärste Tageszeitung Yedioth Ahronoth. Ihr bekanntester Publizist, Nahum Barnea schrieb: »In all den 159 Seiten des Abkommens habe ich nicht die geringste Erwähnung Israels gefunden«. Diese Ignorierung empfindet er als beleidigend, eventuell sogar als gefährlich. Aber seinen differenzierten Kommentar beendet er mit den Worten: »Netanjahu beträgt sich wie jemand, der davon überzeugt ist, dass er um die schiere Existenz Israels kämpft. Er irrt: Israel wird existieren. Die Shoah steht nicht vor der Tür. Die Tatsache, dass Israel das Abkommen nicht zu verhindern, ja nicht mal auf seinen Inhalt Einfluss zu nehmen vermochte, ist eine bittere Niederlage. Aber Netanjahu ist niederlagenresistent: In seiner Welt gibt es nur zwei Möglichkeiten – entweder ist er Sieger oder Opfer. Bei den Wahlen hat er gesiegt; beim Abkommen mit Iran ist er Opfer. Statt den Israelis eine nüchterne Rechenschaft darüber abzulegen, was passiert ist, kündigt er ihnen die Shoah an. Was sollen die Israelis mit den Angstdosen beginnen, die er ihnen einimpft?« Nun, vielleicht wäre es endlich an der Zeit, dass die sich der Angst mit Wonnen hingebenden Israelis beginnen, sich selbst eine nüchterne Rechenschaft darüber abzulegen, was da passiert ist, was anders sein könnte, vor allem aber, wen sie sich wieder einmal zum Oberhaupt ihrer Regierung gewählt haben? Zu befürchten steht, dass weder der Ministerpräsident noch seine untertänigen Bürger sich eine solche Rechenschaft ablegen werden. Zu sehr sind sie miteinander verbandelt, zu sehr sind sie gleichen paranoiden Sinnes.

Verlorener Humor

Ein jiddischer Witz aus der Stetl-Zeit erzählt von einem allmächtigen Gutsbesitzer, der eines Tages alle Juden seines Hoheitsgebiets versammelte und ihnen sagte: »Entweder bringt ihr meinem Hund das Sprechen bei oder ihr seid alle des Todes. Ihr habt drei Tage Zeit …« Die Juden verfielen in großes Entsetzen, sprachen Bußgebete, fasteten und weinten bitterlich. Da erschien ein Unbekannter aus der Ferne und versprach dem Gutsbesitzer in selbstgewissem Ton, seinem Hund innerhalb eines Jahres das Sprechen beizubringen. Sollte es ihm nicht gelingen, dürfe ihn der Gutsbesitzer enthaupten. Der Gutsbesitzer willigte ein, und die Juden frohlockten. Zugleich sorgten sie sich aber um den Fremden und fragten ihn, was passieren werde, wenn es ihm nicht gelingt, seine Mission zu erfüllen. Darauf antwortete er: »Keine Sorge, Brüder! Ein Jahr ist eine lange Zeit. In dieser Zeit wird entweder der Gutsbesitzer oder der Hund oder ich werde sterben«.

15 Jahre lang soll der Iran dem Abkommen gemäß kein Uran anreichern. 15 Jahre sind eine lange Zeit. Vieles kann in ihnen passieren, sich eventuell auch zum Besseren wenden, wenn man sich nur bewusst vornimmt, die Koordinaten der Geschichte entsprechend zu richten. Das Problem besteht freilich darin, dass der aus tiefer Leiderfahrung und Lebenseinsicht geborene jiddische Humor den neuen Juden Israels längst abhanden gekommen ist.

Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Auf diesen Seiten schrieb er zuletzt am 17.3.2015 über den Wahlkampf in Israel.

* Aus: junge Welt, Freitag, 24. Juli 2015



David oder Goliath

Israel verschärft Strafen gegen Steine werfende Palästinenser

Von Moshe Zuckermann **


Das israelische Parlament hat beschlossen, die Strafen gegen Steine werfende Palästinenser zu verschärfen. Mit bis zu 20 Jahren Gefängnis haben diese von nun an zu rechnen. Die israelische Justizministerin Ajelet Schaked feierte den Beschluss mit der Proklamation, daß somit die Toleranz gegenüber Terroristen ende, denn »ein Steinewerfer ist ein Terrorist«.

Man könnte sich natürlich fragen, was es mit dem Steinewerfen auf sich hat, und wie diese Aktivität mit der Realität einer bald 50 Jahre währenden Okkupation voller Alltagsschikanen, Brutalitäten und Völkerrechtswidrigkeiten gegenüber der palästinensischen Bevölkerung zusammenhängt. Man könnte sich auch fragen, welche Formen des Widerstands die israelische Obrigkeit den okkupierten Palästinensern zugestehen würde, ohne sie als Terroristen zu apostrophieren. Man könnte sich auch Gedanken über Verhältnismäßigkeit machen, aber nachdem man erlebt hat, wie sich Israels Armee bei den Kleinkriegen im Gazastreifen verhalten hat, kann man sich solcherlei Gedanken auch schenken.

Und doch sollte sich die der nationalreligiösen Partei Habait Hajehudi angehörende Justizministerin Gedanken über etwas anderes machen. Steinewerfen gehört nämlich zum bedeutendsten jüdischen Heldenmythos, von dem die biblische Erzählung berichtet: David hat Goliath, den kolossartigen Vertreter der die biblischen Hebräer bedrohenden Philister, mit einem Steinwurf niedergestreckt, mithin die Philister besiegt, wofür er vom Volke der Juden bejubelt und über Jahrhunderte lobpreisend besungen wurde.

Nun muss nach dem israelischen Parlamentsbeschluss überlegt werden: Entweder war auch der biblische David ein Terrorist – ein Urteil, das sich jedem religiösen Juden verbietet. Oder aber sind die palästinensischen Steinewerfer auch nur heldenhafte Widerständler wie David – wobei nur noch zu klären wäre, wer dann für Goliath zu erachten sei. Bibelfeste Israelis wie Mitglieder der Partei von Ajelet Schaked müssen da konsequent sein, wenn sie ehrlich sein wollen.

Da kann es einem schon unheimlich werden. Bei Freud gibt es den Begriff des Unheimlichen, der das wiederaufgetauchte Verdrängte bezeichnet. Das Aufgetauchte erscheint einem fremd, obgleich es zu einem selbst – eben als Verdrängtes – gehört. Nicht ausgeschlossen, dass die Israelis in den Steine werfenden Palästinensern archaisch sich selbst, nämlich David, erkennen – was sie aggressiv von sich abwehren müssen. Oder aber sie müssen erkennen, dass sie selbst zum Goliath verkommen sind – was sie noch aggressiver von sich weisen müssen, womit sie sich dann selbst überführt hätten.

** Aus: junge Welt, Freitag, 24. Juli 2015


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