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FRIEDENSSTIFTER: Wer macht Frieden?

Eine Reportage über Israels neue Friedensstifter. Von Burkhard Weitz

Die folgende Reportage über die Friedensaktivisten von Ta'ajusch haben wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem evangelischen Magazin "CHRISMON", Heft 4/2002, entnommen. Dieses Magazin, erscheint monatlich als Beilage zu "Die Zeit", "Frankfurter Rundschau", "Sächsische Zeitung" und "Süddeutsche Zeitung". Zur Online-Ausgabe von CHRISMON geht es hier.

Darf man seinen Feinden die Hand reichen? Darf man denen helfen, aus deren Mitte die gegnerischen Terroristen stammen? Darf man ihren Verletzten Blut spenden, wenn es doch Verwundete auf der eigenen Seite gibt? „Ja“, sagen die Friedensaktivisten von Ta’ajusch, einer israelisch-palästinensische Gruppe. „Wenn die Gewalt aufhören soll, haben wir keine andere Wahl.“ Eine Reportage über Israels neue Friedensstifter.

Die meisten Menschen im Nahen Osten glauben, ihr Feind verstehe nur die Sprache der Gewalt. Einige halten das für einen tödlichen Irrtum.

Verträumt schlendert eine junge Frau die enge Gasse hinunter. Rechts und links Sandsteinmauern, hoch wie Bollwerke, über die selbst große Menschen die Hand nicht strecken können. Die junge Frau lässt die Schultern hängen. Durch die schwarzen Ovale ihres Brillengestells blinzelt sie gegen die tief stehende Sonne. Sie wirkt in sich gekehrt, versonnen, etwas linkisch in ihren Bewegungen. Auf ihre Umgebung scheint sie gar nicht zu achten.

Männer in schwarzen Mänteln und Hüten kommen ihr entgegen, schweigend, gedankenverloren. Sie tragen lange Bärte und Locken an den Schläfen. Die junge Frau ist unscheinbar, wären da nicht ihre für israelische Verhältnisse extrem kurzen Haare. Die Männer gehen wortlos ihrer Wege in Richtung des ultra-orthodoxen Viertels Mea Schearim. Liora schlendert weiter in Richtung Jaffastraße. Sonst ist jetzt, am frühen Morgen des Sabbat, niemand unterwegs in dieser Gegend Jerusalems.

Die Jaffastraße: gefährlichste Straße Israels, eine der gefährlichsten der Welt. Der alltägliche Stau unter den Alleebäumen kann sich jederzeit in eine tödliche Falle verwandeln. 250 Verletzte gab es hier bei den palästinensischen Terroranschlägen der vergangenen acht Monate. 19 Menschen starben durch Bomben- und Glassplitter. Tagsüber stehen Wachposten an jeder Ecke, beobachten misstrauisch die arabisch aussehenden Passanten und kontrollieren ihre Taschen. Nur am Samstag liegt der Boulevard wie ausgestorben da.

Am Ausgang der Gasse bleibt die junge Frau unschlüssig stehen. Liora Lopian, 24, hat einige der Bombenexplosionen gehört. Auch das Sirenengeheul danach. Ein Ford Fiesta fährt vor, Liora steigt ein. Der Wagen lässt die Jaffastraße rasch hinter sich und hält erst am Stadtrand auf einem Parkplatz. Dort stehen zwanzig Autos kreuz und quer.

Liora ist Israelin. Sie jobbt als Erzieherin für geistig behinderte Kinder in Jerusalem. Vor kurzem hat sie ihr Psychologiestudium geschmissen, weil sie es „zu theoretisch“ fand. Sie hat ein in der Region höchst seltenes Hobby: Friedensaktivistin.

Lioras Augen strahlen. Sie geht auf die Wartenden zu und umarmt zwei junge Frauen, die sich eben noch auf einer Kühlerhaube gesonnt haben. Neben ihr hievt ein muskulöser Mann Spaten, Farbeimer und Pinsel in einen Kofferraum. Eine Frau mit Palästinensertuch unterhält sich mit einem arabisch aussehenden Mann.

Ein ungewöhnlicher Freizeitspaß. Von diesem Parkplatz ist Liora schon viele Male aufgebrochen. Im November fuhr sie mit hundert Aktivisten nach Hebron. Sie wollte israelische Soldaten daran hindern, ein palästinensisches Dorf für eine neue Straße zu räumen. Als die Gruppe im Wüstendorf ankam, waren einige Bewohner bereits vertrieben. Kleider und Schuhe lagen auf dem Boden verstreut. Höhlen, in denen am Tag zuvor Familien gelebt hatten, waren mit Felsbrocken zugeschüttet. Liora blieb bei denen, die noch da waren. Die Männer machten Tee, die Frauen zeigten stolz ihren Hochzeitsschmuck. Abends wärmten sich alle am Feuer.

Liora übernachtete im Dorf. Im Morgengrauen kamen die Soldaten wieder. Liora und ihre Mitstreiter stellten sich vor die Bewohner. Die israelischen Soldaten zogen unverrichteter Dinge ab.

Diese Nacht bei Hebron machte Lioras Gruppe in Israel berühmt. Ta’ajusch heißt sie, das ist das arabische Wort für „Zusammenleben“. Nach Jahren, in denen die Friedensbewegung an Zulauf und Bedeutung verloren hatte (siehe Infokasten rechts), stellte dieser winzige Erfolg einen Wendepunkt dar. Man sprach plötzlich über Ta’ajusch. Zumal es noch nie eine Friedensorganisation gegeben hatte, in der Israelis und Palästinenser alle Aktionen gemeinsam planen.

Immer mehr Autos treffen auf dem Parkplatz ein. Dann verlässt eine Kolonne von dreißig Fahrzeugen Jerusalem in Richtung Tel Aviv. Am Stadtrand fällt die Schnellstraße steil ab ins Tal. Oben am Hang, kaum auszumachen zwischen Pinien, stehen überwucherte Häuserruinen: Überreste des 1948 zerstörten palästinensischen Dorfes Lifta. Damals hatten israelische Soldaten alle arabischen Einwohner vertrieben. Nun wollen amerikanische Investoren hier Luxuswohnungen bauen.

Autobahnausfahrt Ein Nakuba. An einer Kreuzung winkt ein arabischer Junge der Autokolonne heftig zu und weist den Weg. Ein Nakuba ist ein palästinensisches Dorf. Seine Bewohner wurden 1948 nicht vertrieben. Anders als die Palästinenser in den besetzten Gebieten sind sie israelische Staatsbürger. Rohbauten, Wellblechhütten und stattliche Wohnhäuser verteilen sich auf zwei ansonsten felsige Bergrücken. Dazwischen schlängeln sich Schotterpisten, nur die Hauptstraße ist asphaltiert. Am Straßenrand liegt Müll. Aus dem Tal ragt das Minarett einer Moschee.

Für Liora eine noch immer fremde Welt. Nach ihrer Schulzeit war sie einmal im Gazastreifen, im palästinensischen Autonomiegebiet. „Ich sah barfüßige Kinder, die auf ungepflasterten Straßen zwischen Abflüssen spielten. Wie in der Dritten Welt. Und das sechzig Kilometer von Tel Aviv entfernt!“ Als später die Intifada ausbrach, der Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzung, war Liora schockiert. „Damals dachte ich: Wie kann das sein? Wir sind so nett zu den Palästinensern und die werfen Bomben!“ Heute fragt Liora nach den Hintergründen der Gewalt.

Vor der Dorfschule von Ein Nakuba warten Kinder. Ein Mädchen trägt ein rosafarbenes Kleid, der Junge neben ihr ein gebügeltes Hemd mit gestickten Blumen am Kragen. Der nervöse Dorfschullehrer läuft auf und ab.

Besuch aus Jerusalem, Besuch aus der Fremde. Der Bürgermeister hält eine blumige Rede. Der Dorfschullehrer bedankt sich bei den Gästen: „Nicht nur, weil ihr mit uns zusammen die Schule renovieren wollt“, sagt er und reibt sich verlegen die Hände, „sondern auch, weil ihr ein Zeichen der Versöhnung setzt.“

Der muskulöse Mann aus der Friedensgruppe stellt seine Werkzeugkiste unter einen rostigen Basketballkorb. Eine Frau verteilt Müllsäcke. Die Kinder werden lebhaft. Sie toben über den Schulhof und über die verwilderten Beete. Sie sammeln alte Blechdosen, Verpackungen und herumliegende Plastikrohre vom Boden auf und werfen sie auf den Lastwagen.

Liora stakst über einen Müllhaufen, zerrt rostige Drähte aus dem Geröll, hält eine alte Chipstüte hoch. Früher, sagt sie, kannte sie Palästinenser nur als Billigarbeiter oder als Putzfrauen. „Heute sehe ich die Überheblichkeit und Arroganz, mit der wir Israelis die Palästinenser behandeln.“ Liora runzelt ihre Stirn und unterbricht sich. „Sie müssen wissen, das sind alles neue Gedanken für mich. Ich bin noch lange nicht fertig damit.“ Ein angespannter, verwirrter Ausdruck huscht über ihr Gesicht.

Liora erzählt. „Ich bin in Israel aufgewachsen, als würde ich gar nicht im Nahen Osten leben, sondern in Europa. In der Schule haben wir europäische Geschichte durchgenommen, Zionismus, Holocaust, Geschichte Israels. Über die Palästinenser haben wir nichts gelernt, nicht einmal über die Geschichte der orientalischen Juden.“

Arbeitspause. Liora erzählt von ihrer Familie. Die Eltern ihrer Mutter stammen aus Ungarn, die Mutter ihres Vaters aus Österreich. Aus ihren Familien hat kaum einer den Holocaust überlebt. Lioras Eltern wuchsen in England auf. 1970 emigrierten sie als streng gläubige Juden und überzeugte Zionisten nach Israel. Lioras Eltern glauben, das ganze Land zwischen Jordan und Mittelmeer gehöre den Juden, nichts davon den Palästinensern. „Die Palästinenser waren vor uns da“, sagt Liora. „Wir können doch nicht so tun, als hätten sie gar keine Rechte.“

Vorne am Sportplatz streichen einige Mädchen und Jungen die Mauern weiß. Ein Junge zieht mit einem dicken Pinsel die Linien des Basketballfeldes nach. Andere reißen Disteln aus den Beeten und stechen mit Spaten die Erde auf. Nach wenigen Stunden ist die Schule wie verwandelt: Der Müll ist weg, die Mauern geweißelt, und auf den Beeten kann wieder Neues wachsen.

Plötzlich stehen Boxen vor der Schule. Arabische Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Eine Israelin mit Trägerhemd und lockigen Haaren und eine Palästinenserin in traditionellem Gewand tanzen auf dem Schulhof. Die Kinder stehen herum und klatschen. Ein junger Mann mit grüner Hose und gelbem Hemd hat sich wie ein Clown geschminkt. Er balanciert auf einem Geländer, die arabischen Kinder toben um ihn herum. Ihre Scheu ist verschwunden. Am späten Nachmittag tischen Frauen Gemüse und Hähnchenkeulen auf. Der gemeinsame Arbeitstag endet mit einem Mahl.

Samstagabend in Jerusalem. Auf der Jaffastraße drängt sich eine Menschenmenge. Israelische Friedensgruppen haben zu einer Demonstration aufgerufen. Liora will gerade ihre Wohnung verlassen. Da hört sie eine dumpfe Explosion. Dann Stille. Sirenengeheul dringt aus dem jüdisch-orthodoxen Stadtteil Mea Schearim herüber.

Liora geht dennoch zur Demonstration. Mit Widerwillen, sagt sie. Nicht weil sie ein weiteres Attentat fürchtet. Auch nicht wegen der israelischen Extremisten, die nach dem neuen Terroranschlag mit Hass auf eine Friedenskundgebung reagieren werden. All dies kann Liora nicht abhalten. Nein, Liora findet Demos einfach nur langweilig.

Zwei Demonstranten halten ein Transparent, das die Besatzung der Palästinensergebiete anprangert. „Lasst uns zu uns selbst zurückkehren“, steht darauf. Liora schüttelt den Kopf: „Das appelliert an die uralten Instinkte“, ereifert sie sich: „Israelis bleiben unter sich. So werden wir nie dazulernen. Wir sollten endlich auf die Palästinenser zugehen, statt uns immer nur mit uns selbst zu beschäftigen.“

Was ist es dann, das sie herführt? Am Straßenrand stehen Busse, von Ta’ajusch organsiert. Sie bringen Freiwillige zur Blutspende in ein Krankenhaus – zur Blutspende für die palästinensischen Verwundeten einer früheren israelischen Militäraktion. Ein kleines Zeichen der Versöhnung, wie eine ausgestreckte Hand. „Nur deswegen bin ich hier“, sagt Liora und verschwindet in einem der Busse.

Aus: CHRISMON, evangelisches Magazin, Heft 4/2002.
Wenn Sie Kritik, Anregungen usw. haben, können Sie sich gern mit dem Autor des Artikels in Verbindung setzen: weitz@chrismon.de


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