Krieg um Jerusalem?
Neuer Zyklus der Gewalt gefährdet Friedensprozess
Seit dem provokativen Besuch des rechtskonservativen israelischen Oppositionspolitikers Ariel Scharon auf dem Jerusalemer Tempelberg eskaliert die Gewalt in der Stadt und in anderen Gebieten Palästinas. Am 29. und 30. September wurden 15 Palästinenser erschossen, zwei israelische Soldaten wurden Opfer von Attentaten. Über 500 Personen, meist palästinensische Zivilisten, darunter viele Jugendliche, wurden zum Teil schwer verletzt. Das israelische Militär setzte scharfe Munition, Hartgummigeschosse und Tränengas ein. Die Palästinenser setzen sich - wie zu Zeiten der Initifada - mit Steinen zur Wehr. Jerusalem ist zum Kriegsschauplatz geworden. Die Gewalt könnte zu einem Flächenbrand in den besetzten Gebieten werden. Barak muss den Palästinensern mehr bieten als leere Versprechungen. Vor allem muss er sich in aller Deutlichkeit von den ultrakonservativen Kräften im eigenen Land abgrenzen und das Siedlungsprogramm stoppen.
Hierzu ein Bericht vom Samstag, den 30. September, Meldungen vom 1. Oktober sowie ein Hintergrundbericht über Ursachen und Anlässe der Auseinandersetzungen.
Meldungen vom 30. September 2000
Bei Unruhen am zweiten Tag in Folge im Zentrum der heiligen Stätten Jerusalems ist die Gewalt am Freitag (29.09.00) eskaliert. Mindestens sechs Menschen wurden in Jerusalem und im Westjordanland getötet.
Israelische Bereitschaftspolizei drang am Freitag gewaltsam auf den Haram al-Scharif vor, dritthöchstes Heiligtum im Islam, von wo aus zuvor palästinensische Jugendliche Steine auf jüdische Gläubige an der Klagemauer geworfen hatten. Die Truppen schossen Stahlkugeln mit Gummiummantelung in die Menge. Der Meldung eines Westbank-Senders aus Ramallah zufolge wurden dabei fünf Palästinenser tödlich getroffen. Ebenso gab es über hundert Verletzte auf beiden Seiten.
Die Unruhen griffen am Nachmittag auf das Gebiet am Ölberg, den Jerusalemer Vorort Abu Dis sowie auf Bethlehem über, bei denen ein weiterer Palästinenser ums Leben gekommen sein soll. Ein Brandsatz traf auch ein israelisches Fahrzeug.
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Der Haram al-Scharif, das Plateau, auf dem sich Al Aksa-Moschee und Felsendom befinden, war beim Ausbruch der Gewalt wegen des gerade beendeten Freitagsgebetes überfüllt mit Menschen. Auch an der Kotel, der Westmauer des einstigen Tempelareals, hielten sich aus Anlass des am Abend beginnenden jüdischen Neujahrfestes besonders viele Besucher auf. Auf Geheiß der Polizei verließen sie zeitweise den Platz. Die Lage in Jerusalems Altstadt war jedoch noch Stunden nach den Zusammenstößen aufs Äußerste gespannt.
Erst am Donnerstag hatte ein "Besuch" von Israels rechtem Oppositionschef Ariel Scharon auf dem Haram al-Scharif Unruhen ausgelöst. Die Palästinenser machten den als Hardliner geltenden Likud-Vorsitzenden auch für die jüngsten blutigen Vorfälle verantwortlich. Sie seien eine Fortsetzung des "religiösen Krieges, den Scharon entzündet hat", sagte Nabil Aburdini, ein Berater von Palästinenser-Präsident Yassir Arafat. Die Autonomie-Behörden appellierten an US-Präsident Bill Clinton, "das Massaker zu stoppen".
Zunächst blieb unklar, ob ein palästinensischer Anschlag nahe der Westbank-Stadt Kalkilya in Zusammenhang mit den Jerusalemer Ereignissen stand. Unter dem Ruf "Allahu Akbar" (Gott ist groß) hatte am Freitagmorgen ein Mann, angeblich ein palästinensischer Polizist, unvermittelt das Feuer auf israelische Kollegen eröffnet, die in diesem gemischt kontrollierten Gebiet gemeinsame Patrouillen fahren. Ein Israeli wurde dabei getötet. Arafat verurteilte das Attentat ausdrücklich.
Nach Frankfurter Rundschau, 30.09.2000
Am 1. Oktober berichteten die Medien über weitere Zusammenstöße:
Am Samstag wurden bei neuen Unruhen im Westjordanland
und im Gaza-Streifen nach Angaben von palästinensischen
Kliniken mindestens neun Palästinenser getötet. Damit kamen
während der seit Tagen anhaltenden Unruhen insgesamt 15
Palästinenser und zwei Israelis ums Leben. Mindestens 500
Menschen sind verletzt worden.
Kind vor laufenden Kameras erschossen
Im Gaza-Streifen kam es zu einem Schusswechsel zwischen
palästinensischen und israelischen Soldaten. Dabei wurde der
zwölfjährige Rami El Durra getötet. Er starb in den Armen
seines Vaters, nachdem beide zwischen die Fronten geraten
waren. Vor laufenden Fernsehkameras suchten Vater und
Sohn hinter einen kleinen Betonklotz Schutz. Wenig später
wurden beide getroffen. Rami sackte auf dem Schoß seines
Vaters zusammen und starb.
Ein Krankenwagenfahrer versuchte trotz des Feuergefechts die
beiden zu retten - und wurde dabei ebenfalls erschossen. Der
Vater des Jungen überlebte nach Angaben der
Palästinenser-Regierung schwer verletzt.
Scharon wird bewusste Provokation vorgeworfen
Der rechtsgerichtete israelische Oppositionsführer Ariel
Scharon rechtfertigte inzwischen seinen Besuch auf dem
Tempelberg in der Altstadt Jerusalems, der am Donnerstag die
Unruhen ausgelöst hatte. „Ich brauche von niemandem eine
Erlaubnis, um in Jerusalem irgendwo hin zu gehen“, meinte der
Politiker. Die Palästinenser und die politische Linke in Israel
haben Scharon vorgeworfen, die Ausschreitungen bewusst
provoziert zu haben.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Die palästinensische
Autonomiebehörde hat eine
internationale Untersuchung
der gewaltsamen
Zusammenstöße zwischen
israelischen Soldaten und
Palästinensern gefordert.
Israels Ministerpräsident
Ehud Barak forderte
Palästinenser-Präsident
Jassir Arafat auf, gegen die
anhaltende Gewalt in den
Palästinensergebieten
vorzugehen.
Arafats „persönliches und
sofortiges Eingreifen“ sei
erforderlich, um das Blutvergießen im Gaza-Streifen, im
Westjordanland und in Jerusalem zu beenden, sagte Barak in
einem Telefongespräch mit dem Palästinenser-Präsidenten.
Aus Kreisen der Palästinenser-Regierung hieß es, Barak habe
sich in dem Gespräch für die vielen Toten entschuldigt.
Die Palästinener-Regierung forderte unterdessen eine
Untersuchung der Gewalt. Falls Israel das Blutvergießen nicht
bis Sonntagabend (01.10.00) beende, werde Arafat den UN-Sicherheitsrat
einschalten. Das palästinensische Kabinett kam noch in der
Nacht zu einer Sondersitzung in Ramallah zusammen.
Anschließend forderten die Minister Israel auf, sich aus den
besetzten Gebieten zurückzuziehen.
Nach: Süddeutsche Zeitung online, 01.10.00
Hintergründe und Anlässe
Auf die Hintergründe der wieder entflammten gewaltsamen Auseinandersetzungen macht die junge welt in ihrer Ausgabe vom 30. September 2000 aufmerksam:
Verbaute Friedenschance
Israelische Siedlungen ausgeweitet. Programm der Netanjahu- Regierung fortgesetzt
Knapp zwei Monate ist es her, da trafen sich zum
wiederholten Male Israelis und Palästinenser in den USA, um
die ins Stocken geratenen Friedensgespräche wieder in Gang
zu bekommen. Doch auch das diesjährige Treffen in Camp
David bei Vermittler William Clinton scheiterte letztendlich.
Am Donnerstag sicherte Israels Premierminister Ehud Barak
den Palästinensern nun öffentlich zu, daß es in Jerusalem zwei
Hauptstädte nebeneinander geben wird. Doch trotz dieses
positiven Zeichens werden andere Probleme wohl weiter
ungelöst bleiben, so z. B. die Frage der israelischen Siedlungen
im Westjordanland sowie im Gazastreifen. Während die
Palästinenser fordern, daß rund 150 der jüdischen Siedlungen
aufgelöst oder unter ihre Kontrolle gestellt werden, will Israel
jene Siedlungen annektieren, in denen rund 80 Prozent der
etwa 200 000 Siedler leben. Lediglich den Anspruch auf
mehrere Dutzend weitere Siedlungen will die Führung unter
Ehud Barak aufgeben.
Warum dies den Palästinensern zum jetzigen Zeitpunkt
mehr denn je ein Dorn im Auge sein muß, mögen die Zahlen
verdeutlichen, die die israelische Organisation »Frieden jetzt«
(»Schalom Akhshav«) vor kurzem veröffentlicht hat. Ihnen
zufolge hat es in den ersten vier Monaten diesen Jahres einen
81prozentigen Anstieg gegenüber dem Vorjahr bei den
Siedlungsaktivitäten gegeben. Insgesamt wurde in dieser Zeit
die Arbeit an 1000 neuen Gebäuden begonnen. 1999 waren es
im selben Zeitraum nur 550. Gabi Lasky, Generaldirektorin
von »Frieden jetzt«, schiebt die Hauptlast der Verantwortung
Ehud Barak zu. Er habe, so Lasky, trotz seiner klaren
Versprechungen die Karte »nationaler Prioritätszonen« nicht
verändert, sondern lediglich von seinem Vorgänger Benjamin
Netanjahu übernommen. Dadurch wird auch klar, warum die
Mehrheit der neuen Siedlungen im Westjordanland weder
abgerissen noch deren Bau eingefroren wurde. Eine
entsprechende Verständigung hatte es zwar im Oktober
letzten Jahres zwischen Barak und dem Council of Jewish
Communities in Judea, Samaria and Gaza gegeben. Doch viele
der Siedler bauen inzwischen illegal - und werden vom
israelischen Staat auch nicht daran gehindert. Dem Bericht
von »Frieden jetzt« zufolge wird an 64 Prozent der
eingefrorenen Bauvorhaben weitergebaut und lediglich vier
von acht Siedlungen sind tatsächlich geräumt worden. »Das
sagt eine Menge über die Fähigkeit der Regierung das Gesetz
zu etablieren«, bilanziert Gabi Lasky und kommt zu dem
Schluß, daß »das Dokument nicht einmal das Papier wert sei,
auf dem es gedruckt wurde«.
Nichtsdestotrotz gab sich Premier Barak vor den
Gesprächen in Camp David uneinsichtig gegenüber solchen
Vorwürfen und schloß Kompromisse in den fünf
Hauptstreitpunkten mit den Palästinensern aus. Nicht
verhandelbar seien demzufolge der Status Jerusalems, die
Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, der Grenzverlauf,
das Jordantal sowie auch die jüdischen Siedlungen. Israel
werde die Kontrolle über einen Großteil eben dieser
Siedlungen im Westjordanland und dem Gazastreifen behalten,
sagte Barak. Insofern konnte auch den Informationen, die
beim Nahost-Gipfel zwischenzeitlich nach außen drangen,
keine besondere Bedeutung beigemessen werden. Ihnen
zufolge nämlich hatten sich die Delegationen Israels und der
Palästinenser darauf geeinigt, daß nach einem Friedensvertrag
kein jüdischer Siedler mehr im Gazastreifen verbleiben darf.
Die Siedlungen sollten zwar nicht abgerissen werden, aber
jüdische Siedler dürften sie nicht mehr bewohnen, sagte der
arabische Abgeordnete Achmed Tibi während der
Verhandlungen im israelischen Rundfunk. Bei seinen
Aussagen berief er sich zwar auf die
Verhandlungsdelegationen, doch in Camp David selbst gab es
keine Stellungnahme dazu. Schon zu Beginn des Treffens, das
insgesamt zwei Wochen lang dauerte, war eine
Nachrichtensperre verhängt worden.
Ob nun die neuen Ankündigungen des israelischen
Premierministers zu Hoffnungen auf eine baldige Einigung im
Nahen Osten berechtigen, bleibt abzuwarten. Denn, so Barak
gegenüber der Jerusalem Post am gestrigen Freitag, wenn das
Abkommen zustande käme, würde dies »die Anerkennung der
Grenzen Israels durch die ganze Welt« bedeuten. 80 Prozent
der jüdischen Siedlungen blieben dann unter israelischer
Souveränität.
Axel Mannigel
Aus: junge welt, 30.09.2000
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